23.05.2024
77. Filmfestspiele Cannes 2024

Die Erzählwütigen

La pampa
La Pampa
(Foto: Filmfestspiele Cannes | La Pampa)

Die Semaine de la Critique zeigt mit LA PAMPA und BABY zwei aufwühlende junge und queere Filme, und dann zieht mit Alain Guiraudie zum Glück auch noch die Erzähllust in das offizielle Programm von Cannes ein

Von Dunja Bialas

Militär in der Fußgän­ger­zone von Cannes. Mit schweren Maschi­nen­ge­wehren steht die Armee ungerührt zwischen den Eiscafés, Bistros und den Festi­valiers, die es sehr eilig haben. Sie tragen Tarn­montur und fallen deshalb natürlich grotesk auf. Besser wäre es, einen »nœud papillon«, eine Fliege, zu tragen, wie es für die Film-Premieren verlangt wird, und Maschi­nen­ge­wehre in schwarzem Hoch­glanz­lack. Aber auch das gehört zum großen Aufmarsch in Cannes: Durch sichtbare Abschre­ckung (von Terro­risten?) Sicher­heit einflößen. Und immer wieder die Taschen­kon­trollen und Leibes­vi­si­ta­tionen.

Auf der anderen Seite des Spek­ta­kels heißt es: »Sous les écrans la dèche« – hinter den Lein­wänden die Dürre. Das Prekariat der Festi­val­ar­beiter »will Cannes als Reso­nanz­raum nutzen, um sich Gehör zu verschaffen«, schreibt die kommu­nis­ti­sche »Humanité«. Der Leiter der Quinzaine des Cinéastes Français Julien Rejl und Ava Cahen, Leiterin der Semaine de la Critique, tragen den Sticker deutlich sichtbar an ihrer Kleidung und soli­da­ri­sieren sich. Am 1. Juli soll ein Dekret in Kraft treten, das den Anspruch der Frei­be­rufler auf Arbeits­lo­sen­geld kürzt, eine von Frank­reichs großen Errun­gen­schaften. Sie sind für den Empfang der Gäste, die Programm­ge­stal­tung, den Karten­ver­kauf, die Betreuung der Jurys oder die Film­vor­füh­rung zuständig und sehen jetzt keine Zukunft mehr für das, was hier als Beruf gilt, nicht nur als Job.

Aus hundert Filmen, erzählt mir der fran­zö­si­sche Film­kri­tiker Olivier Pélisson, wählen sie ihr Programm aus. Er ist Teil des Auswahl­teams der Semaine de la Critique, auch er trägt einen Sticker, soli­da­ri­siert sich mit den »Inter­mit­tant du spectacle«, obgleich er selbst Free­lancer ist und für die Semaine de la Critique im Ehrenamt arbeitet. Wenn aber die Arbeit schon unbezahlt ist, sagt Pélisson, dann nur, weil da auch der Idea­lismus ist, ein anderes Film­pro­gramm zu zeigen als die offi­zi­elle Hoch­glanz­ver­an­stal­tung. Und wenn es natürlich vermessen ist, aus zwei gesehenen Filmen einer Sektion einen Schluss ziehen zu wollen, will ich das sofort bestä­tigen, diese beiden Filme haben sich gelohnt. Sie sind aufwüh­lend und emotional, wie man sie im Cannes-Wett­be­werb bislang noch nicht sehen konnte. Noch dazu ein junges Kino, das dieses Jahr kaum vertreten war, selbst wenn Andrea Arnolds Bird in Sujet und Formen­sprache deutlich an der Jugend­lich­keit festhält. Aber anders als die Spezia­listin für den British White Trash, die fast schon ein wenig über­drüssig zu ihren alten Themen Teen­ager­schwan­ger­schaft und kaputte Familien zurück­kehrt, sind diese hier von erzäh­le­ri­scher Lust und Wut getrieben: La Pampa und Baby sind Geschichten, die mussten einfach raus und erzählt werden.

Beides Male geht es um homo­se­xu­elle Liebe, aber das ist eine eher ober­fläch­liche Gemein­sam­keit. Wesent­li­cher und wichtiger, auch im Gegensatz zu den zynischen oder müden alten Meistern des Wett­be­werbs, ist, mit welcher Liebe die Filme von ihren Figuren erzählen, sie in dem, was ihnen zustößt, ernst nehmen, nach echtem Trost für sie suchen.

La Pampa: Das Leben in voller Geschwin­dig­keit

Der Auto­di­dakt Antoine Chevrol­lier ist ein Quer­ein­steiger im Kino, der erst jetzt, mit über 40 Jahren, sein Lang­film­debüt vorlegt. In La Pampa kehrt er in seine eigene Jugend zurück, in die Provinz von Angers. Hier lässt er sie zwischen dem Training im Motocross-Club »La Pampa«, der leidigen Schule, Freund­schaft und dem brüchigen Eltern­haus noch einmal aufleben. Derart auto­bio­gra­phisch grundiert, erzählt er vom Zusam­men­halt in einer von Kindes­beinen an bestehenden Freund­schaft und einem Coming-Out, das keines werden darf. La Pampa führt vor, wie sich das System der Erwach­senen über den sich erst unsicher anbah­nenden Lebensweg und die gerade erwa­chende Sexua­lität der Sieb­zehn­jäh­rigen legt. Newcomer Amaury Foucher und Sayyid El Alami führen als beste Freunde vor, wie vorur­teils­freier Zusam­men­halt geht, und wie man mitein­ander sprechen kann. Das lässt dann doch hoffen, vor dem Hinter­grund der toxisch agie­renden Eltern­ge­nera­tion, die krampf­haft an den alten Werten und Bräuchen fest­halten will, selbst als alles schon zerbro­chen ist.

