77. Filmfestspiele Cannes 2024
Der Extraktivist |
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Die Lampe passt zur Frau und umgekehrt | ||
(Foto: Filmfestspiele Cannes | Yorgos Lanthimos) |
Von Dunja Bialas
Nie lässt sich alles vorausplanen oder bis zum Ende organisieren. So kann folgendes passieren: Obwohl der Nachtzug nach Genua eineinhalb Stunden Verspätung hatte und die Umsteigezeit nach Ventimiglia auf ein Nichts geschrumpft ist, habe ich den Zug noch rennend erwischt. Und auch der zweite Umstieg war in Gefahr, aber die Weiterfahrt von Ventimiglia nach Cannes hat dann geklappt. Mit lächerlichen fünf Minuten Verspätung bin ich in der Stadt angekommen, wo vor den Filmen »Vive le cinéma!«, es lebe das Kino, gerufen wird.
Geht man in die Stadt Richtung Croisette hinein, wo das Festivalzentrum direkt am Meer liegt, dominieren die Festivaliers mit Badges, die Groupies und Starletts das Stadtbild. Frauen im Minimal-Look mit viel Haut, Männer in dicken Hosen und weißen Hemden verströmen Reichtum und Glamour, andere werfen sich vor ihrem Handy in Pose oder machen durch Extravaganz auf sich aufmerksam. Wer nicht auffällt, der nicht existiert. Ich fühle mich augenblicklich underdressed und overcovered. Je n’existe pas.
Meinen Koffer werfe ich in der Gepäckaufbewahrung ab, mein Fahrrad hole ich mir im Laufschritt, denn schon geht es in die erste Schlange, die unser aller Existenz in den nächsten Tagen bestimmen wird: Anstehen für den Einlass, Anstehen für die Taschenkontrolle, Anstehen für den Kaffee, den Köfte, das Croissant. Allein diesmal sollte es anders sein: Nicht ich, nein, mein Mobiltelefon erleidet nach 17 Stunden Zugfahrt einen radikalen Breakdown, rien ne va plus. Kein mobiles Netz mehr erreichbar für mich und damit: kein Ticket zum Vorzeigen.
Da reicht es auch nicht, die Bestätigungsmail vom Laptop zu zeigen. Ohne QR-Code, klar, geht hier nichts. Schließlich: Last minute rescue, bevor ich aus der Schlange fliege: ich schnorre jemanden um seinen Hotspot an. Geteilt, Ticket geladen, gescannt, in den Kinosaal gekommen, erster Film. Yorgos Lanthimos!
Kinds of Kindness – »Arten von Freundlichkeit«, derart gewunden heißt der neue Film des insgesamt mit sechs Oscars dekorierten griechischen Regisseurs. Von Freundlichkeit ist dann auch keine Spur. In drei Episoden geht es um eine mit den Initialien »R.M.F.« verrätselte Figur. Verschiedene physische Zustände werden von dem sich in immer neuen Konstellationen treffenden Cast (Emma Stone, Willem Dafoe, Jesse Plomens, Margaret Qualley) durchexerziert, der Tod, das Essen, die Rettung. Ähnlich wie die Existenz der Menschen ist auch die körperliche Integrität in Frage gestellt, als menschliche Wurfgeschosse oder opferbereite Untertanen werden sie, bis zum Ende des Films, gefährlich in Todesnähe gebracht. Denn nicht zuletzt geht es auch um Autounfälle – und spätestens dann erinnert das immer auch an die Verletzbarkeit und vermeintliche Unverwundbarkeit der reparierbaren Körper aus David Cronenbergs Crash, dem sexuell aufgeladenen Body-Horror.
Lanthimos inszeniert auch in Kinds of Kindness eines seiner Lieblingsthemen, das wie ein roter Faden sein gesamtes Werk durchläuft. Es ist die dystopische Substitutionsphantasie, die sich dann zuträgt, wenn das Leben am Ende ist, die Familie Verlust erfährt oder die Gesellschaft auseinanderfällt. Stets haben die Dystopien etwas kristallklar zum Vorschein gebracht: die Unmöglichkeit, den Tod eines Kindes zu verarbeiten in Alpeis, existentiellen Verdrängungskampf in der höfischen Gesellschaft in The Favourite, das Versagen in der zwischenmenschlichen Liebe in The Lobster mit dem offenbarenden deutschen Titel: Hummer sind auch nur Menschen.
