Cineastische Schneisen durch 128 Jahre deutsche Filmgeschichte |
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Blick in die Ausstellung mit einem Kostüm von Marlene Dietrich, im Hintergrund ein Plakat zum Film Der blaue Engel | ||
(Foto: HG Merkel, Weltkulturerbe Völklinger Hütte) |
Von Reinhard Kleber
Wo wurde das Filmstarsystem erfunden? Landauf, landab würde man auf diese Frage die Antwort »in Hollywood« bekommen. Tatsächlich glänzte mit Asta Nielsen (1881-1972) der erste Star des Kinos in Europa, genauer gesagt in Deutschland. Diese Ansicht vertritt auch der Filmhistoriker Rainer Rother, der seit 2006 Künstlerischer Direktor der Deutschen Kinemathek in Berlin und Leiter der Retrospektive der Berlinale ist. Er ist einer der beiden Kuratoren der Ausstellung »Der deutsche Film. 1895 bis Heute«, die kürzlich im Weltkulturerbe Völklinger Hütte eröffnet wurde und bis zum 18. August 2024 zu sehen ist.
Eine große Weltkarte belegt gleich zu Beginn der ambitionierten Exposition die These. Sie zeigt, wie eine Kette von Premieren zum Nielsen-Film Engelein von Regisseur Urban Gad im Jahr 1914 fast den Globus umspannte, um von Mexico City bis Reykjavik und von Berlin bis Medan in Indonesien für das »mimische Lustspiel« (so der Untertitel) zu trommeln. Nielsen gelang damals das Kunststück, mit 32 Jahren
eine 17-Jährige zu spielen, die vorgibt, eine 12-Jährige zu sein. Zwischen 1911 und 1914 waren die Filmserien der gebürtigen Dänin, deren Karriere sich aufgrund eines Exklusivvertrags in Deutschland entfaltete, so erfolgreich, dass sie rasch zur ersten europäischen Stummfilmdiva aufstieg.
Der Fall Nielsen ist ein gutes Beispiel für den Ansatz der Schau, wonach der deutsche Film in einem internationalen Kontext steht. Bei ihrer wissenschaftlich fundierten Analyse legen die
Veranstalter Wert darauf, die gesamte Breite des Filmschaffens in den Blick zu nehmen. »Hier spielen allen Gewerke eine Rolle, nicht nur die Regisseure«, betont der zweite Kurator, der Generaldirektor des Weltkulturerbes Völklinger Hütte, Ralf Beil.
Die 1873 gegründete und 1986 stillgelegte Völklinger Hütte ist das weltweit einzige Eisenwerk dieser Epoche, das vollständig erhalten ist. 1994 nahm die UNESCO die Roheisenerzeugung der riesigen Anlage als erstes Industriedenkmal aus dem Zeitalter der Industrialisierung in ihre Liste des Weltkulturerbes auf. In den vergangenen Jahren haben dort etliche Ausstellungen, Festivals und Konzerte stattgefunden. Aktuell beherbergt sie nicht nur die wahrscheinlich erste Gesamtschau des deutschen Films, sondern mit einer bespielten Fläche von 6000 Quadratmetern mutmaßlich auch die größte multimediale Überblicksschau zur deutschen Filmgeschichte von den Anfängen bis heute.
Die Völklinger Schau, die in Zusammenarbeit mit der Deutschen Kinemathek in Berlin entstand, ist zudem die erste Ausstellung, die ein Bundespräsident persönlich eröffnete. Bei der feierlichen Eröffnung würdigte Frank-Walter Steinmeier den großen zeitlichen Bogen der Ausstellung. »Das sind 120 Jahre große Unterhaltung und große Kunst, Kitsch und Genie, Propaganda und Aufklärung. 120 Jahre kühne Experimente für begeisterte Kenner, wie auch Kassenschlager beim breiten Publikum. 120 Jahre Skandal und Jubel, Lachen und Weinen, Erkenntnis und Verführung, Traumwelt und harter Realismus«, so der Bundespräsident. In der Ausstellung kreuzten sich »zwei besondere Spuren deutscher Geschichte: Stahlindustrie und Film«. Zeiten des Umbruchs, wie sie Industrie wie auch Film erlebt hätten, lohnten auch immer einen Blick zurück. Denn dieser Rückblick kann Ideen und Inspiration für die Herausforderungen von heute und morgen vermitteln.