Mit Verve insze­niert Chevrol­lier die Motocross-Rennen und die Trainings auf der staubigen Piste, ange­trieben von einer nervösen Hand­ka­mera, vom Sound der Motor­räder und der flir­renden Sommer­hitze, alles ist ener­ge­tisch aufge­laden, alles will aufbre­chen. Als bekannt wird, dass Jojo mit dem Mecha­niker des Moto-Clubs eine Affäre hat – also anders konstel­liert, als dies in Lukas Dhonts gefei­ertem Close der Fall war, wo sich eine homo­se­xu­elle Liebe zwischen den besten Freunden zuge­tragen haben soll –, kommen der Deep Fake der sozialen Netzwerke, der Haus­ar­rest und das Ende des Motor­rad­traums. Mit einer erschüt­ternd insze­nierten Konse­quenz, wenn die Jugend für sich keinen Platz in der Welt mehr finden mag.

Baby: Melodram in der Gosse

Baby
(Foto: Film­fest­spiele Cannes | Marcelo Caetano)

Während hier das Klein­bür­gertum noch verzwei­felt daran festhält, dass der Nachwuchs das gleiche lang­wei­lige und kaputte Leben führen soll, auch um sich selbst keine unan­ge­nehmen Fragen zu stellen, ist der familiäre Horizont in dem brasi­lia­ni­schen Baby, der in der Semaine de la Critique als einer der stärksten Titel gilt, selbst bereits hoch prekär. Regisseur Marcelo Caetano lässt seinen zweiten Film zumindest in völliger Halt­lo­sig­keit beginnen. Es beginnt mit der klas­si­schen Szene »das Verlassen des Gefäng­nisses«, nach der sich der acht­zehn­jäh­rige Wellington (João Pedro Mariano) allein auf der Straße von São Paulo wieder­findet. Es folgt eine schel­men­ro­man­ar­tige Tour de Force. Wellington lernt den manns­tollen Stricher Ronaldo (Ricardo Teodoro) kennen und zieht in seine Ein-Zimmer-Bruchbude ein, es folgen die große Leiden­schaft und die Exploita­tion des »Babys« Wellington, wenn Ronaldo ihm beibringt, sich an Männer zu verkaufen und Drogen­bote zu sein, während sie gleich­zeitig eine innige Liebe entdecken. Das ist das Melodram der Gosse und ein gefähr­li­cher Rückfall in die Krimi­na­lität, aus der Wellington mit einem einsamen Bobo-Sugar-Daddy einen kurzen Ausbruch­ver­such wagt – aber letztlich an seiner Herkunft scheitert.

Ein dritter, stummer Prot­ago­nist ist São Paulo, die versteckten Orte eines schwulen Lebens, die Disko­theken, die herun­ter­ge­kom­menen Straßen­züge, die Fahrten im Bus durch die Stadt. Eindring­lich das Schwulen-Porno-Kino im Sieb­zi­ger­jah­restil, in das sich die Freunde von Wellington schlei­chen, um die Sexpaare, die im Kinosaal zur Sache gehen, zu beklauen. Augen­blick­lich steht zwischen den braunen Kunst­leder-Kino­ses­seln Rainer Werner Fass­binder als Pate im Raum, wie ohnehin auch der bärtige Ricardo Teodoro, dieses Jahr in Cannes ausge­zeichnet mit dem Prix Fondation Louis Roederer de la Révéla­tion, gut ein Fass­binder-Schau­spieler hätte sein können. Und überhaupt ist Marcelo Caetanos mitreißender Film ein kraft­volles Statement gegen die unheil­volle Trias Drogen, Gewalt und Sex, die Brasilien unter sich begräbt – und ein wunder­schöner Film über die Liebe.

Miséri­corde: Lustvolle Provinz­posse

misericorde
(Foto: Film­fest­spiele Cannes | Alain Guiraudie)

Und dann kam Alain Guiraudie in der Séléction offi­ci­elle von Cannes, zu der die eigen­s­tän­dige Semaine de la Critique nicht gehört. Mit Miséri­corde zündete er ein lust­volles Erzähl­feu­er­werk, eine Provinz­posse über einen Intruder, der in einem kleinen Dorf, seinem Heimatort, einen Reigen der Stell­dich­eins anzettelt – und nebenbei geht es auch um Mord oder Totschlag. Es spielen: der Pfarrer, die Bäckers­freu, die Gendar­merie, der Sohn der Bäckerin und einer, der weg nach Toulouse gegangen ist und jetzt zum Begräbnis des verstor­benen Bäckers zurück­kehrt. Die Bäckers­frau nimmt ihn bei sich auf, ihr Sohn wittert den Witwen­tröster. Es fließt viel Pastis die Kehlen hinunter, nachts wird der Eindring­ling zuerst am Bett vom Sohn gestellt, dann von der Gendar­merie, die versucht, ihm im Schlaf ein Geständnis abzu­ringen. Der flüchtet sich zum Pfarrer.

All das ist leicht­händig wie Screwball erzählt, taucht mit der Kamera von Claire Mathon tief in den Wald und in die unbe­leuch­tete Nacht des Dorfes ein. Der Film nimmt jedes Tabu von vorn (vor allem der Pfarrer) und stellt dabei (ebenfalls der Pfarrer) auch durchaus ernst­ge­meinte Fragen über die Existenz.

Guiraudie hat damit eine Note in das offi­zi­elle Programm von Cannes gebracht, wie sie bislang noch nicht da war. Es ist das leicht­hän­dige Erzählen des fran­zö­si­schen Kinos, die Komödie, die auch bittere Wahr­heiten enthält. Wenigs­tens das.