Hier, in Kinds of Kindness, erfährt Lanthimos' Substitutionsphantasma seinen zynischen, aber auch jeder weiteren Bedeutung entleerten Höhepunkt. Der in der ersten Episode zum willenlosen Avatar degradierte Mensch (Jesse Plemons) realisiert die Phantasien seines Meisters (Willem Dafoe), er ist dessen fleischgewordenes Imaginäres. In der zweiten Episode kehrt Emma Stone als totgeglaubte Ehefrau Liz zu ihrem Mann (Jesse Plemons) zurück. Er ist fest davon überzeugt, dass sie »ausgetauscht« wurde, dass ein anderer, womöglich monströser Mensch in ihrem Körper steckt, weshalb er von ihr gleichfalls nach immer monströseren Dingen verlangt, damit sich die echte Liz zeigen möge. Das erinnert an den griechischen Mythos, an Penelope, die, weil der nicht heimkehrende Odysseus tot geglaubt war, von Freiern belagert wurde. Die Aufgaben, die sie ihnen stellte, konnten sie nicht lösen – das schaffte erst der wahre Odysseus, der sich dadurch zu erkennen gibt. Ähnlich verhält es sich mit Liz.
Daneben sind die Figuren in ein Verhältnis der Extraktion geworfen – Zwischenmenschlichkeit zeigt sich nur als radikales Ausnehmen des Gegenübers, auch buchstäblich und bis ins Existenzielle hinein. Hier geht es auch um Opfergaben des Körpers, den Daumen, die Leber, also um die Fragmentierung des Körpers bis in den Tod hinein, um den Körper als Hülle des bösen Geistes zu vernichten. Eine Sekte nimmt seine Jünger aus, neue Frauen werden dem Meister zugeführt, andere werden ausgestoßen, weil sie »kontaminiert« sind: die betroffene Frau wurde von ihrem Ex-Mann unter K.O.-Tropfen gesetzt und vergewaltigt.
Sex und sexualisierte Gewalt sind über das Festivals von Cannes schwebende Key-Words. Schilder beim Einlass ins Kino weisen darauf hin, dass sexuelle Anzüglichkeiten und Übergriffe nicht toleriert werden, Hintergrund ist die zweite Welle von »Me too«, die Frankreich gerade mit voller Wucht erfasst hat. Die Schauspielerin Judith Godrèche klagt Benoît Jacquot und auch Jacques Doillon, den sympathischen Underdog des Autorenkinos, an, ihren Ruhm auf Übergriffigkeit zu begründen. Ihr Film Moi aussi eröffnete die Sektion »Un certain regard«. Alle sind aware, aber machen beim Spiel, viel Haut und sich sexy zu zeigen, trotzdem mit. Und die Leinwand ist natürlich geduldig.
So auch bei Lanthimos. Konnte ich der Sex-Besessenheit der Frau in Poor Things noch eine feministisch gewendete Befreiung des weiblichen Körpers und eine selbstbestimmte weibliche Sexualität attestieren, muss ich mein Urteil nach Kinds of Kindness jetzt gründlich nachjustieren. Hier blickt allein der Male Gaze unverhohlen auf den weiblichen Körper. Die Kamera fährt langsam die nicht enden wollenden Frauenbeine entlang und findet kurz vor dem Po dann doch Stoff. Meist sind die Frauen halbnackt, ohnehin sind sie zu Beginn nur hübsche Accessoires. Ihr Figuren-Gegenteil sieht dann gleich nach Gouvernante aus, wenn Emma Stone als Protagonistin Emily im rostbraunen Hosenanzug durchs Bild schreitet. Aber auch sie entblößt Frauen (Margaret Qualley), vermisst und wiegt den nackten Körper, ohne dass dies auf Plotebene einen Sinn finden könnte.
Lanthimos' Kinds of Kindness läuft so komplett ins Leere. Der Film ist ein dreimaliger Würfelwurf von einem, der beweisen will, dass er die anthropologische Hässlichkeit in allen Konstellationen beherrscht. Ohne den Ehrgeiz jedoch, mit seinen Geschichten auch noch irgendetwas über die Gesellschaft aussagen zu wollen, verpufft seine Kunst der Anklage zum puren Zynismus. Der ist nicht mehr entlarvend und pessimistisch, um aus der Negativität heraus aber doch noch von Humanität zu sprechen. Derart jeglichen Sinnes entleert ist sein neuer Film nur Nihilismus.