Die Ausstellung ist in insgesamt zehn größtenteils chronologische Kapitel unterteilt. Sie reicht vom legendären Wintergartenprogramm der Gebrüder Skladanowsky am 1. November 1895 in Berlin – zwei Monate vor der ersten Filmvorführung der Gebrüder Lumière in Paris – über den frühen Stummfilm und Tonfilm bis heute. In politischer Hinsicht umfasst der 128-Jahre-Parcours also Kaiserreich, Weimarer Republik, NS-Regime, DDR und BRD sowie das geeinte Deutschland. »Film ist im besten Fall große Kunst, zugleich aber stets auch Spiegel der Kultur und Zeit seiner Entstehung«, unterstreicht Generaldirektor Beil anlässlich der Eröffnung. Die Schau verbinde insofern Ästhetik, Kultur und Geschichte.
Mehr als 350 Exponate aus den Sammlungen der Kinemathek werden zwischen den imposanten Schwungrädern der Gebläsehalle präsentiert, deren öliger Geruch noch immer vom ursprünglichen Verwendungszweck zeugt, darunter Kameras, Filmplakate, Drehbücher, Manuskripte, Kostüme und Sammlungen von Starpostkarten.
Zu den Highlights zählt eine Kamera, die vorne auf einen Ski montiert ist, der in Völklingen von der Hallendecke hängt. Sie kam in dem Bergfilmdrama Die weiße Hölle vom Piz Palü (1929) von Arnold Fanck zum Einsatz. »Bei den Berg- und Sportfilmen Fancks mussten nicht nur die Kameramänner Ski fahren können, das ganze Team konnte das«, berichtet Rother bei einem Ausstellungsrundgang.
Auf einem freischwingenden Gestell ist zudem ein »Stachow-Filmer« zu sehen – ein Exemplar der ersten 35 mm Ganzmetallkamera, die im Leo Stachow Kino-Werk in Berlin gebaut wurde. Mit ihr entwickelte der Kameramann Karl Freund in dem Filmdrama Der letzte Mann (1924) von Friedrich Wilhelm Murnau das Konzept der Entfesselten Kamera, die sich von der bis dahin vorherrschenden statischen Kameraführung befreite, und schrieb damit Filmgeschichte.
Mehr als neun Stunden Filmmaterial sind in Völklingen zu sehen. Die Filmausschnitte verteilen sich auf rund 100 Großleinwände. Dazu kommen 30 Monitore, die unter anderem die Wechselwirkungen zwischen deutschen und internationalen Filmproduktionen aufzeigen. So werden die Einflüsse des berühmten expressionistischen Stummfilms Das Cabinet des Dr. Caligari (1920) von Robert Wiene auf Tim Burtons Fantasywerk Edward mit den Scherenhänden (1990) gezeigt, aber auch die offensichtlichen ästhetischen Parallelen zwischen dem Scherenschnittfilm Die Abenteuer des Prinzen Achmed (1926) von Lotte Reiniger und der Episode Tale of the Three Brothers in der Literaturverfilmung Harry Potter und die Heiligtümer des Todes (2010) von David Yates.
Ein weiteres Beispiel für die internationale Ausstrahlung des deutschen Films der Weimarer Republik ist Josef von Sternbergs The Blue Angel (1930) – die legendäre Szene mit Marlene Dietrichs Lied »Ich bin von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt« bildet unübersehbar die Vorlage für Liza Minellis Song »Mein Herr« in dem US-Musicalfilm Cabaret (1972) von Bob Fosse.
