77. Filmfestspiele Cannes 2024
Die Erzählwütigen |
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La Pampa | ||
(Foto: Filmfestspiele Cannes | La Pampa) |
Von Dunja Bialas
Militär in der Fußgängerzone von Cannes. Mit schweren Maschinengewehren steht die Armee ungerührt zwischen den Eiscafés, Bistros und den Festivaliers, die es sehr eilig haben. Sie tragen Tarnmontur und fallen deshalb natürlich grotesk auf. Besser wäre es, einen »nœud papillon«, eine Fliege, zu tragen, wie es für die Film-Premieren verlangt wird, und Maschinengewehre in schwarzem Hochglanzlack. Aber auch das gehört zum großen Aufmarsch in Cannes: Durch sichtbare Abschreckung (von Terroristen?) Sicherheit einflößen. Und immer wieder die Taschenkontrollen und Leibesvisitationen.
Auf der anderen Seite des Spektakels heißt es: »Sous les écrans la dèche« – hinter den Leinwänden die Dürre. Das Prekariat der Festivalarbeiter »will Cannes als Resonanzraum nutzen, um sich Gehör zu verschaffen«, schreibt die kommunistische »Humanité«. Der Leiter der Quinzaine des Cinéastes Français Julien Rejl und Ava Cahen, Leiterin der Semaine de la Critique, tragen den Sticker deutlich sichtbar an ihrer Kleidung und solidarisieren sich. Am 1. Juli soll ein Dekret in Kraft treten, das den Anspruch der Freiberufler auf Arbeitslosengeld kürzt, eine von Frankreichs großen Errungenschaften. Sie sind für den Empfang der Gäste, die Programmgestaltung, den Kartenverkauf, die Betreuung der Jurys oder die Filmvorführung zuständig und sehen jetzt keine Zukunft mehr für das, was hier als Beruf gilt, nicht nur als Job.
Aus hundert Filmen, erzählt mir der französische Filmkritiker Olivier Pélisson, wählen sie ihr Programm aus. Er ist Teil des Auswahlteams der Semaine de la Critique, auch er trägt einen Sticker, solidarisiert sich mit den »Intermittant du spectacle«, obgleich er selbst Freelancer ist und für die Semaine de la Critique im Ehrenamt arbeitet. Wenn aber die Arbeit schon unbezahlt ist, sagt Pélisson, dann nur, weil da auch der Idealismus ist, ein anderes Filmprogramm zu zeigen als die offizielle Hochglanzveranstaltung. Und wenn es natürlich vermessen ist, aus zwei gesehenen Filmen einer Sektion einen Schluss ziehen zu wollen, will ich das sofort bestätigen, diese beiden Filme haben sich gelohnt. Sie sind aufwühlend und emotional, wie man sie im Cannes-Wettbewerb bislang noch nicht sehen konnte. Noch dazu ein junges Kino, das dieses Jahr kaum vertreten war, selbst wenn Andrea Arnolds Bird in Sujet und Formensprache deutlich an der Jugendlichkeit festhält. Aber anders als die Spezialistin für den British White Trash, die fast schon ein wenig überdrüssig zu ihren alten Themen Teenagerschwangerschaft und kaputte Familien zurückkehrt, sind diese hier von erzählerischer Lust und Wut getrieben: La Pampa und Baby sind Geschichten, die mussten einfach raus und erzählt werden.
Beides Male geht es um homosexuelle Liebe, aber das ist eine eher oberflächliche Gemeinsamkeit. Wesentlicher und wichtiger, auch im Gegensatz zu den zynischen oder müden alten Meistern des Wettbewerbs, ist, mit welcher Liebe die Filme von ihren Figuren erzählen, sie in dem, was ihnen zustößt, ernst nehmen, nach echtem Trost für sie suchen.
Der Autodidakt Antoine Chevrollier ist ein Quereinsteiger im Kino, der erst jetzt, mit über 40 Jahren, sein Langfilmdebüt vorlegt. In La Pampa kehrt er in seine eigene Jugend zurück, in die Provinz von Angers. Hier lässt er sie zwischen dem Training im Motocross-Club »La Pampa«, der leidigen Schule, Freundschaft und dem brüchigen Elternhaus noch einmal aufleben. Derart autobiographisch grundiert, erzählt er vom Zusammenhalt in einer von Kindesbeinen an bestehenden Freundschaft und einem Coming-Out, das keines werden darf. La Pampa führt vor, wie sich das System der Erwachsenen über den sich erst unsicher anbahnenden Lebensweg und die gerade erwachende Sexualität der Siebzehnjährigen legt. Newcomer Amaury Foucher und Sayyid El Alami führen als beste Freunde vor, wie vorurteilsfreier Zusammenhalt geht, und wie man miteinander sprechen kann. Das lässt dann doch hoffen, vor dem Hintergrund der toxisch agierenden Elterngeneration, die krampfhaft an den alten Werten und Bräuchen festhalten will, selbst als alles schon zerbrochen ist.
