24.05.2024
77. Filmfestspiele Cannes 2024

Die Zeitreisenden

Grand Tour
Im Dschungel der Zeit: Miguel Gomes' Grand Tour
(Foto: Filmfestspiele Cannes · Miguel Gomes)

Miguel Gomes und Jia Zhang-ke spannen im Wettbewerb von Cannes den großen Bogen der vergehenden Zeit auf

Von Dunja Bialas

Miguel Gomes: Im Labyrinth des Erzählens

Was ist das für ein Film! Es herrscht Chaos im Raum und in der Zeit. Grand Tour des Portu­giesen Miguel Gomes, der zum ersten Mal mit einem Film im Wett­be­werb von Cannes vertreten ist, tritt die große Reise durch die Zeit an, durch­misst in Gegenwart und Vergan­gen­heit den asia­ti­schen Kontinent, in der (ehema­ligen) Expansion des briti­schen Kolo­ni­al­im­pe­riums, durch­läuft die Zustände des Erzählens, die Fiktion einer Liebes­hand­lung, doku­men­ta­ri­sche Impres­sionen des heutigen Lebens, die Imagi­na­tion, den Traum und die Melan­cholie.

Vieles in Grand Tour erinnert an die poeti­sie­rende, verträumte, bizarre und klein­odige Trilogie Les Milles et Une Nuits (2015), wieder sprechen Erzäh­le­rinnen aus dem Off, wechseln einander ab und die Sprache, je nach dem Land, das die Prot­ago­nisten erreichen. Gefilmt wird quer durch den asia­ti­schen Raum, mit dem groben Korn einer 16mm-Kamera, in Myanmar, Vietnam, Singapur, China, Thailand. Gomes durch­misst das britische Kolo­ni­al­im­pe­rium, taucht hinein in die Tiefe der Zeit. Es ist 1918, der erste Weltkrieg ist gerade vorbei, die letzte Phase der briti­schen Kolonien kündigt sich an. Molly (Crista Alfaiate) reist mit dem Schiff aus London an, will ihren Verlobten Edward (Gonçalo Waddington) treffen, einen Funk­ti­onär des Kolo­ni­al­reichs, um ihn zu heiraten. Der jedoch will sie nicht mehr, flüchtet vor ihr und der Ehe, quer über den Kontinent. Mit einem Zug entgleist er schließ­lich mitten im Dschungel, Molly folgt ihm da schon.

So einfach aber lässt sich das nicht erzählen.

Molly, das ist auch die Wieder­gän­gerin von Odysseus' Gattin Penelope, wie sie in James Joyce' »Ulysses« auftaucht, dem in die asso­zia­tiven Tiefen eintau­chenden Werk. Die Erzählung selbst wird zum »Grand Tour«, verliert sich in laby­rin­thi­schen Bewe­gungen. Aus der Jetztzeit werden in den satten Farben des analogen Film­ma­te­rials Straßen­szenen heran­ge­zoomt. Ein Riesenrad steht auf einem Jahrmarkt in Rangun, Jungs hängen sich an die Gondeln, hebeln mit ihren waghal­sigen Kunst­stü­cken die Orien­tie­rung im Raum aus, klettern das Gerüst hinauf und hinunter, es ist eine chao­ti­sche Fahrt, die sich da im Kreise dreht. Auch in den Schwarz­weiß­bil­dern finden sich immer wieder doku­men­ta­ri­sche Bilder, Seero­sen­pflü­cke­rinnen stehen brusttief im Wasser, bündeln die Knospen zu engen Sträußen, Frauen verkaufen sie auf dem Markt.

Grand Tour ist auf vielen Ebenen ein epischer Film. Episch ist die Erzählung auf verschlun­genen Pfaden, wie im Labyrinth von »Ulysses«, wie auf der Homer'schen Irrfahrt von Odysseus. Episch ist das Schwarz­weiß, zeitlos und histo­ri­sie­rend. Und episch sind auch die Erzähl­stimmen, die einander abwech­seln und die retro­spektiv die Geschichte der Aben­teu­rerin Molly mit der markanten Lache erzählen. In den Dialogen amal­ga­miert sich das Portu­gie­si­sche mit dem Engli­schen, wenn die Engländer die Sprache der anderen großen Kolo­ni­al­na­tion sprechen. »Molly«, das verweist auch auf die Ebene der Kreation, Maureen Fazen­deiro hat das Drehbuch mitver­fasst, die Irin ist die Frau von Gomes, ihr hat er den Film gewidmet.