Besonderes Augenmerk gilt dem Stummfilmklassiker Metropolis (1927) von Fritz Lang – der einzige Film, der ein eigenes Kapitel erhalten hat. Die von Walter Schulze-Mierendorff gestalteten Modellköpfe des Todes und der sieben Todsünden illustrieren die Ästhetik des berühmten Science-Fiction-Films ebenso wie die ikonische Skulptur der Maschinen-Maria. Das aufwändige Kleid, das Brigitte Helm als Maria im Sündenbabel Yoshiwara trug, wurde aus Silberspitze, Strass-Steinen Federn und 105.700 Glasperlen eigens für die Schau nachgeschneidert wurde. Ein Maschinenraum mit zwei Leinwänden, ein Modell der Unterstadt und mehrere Kostüme der Figur Freder veranschaulichen wichtige Aspekte der spektakulären Inszenierung. Dazu kommen wegweisende Architekturzeichnungen von Erich Kettelhut und avantgardistische Kostümentwürfe von Aenna Willkomm. Wie groß der Fernwirkung von Metropolis war, verdeutlichen Szenen-Ausschnitte aus Ridley Scotts Sci-Fi-Meilenstein Blade Runner (1982).
Im Rundgang dürfen exemplarische Ausschnitte zu »filmischen Inkunabeln« der Bundesrepublik wie Rainer Werner Fassbinders Meilenstein Angst essen Seele auf (1974) und Volker Schlöndorffs Oscar-Gewinner Die Blechtrommel (1979) oder Frank Beyers noch immer erfrischender Bauarbeiterfilm Spur der Steine (1966) und Heiner Carows Liebesfilm Die Legende von Paul und Paula (1973) aus der DDR natürlich nicht fehlen.
Darüber hinaus möchten die Ausstellungsmacher den Blick auf Filme lenken, »die für ein breites Publikum eine Entdeckung sein dürften«, wie Rother erklärt. Als Beispiele nennt er neben Engelein, Ernst Lubitschs frühes Lustspiel Ich möchte kein Mann sein (1918), Rosen für den Staatsanwalt (1959) von Wolfgang Staudte und den DEFA-Verbotsfilm Karla (1965/1990) von Hermann Zschoche. Ferner erinnern die Organisatoren an weniger bekannte, aber filmgeschichtlich wichtige Werke wie den NS-Vorbehaltsfilm Der Herrscher (1937) von Veit Harlan über einen Stahlwerkmagnaten, der seine Familie enterbt und die Fabrik der Volksgemeinschaft vermacht. Hier schlägt die Ausstellung übrigens einen geschickten Bogen zur eigenen Architektur.
Das räumliche Potenzial der ehemaligen Eisenhütte wird auch sonst mehrfach geschickt genutzt. So muss man in einen bunkerartigen Kellerraum hinabsteigen, um Ausschnitte aus dem wahrscheinlich erfolgreichsten Erfolg des Nazi-Kinos mit mehr als 27 Millionen Kinobesuchern zu sehen: Es handelt sich NS-Durchhaltefilm »Die große Liebe (1942) von Rolf Hansen mit dem damaligen Superstar Zarah Leander als Sängerin, die auf einen Luftwaffenoffizier wartet.«
Und nicht zuletzt regen die Kuratoren im filmgeschichtlichen Rückblick auch zu einer Neubewertung filmgeschichtlicher Eckpunkte an und geben damit Anstöße zu cineastischen Diskussionen. So betrachtet Rother das DEFA-Dreiecksdrama Die Taube auf dem Dach (1973) der Regiedebütantin Iris Gusner, das sofort nach seiner Fertigstellung in der DDR verboten und erst 1990 uraufgeführt wurde, als »Meisterwerk«. Den gleichen Status billigt der Filmhistoriker schon jetzt dem erst sieben Jahre alten Kinospielfilm Wild von Nicolette Krebitz über die bizarre Beziehung zwischen einer IT-Spezialistin und einem Wolf zu.
Wie ein roter Faden zieht sich im Übrigen die hier besonders herausgearbeitete Traditionslinie des queeren Films durch die Schau. Als erster derartiger Film sei bereits 1919 das Homosexuellendrama Anders als die anderen von Richard Oswald in den deutschen Kinos gelaufen, erklärt Beil. Der Faden reicht weiter von dem Cross-Dressing-Film Der Fürst von Oppenheim (1927) von Richard Eichberg mit Curt Bois bis zum feministischen Pionierfilm Neun Leben hat die Katze (1968) von Ula Stöckl und dem DEFA-Drama Coming Out (1989) von Heiner Carow, der ausgerechnet am Abend des Mauerfalls in Berlin Premiere feierte.