Mit Verve inszeniert Chevrollier die Motocross-Rennen und die Trainings auf der staubigen Piste, angetrieben von einer nervösen Handkamera, vom Sound der Motorräder und der flirrenden Sommerhitze, alles ist energetisch aufgeladen, alles will aufbrechen. Als bekannt wird, dass Jojo mit dem Mechaniker des Moto-Clubs eine Affäre hat – also anders konstelliert, als dies in Lukas Dhonts gefeiertem Close der Fall war, wo sich eine homosexuelle Liebe zwischen den besten Freunden zugetragen haben soll –, kommen der Deep Fake der sozialen Netzwerke, der Hausarrest und das Ende des Motorradtraums. Mit einer erschütternd inszenierten Konsequenz, wenn die Jugend für sich keinen Platz in der Welt mehr finden mag.
Während hier das Kleinbürgertum noch verzweifelt daran festhält, dass der Nachwuchs das gleiche langweilige und kaputte Leben führen soll, auch um sich selbst keine unangenehmen Fragen zu stellen, ist der familiäre Horizont in dem brasilianischen Baby, der in der Semaine de la Critique als einer der stärksten Titel gilt, selbst bereits hoch prekär. Regisseur Marcelo Caetano lässt seinen zweiten Film zumindest in völliger Haltlosigkeit beginnen. Es beginnt mit der klassischen Szene »das Verlassen des Gefängnisses«, nach der sich der achtzehnjährige Wellington (João Pedro Mariano) allein auf der Straße von São Paulo wiederfindet. Es folgt eine schelmenromanartige Tour de Force. Wellington lernt den mannstollen Stricher Ronaldo (Ricardo Teodoro) kennen und zieht in seine Ein-Zimmer-Bruchbude ein, es folgen die große Leidenschaft und die Exploitation des »Babys« Wellington, wenn Ronaldo ihm beibringt, sich an Männer zu verkaufen und Drogenbote zu sein, während sie gleichzeitig eine innige Liebe entdecken. Das ist das Melodram der Gosse und ein gefährlicher Rückfall in die Kriminalität, aus der Wellington mit einem einsamen Bobo-Sugar-Daddy einen kurzen Ausbruchversuch wagt – aber letztlich an seiner Herkunft scheitert.
Ein dritter, stummer Protagonist ist São Paulo, die versteckten Orte eines schwulen Lebens, die Diskotheken, die heruntergekommenen Straßenzüge, die Fahrten im Bus durch die Stadt. Eindringlich das Schwulen-Porno-Kino im Siebzigerjahrestil, in das sich die Freunde von Wellington schleichen, um die Sexpaare, die im Kinosaal zur Sache gehen, zu beklauen. Augenblicklich steht zwischen den braunen Kunstleder-Kinosesseln Rainer Werner Fassbinder als Pate im Raum, wie ohnehin auch der bärtige Ricardo Teodoro, dieses Jahr in Cannes ausgezeichnet mit dem Prix Fondation Louis Roederer de la Révélation, gut ein Fassbinder-Schauspieler hätte sein können. Und überhaupt ist Marcelo Caetanos mitreißender Film ein kraftvolles Statement gegen die unheilvolle Trias Drogen, Gewalt und Sex, die Brasilien unter sich begräbt – und ein wunderschöner Film über die Liebe.
Und dann kam Alain Guiraudie in der Séléction officielle von Cannes, zu der die eigenständige Semaine de la Critique nicht gehört. Mit Miséricorde zündete er ein lustvolles Erzählfeuerwerk, eine Provinzposse über einen Intruder, der in einem kleinen Dorf, seinem Heimatort, einen Reigen der Stelldicheins anzettelt – und nebenbei geht es auch um Mord oder Totschlag. Es spielen: der Pfarrer, die Bäckersfreu, die Gendarmerie, der Sohn der Bäckerin und einer, der weg nach Toulouse gegangen ist und jetzt zum Begräbnis des verstorbenen Bäckers zurückkehrt. Die Bäckersfrau nimmt ihn bei sich auf, ihr Sohn wittert den Witwentröster. Es fließt viel Pastis die Kehlen hinunter, nachts wird der Eindringling zuerst am Bett vom Sohn gestellt, dann von der Gendarmerie, die versucht, ihm im Schlaf ein Geständnis abzuringen. Der flüchtet sich zum Pfarrer.
All das ist leichthändig wie Screwball erzählt, taucht mit der Kamera von Claire Mathon tief in den Wald und in die unbeleuchtete Nacht des Dorfes ein. Der Film nimmt jedes Tabu von vorn (vor allem der Pfarrer) und stellt dabei (ebenfalls der Pfarrer) auch durchaus ernstgemeinte Fragen über die Existenz.
Guiraudie hat damit eine Note in das offizielle Programm von Cannes gebracht, wie sie bislang noch nicht da war. Es ist das leichthändige Erzählen des französischen Kinos, die Komödie, die auch bittere Wahrheiten enthält. Wenigstens das.