Grand Tour ist, bei aller Epik, ein post-narra­tiver Film, einer, der das Erzählen ein Stück weit auch aufge­geben hat. Der immer wieder neu ansetzt, das Erzählen auch als nie ankom­mende Sehnsucht und Melan­cholie insze­niert, gerichtet auf ein Werden und auf das Verblassen des Vergan­genen. Das Erzählen ist aber auch eine Konstante des Mensch­li­chen, existiert in den Legenden und den Volks­er­zäh­lungen, hat seinen Ort in den Straßen­thea­tern, den Mario­netten-Darbie­tungen, den Schat­ten­thea­tern, die Grand Tour aufs farbige Film­ma­te­rial bannt, und auch der Brauch des Karaoke, das im Alltag Inseln des Imaginären und der großen Gefühle schafft. Dafür hat Miguel Gomes die Silberne Palme als bester Regisseur gewonnen.

Jia Zhang-ke: In der Tiefe der Zeit

Caught by the Tides
(Foto: Film­fest­spiele Cannes · Jia Zhang-ke)

Diese trös­tenden Eska­pismen, die die Musik bietet, durch­ziehen auch das Werk des Chinesen Jia Zhang-ke, viele der Szenen hat er jetzt aus seinen Filmen heraus­gelöst und neu kompi­liert, erfasst von »Ebbe und Flut«, Caught By The Tides, wie sein neuer Film im Wett­be­werb von Cannes heißt. Ohne Not lässt er sich von der Melan­cholie der Rückschau erfassen, lässt die alten Szenen seiner Filme seit den 2000er Jahren wieder aufer­stehen, und mit ihnen noch einmal das China im Umbruch. Es ist die Phase der Wander­ar­beiter, der kargen Unter­künfte, der Mahjong-Spieler und -Spie­le­rinnen. Der Drei­schluchten-Damm wird gerade gebaut, Szenen aus Still Life (2006) zeigen den Abbruch der Häuser, seine Prot­ago­nistin geht erneut durch die Straßen, sieht das Verschwinden der unwie­der­bring­li­chen Zeit. Zhao Tao spielt diese Yin, sie spielt auch schon in Platform (2000), als Jia Zhang-ke mit seinen Erzäh­lungen vom in den Kapi­ta­lismus aufbre­chenden China und seiner großen Werkphase begann. Sie hat ihn bekannt gemacht als Doku­men­ta­risten des Wandels und epischen Erzähler tief melan­cho­li­scher und auch sehr poeti­scher Filme.

Caught by the Tides versam­melt nun Versatz- und Musik­stücke seines Werks, die Karaoke-Nummern, die Disco-Tänze, die Musi­cal­ein­lagen, und lässt auch noch einmal Zhao Tao durch das chine­si­sche Hinter­land gehen, an den Indus­trie­an­lagen und den Kohle­werken vorbei, die Jacke mit beiden Händen über ihren Kopf haltend, als wäre sie ein Cape, das Super­kräfte verleiht.

Auch wenn Jia in Caught by the Tides quer durch die Filme Yin, seiner Heldin, folgt, suspen­diert er die Erzählung, man flottiert mit ihm durch die Zeit, wird rein- und raus­ge­spült in seine Bilder, bis man am Schluss in der Jetztzeit mit den Maßnahmen gegen die Covid-Pandemie und einem Super­markt-Roboter, einer Art Einkaufs­as­sis­tenz, mit einer neuen Realität konfron­tiert wird. Weite Teile des Films jedoch sind der Vergan­gen­heit gewidmet. Hat man seine früheren Filme präsent, so kann man leicht selbst in die Nostalgie fallen, rekon­stru­iert im Kopf die Szenen und die Handlung, die die Versatz­stücke umspülen. Ohne die Erin­ne­rung an seine Filme destil­liert Jia sein Neben­ein­ander aus Spiel­film­hand­lung und Doku­men­ta­tion des Wandels, macht deutlich, woran ihm viel­leicht am meisten gelegen ist: am statt­fin­denden echten Leben der Arbei­ter­schaft, der Verlo­renen und der Träu­menden, über das zu erzählen seine Fiktionen überhaupt nur der Anlass waren. Caught by the Tides, der Film des großen Rück­bli­ckens, nimmt sich wie das Ende von Jias Erzäh­lungen aus, als wären die Hoffnung und die Träume aus den Menschen gewichen, als Sprung­bretter in die Imagi­na­tion.

Nach der Premiere im Grand Théâtre de Lumière sieht man deutlich auf dem heran­zoo­menden Display der Über­tra­gungs­mo­ni­tore, dass sich Zhao Tao, die Schau­spie­lerin von Jias Poetik, Tränen aus dem Gesicht wischt.

Nicht nur mit ihren Tränen legt sich Melan­cholie über Cannes. Die Säle werden leerer, die Schlangen kürzer, der Markt hat seine Zelte geschlossen, die Branche reist ab und mit ihnen die lang­bei­nigen Models, die Stars, der Lärm der Foto­grafen und BMW-Limou­sinen, die hier alle mit Münchner Kenn­zei­chen herum­fahren. Es wird ruhiger, es ist weniger sonnig und auch kühler. Der Schleier des Abschieds legt sich über die Croisette.