Die Ausstellung befasst sich aber nur mit den Filmen selbst, sondern erklärt und illustriert auch deren Herstellung. In der Verdichterhalle des ehemaligen Eisenwerks zeigt zum Beispiel ein Nachbau einen Bühnenset aus einem Filmstudio aus den 1950er Jahren, in dem das Internatsdrama Mädchen in Uniform mit Romy Schneider und Lilli Palmer gedreht wurde. Der Regisseur Géza von Radványi realisierte das Remake der Leontine-Sagan-Adaption aus dem Jahr 1931 über eine verbotene Romanze im Jahr 1958. Originale Scheinwerfer und Kameras halten die damals noch Aufsehen erregende Kussszene zwischen Schülerin und Erzieherin in einer halboffenen Klassenzimmerkulisse fest. Abgerundet wird die Installation vom Schreibtisch von Artur Brauner, der den Film seinerzeit produziert hat und zu den wichtigsten Filmproduzenten der Bundesrepublik zählt.
Auffällig ist, dass die Ausstellung dem deutschen Film vor 1945 deutlich mehr Raum einräumt als der Zeit danach: Fünf Kapitel sind den fünf Jahrzehnten bis 1945 gewidmet, aber nur drei Kapitel der Nachkriegszeit in DDR und BRD und der gesamtdeutschen Gegenwart. Die Schau endet auf einer großen Plattform, auf denen Plakate und Projektionen auf jüngere und aktuelle Filmproduktionen wie Der Himmel über Berlin (1987), Schtonk! (1992), Lola rennt (1998) und Systemsprenger (2019) bis hin zum Oscar-Preisträger Im Westen nichts Neues (2022) und Das Lehrerzimmer (2023) hinweisen, der jüngst von der deutschen Jury für das Oscar-Rennen um den besten internationalen Film vorgeschlagen wurde.
Kurz vor Schluss setzt die Schau angesichts der Bedrohung des Mediums Kino durch Streamingdienste und verändertes Freizeitverhalten noch ein Warnsignal, indem sie die originale Kinokasse des Residenz-Kinos, das 1957 eröffnet wurde und 2017 den Betrieb eingestellt hat, zeigt. »Geschlossen« steht auf der Klappe in der Glasscheibe der Kassenkabine. »Das Mitbringen von fremden Speisen oder Getränkewaren und deren Verzehr in den Sälen ist untersagt!«, steht – drei Rechtschreibfehler inklusive – auf einem Blatt Papier, das offenkundig noch aus den letzten Tagen des Filmtheaters stammt.
Da die Ausstellungsmacher weitgehend auf Erklärtafeln zu den Filmausschnitten verzichtet haben, ist für den Rundgang die Nutzung eines Mediaguides empfehlenswert, der auf Deutsch, Englisch und Französisch Informationstexte zu allen Filmen sowie zeitgenössische Besprechungen bereithält. Außerdem können per Kopfhörer akustische Clips gehört werden. Die Filmausschnitte wurden eigens für die Schau englisch untertitelt.
Weitere Infos:
Das Weltkulturerbe Völklinger Hütte ist bis 1. November täglich von 10 bis 18 Uhr, ab 1. April von 19 bis 19 Uhr. Der Eintrittspreis beträgt 17 Euro, ermäßigt 15 Euro. Das Zwei-Tages-Ticket kostet 27 Euro. Menschen bis 18 Jahre haben kostenlosen Zutritt.
Wahrscheinlich im Februar 2024 wird im Dresdener Sandstein Verlag ein 400 Seiten starker Katalog zu der Schau erscheinen. Später soll zum Thema ein opulent bebilderter 900-Seiten-Band erscheinen, der die
Ergebnisse mehrjähriger Forschungen der Kinemathek festhält. Das Rahmenprogramm umfasst Filmvorführungen, Diskussionsrunden und Vorträge. Während der Ausstellungen sind Kooperationen mit einigen saarländischen Kinos geplant.