77. Filmfestspiele Cannes 2024
Die Zeitreisenden |
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Im Dschungel der Zeit: Miguel Gomes' Grand Tour | ||
(Foto: Filmfestspiele Cannes · Miguel Gomes) |
Von Dunja Bialas
Was ist das für ein Film! Es herrscht Chaos im Raum und in der Zeit. Grand Tour des Portugiesen Miguel Gomes, der zum ersten Mal mit einem Film im Wettbewerb von Cannes vertreten ist, tritt die große Reise durch die Zeit an, durchmisst in Gegenwart und Vergangenheit den asiatischen Kontinent, in der (ehemaligen) Expansion des britischen Kolonialimperiums, durchläuft die Zustände des Erzählens, die Fiktion einer Liebeshandlung, dokumentarische Impressionen des heutigen Lebens, die Imagination, den Traum und die Melancholie.
Vieles in Grand Tour erinnert an die poetisierende, verträumte, bizarre und kleinodige Trilogie Les Milles et Une Nuits (2015), wieder sprechen Erzählerinnen aus dem Off, wechseln einander ab und die Sprache, je nach dem Land, das die Protagonisten erreichen. Gefilmt wird quer durch den asiatischen Raum, mit dem groben Korn einer 16mm-Kamera, in Myanmar, Vietnam, Singapur, China, Thailand. Gomes durchmisst das britische Kolonialimperium, taucht hinein in die Tiefe der Zeit. Es ist 1918, der erste Weltkrieg ist gerade vorbei, die letzte Phase der britischen Kolonien kündigt sich an. Molly (Crista Alfaiate) reist mit dem Schiff aus London an, will ihren Verlobten Edward (Gonçalo Waddington) treffen, einen Funktionär des Kolonialreichs, um ihn zu heiraten. Der jedoch will sie nicht mehr, flüchtet vor ihr und der Ehe, quer über den Kontinent. Mit einem Zug entgleist er schließlich mitten im Dschungel, Molly folgt ihm da schon.
So einfach aber lässt sich das nicht erzählen.
Molly, das ist auch die Wiedergängerin von Odysseus' Gattin Penelope, wie sie in James Joyce' »Ulysses« auftaucht, dem in die assoziativen Tiefen eintauchenden Werk. Die Erzählung selbst wird zum »Grand Tour«, verliert sich in labyrinthischen Bewegungen. Aus der Jetztzeit werden in den satten Farben des analogen Filmmaterials Straßenszenen herangezoomt. Ein Riesenrad steht auf einem Jahrmarkt in Rangun, Jungs hängen sich an die Gondeln, hebeln mit ihren waghalsigen Kunststücken die Orientierung im Raum aus, klettern das Gerüst hinauf und hinunter, es ist eine chaotische Fahrt, die sich da im Kreise dreht. Auch in den Schwarzweißbildern finden sich immer wieder dokumentarische Bilder, Seerosenpflückerinnen stehen brusttief im Wasser, bündeln die Knospen zu engen Sträußen, Frauen verkaufen sie auf dem Markt.
Grand Tour ist auf vielen Ebenen ein epischer Film. Episch ist die Erzählung auf verschlungenen Pfaden, wie im Labyrinth von »Ulysses«, wie auf der Homer'schen Irrfahrt von Odysseus. Episch ist das Schwarzweiß, zeitlos und historisierend. Und episch sind auch die Erzählstimmen, die einander abwechseln und die retrospektiv die Geschichte der Abenteurerin Molly mit der markanten Lache erzählen. In den Dialogen amalgamiert sich das Portugiesische mit dem Englischen, wenn die Engländer die Sprache der anderen großen Kolonialnation sprechen. »Molly«, das verweist auch auf die Ebene der Kreation, Maureen Fazendeiro hat das Drehbuch mitverfasst, die Irin ist die Frau von Gomes, ihr hat er den Film gewidmet.
Grand Tour ist, bei aller Epik, ein post-narrativer Film, einer, der das Erzählen ein Stück weit auch aufgegeben hat. Der immer wieder neu ansetzt, das Erzählen auch als nie ankommende Sehnsucht und Melancholie inszeniert, gerichtet auf ein Werden und auf das Verblassen des Vergangenen. Das Erzählen ist aber auch eine Konstante des Menschlichen, existiert in den Legenden und den Volkserzählungen, hat seinen Ort in den Straßentheatern, den Marionetten-Darbietungen, den Schattentheatern, die Grand Tour aufs farbige Filmmaterial bannt, und auch der Brauch des Karaoke, das im Alltag Inseln des Imaginären und der großen Gefühle schafft. Dafür hat Miguel Gomes die Silberne Palme als bester Regisseur gewonnen.
Diese tröstenden Eskapismen, die die Musik bietet, durchziehen auch das Werk des Chinesen Jia Zhang-ke, viele der Szenen hat er jetzt aus seinen Filmen herausgelöst und neu kompiliert, erfasst von »Ebbe und Flut«, Caught By The Tides, wie sein neuer Film im Wettbewerb von Cannes heißt. Ohne Not lässt er sich von der Melancholie der Rückschau erfassen, lässt die alten Szenen seiner Filme seit den 2000er Jahren wieder auferstehen, und mit ihnen noch einmal das China im Umbruch. Es ist die Phase der Wanderarbeiter, der kargen Unterkünfte, der Mahjong-Spieler und -Spielerinnen. Der Dreischluchten-Damm wird gerade gebaut, Szenen aus Still Life (2006) zeigen den Abbruch der Häuser, seine Protagonistin geht erneut durch die Straßen, sieht das Verschwinden der unwiederbringlichen Zeit. Zhao Tao spielt diese Yin, sie spielt auch schon in Platform (2000), als Jia Zhang-ke mit seinen Erzählungen vom in den Kapitalismus aufbrechenden China und seiner großen Werkphase begann. Sie hat ihn bekannt gemacht als Dokumentaristen des Wandels und epischen Erzähler tief melancholischer und auch sehr poetischer Filme.
Caught by the Tides versammelt nun Versatz- und Musikstücke seines Werks, die Karaoke-Nummern, die Disco-Tänze, die Musicaleinlagen, und lässt auch noch einmal Zhao Tao durch das chinesische Hinterland gehen, an den Industrieanlagen und den Kohlewerken vorbei, die Jacke mit beiden Händen über ihren Kopf haltend, als wäre sie ein Cape, das Superkräfte verleiht.
Auch wenn Jia in Caught by the Tides quer durch die Filme Yin, seiner Heldin, folgt, suspendiert er die Erzählung, man flottiert mit ihm durch die Zeit, wird rein- und rausgespült in seine Bilder, bis man am Schluss in der Jetztzeit mit den Maßnahmen gegen die Covid-Pandemie und einem Supermarkt-Roboter, einer Art Einkaufsassistenz, mit einer neuen Realität konfrontiert wird. Weite Teile des Films jedoch sind der Vergangenheit gewidmet. Hat man seine früheren Filme präsent, so kann man leicht selbst in die Nostalgie fallen, rekonstruiert im Kopf die Szenen und die Handlung, die die Versatzstücke umspülen. Ohne die Erinnerung an seine Filme destilliert Jia sein Nebeneinander aus Spielfilmhandlung und Dokumentation des Wandels, macht deutlich, woran ihm vielleicht am meisten gelegen ist: am stattfindenden echten Leben der Arbeiterschaft, der Verlorenen und der Träumenden, über das zu erzählen seine Fiktionen überhaupt nur der Anlass waren. Caught by the Tides, der Film des großen Rückblickens, nimmt sich wie das Ende von Jias Erzählungen aus, als wären die Hoffnung und die Träume aus den Menschen gewichen, als Sprungbretter in die Imagination.
Nach der Premiere im Grand Théâtre de Lumière sieht man deutlich auf dem heranzoomenden Display der Übertragungsmonitore, dass sich Zhao Tao, die Schauspielerin von Jias Poetik, Tränen aus dem Gesicht wischt.
Nicht nur mit ihren Tränen legt sich Melancholie über Cannes. Die Säle werden leerer, die Schlangen kürzer, der Markt hat seine Zelte geschlossen, die Branche reist ab und mit ihnen die langbeinigen Models, die Stars, der Lärm der Fotografen und BMW-Limousinen, die hier alle mit Münchner Kennzeichen herumfahren. Es wird ruhiger, es ist weniger sonnig und auch kühler. Der Schleier des Abschieds legt sich über die Croisette.