77. Filmfestspiele Cannes 2024
Die Unspektakulären |
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Bester Film der Quinzaine: Jonás Truebas The Other Way Around | ||
(Foto: Filmfestspiele Cannes · Jonás Trueba) |
Von Dunja Bialas
Zum Strand habe ich es am letzten Tag noch geschafft. Aber bis auf Sonntag, wo ich ein volles Programm hatte, lud das Wetter diesmal nicht zum Baden ein. Ein kräftiger, auch kühler Mistral wehte einem entgegen, wenn die morgendliche Tour Richtung Cineum, dem Multiplex in La Bocca, anstand. Dort werden die Wiederholungen des Wettbewerbs gezeigt, in toll ausgestatteten Sälen, aber natürlich ohne den Glamour der Croisette. Aber der Weg lohnt sich, vor allem auch durch den Vorort La Bocca durch. Bevor man in der »Zone Artisanale« und dem Helikopterplatz direkt vor dem Kino ankommt, lässt sich spüren, wie sich hier das Leben ohne Hochglanz anfühlt. Die Häuser sind in grauem Braun gehalten, vor den Bistrots sitzen Menschen, die weder schön noch reich sind, es ist eine Schlafstadt, funktional gehalten mit riesigen Hypermarchés, in denen man sich bevorraten kann.
Im Cineum, dem Mulitplex mit der calatravaartigen Sonnenterrasse, lässt es sich aber den ganzen Tag aushalten, zwischen den Sälen hin- und herswitchen, was auch enge Programmierungen zulässt. Wenn man dann wieder rauskommt, hat man viereckige Augen und freut sich auf den Heimweg, direkt am Strand entlang. Und auf die schönen und glamourösen Menschen von Cannes, der Insel der Sorglosigkeit.
28 Filme habe ich insgesamt gesehen, in einer guten Woche. Und anders als mein geschätzter Kollege behauptet, war es überhaupt kein Privileg, Tickets für den Wettbewerb zu bekommen, weshalb man dann angeblich Filme in den Nebensektionen, den angeblichen Studentenfilmwettbewerben, sehen musste. Nein. Es war vielmehr schwierig, trotz dichtem Wettbewerbsprogramm auch noch Titel der »Quinzaine des Cinéastes« und der »Semaine de la Critique« mitzunehmen, »Un certain regard« habe ich gar nicht geschafft.
Allein schon der Film von Jonás Trueba, Sohn des berühmten spanischen Regisseurs Fernando Trueba, hat sich gelohnt. Mit Volveréis (The Other Way Around) hat der Spanier in der Quinzaine des Cinéastes das »Europa Cinemas Label« als bester Regisseur gewonnen, den Juryvorsitz hatte der Kanadier Xavier Dolan. Ale (gespielt von Itsaso Arana, Truebas langjährige Co-Drehbuchautorin und auch selbst Regisseurin) und Alex (Vito Sanz, der auch schon in Truebas letztem Film You Have to Come and See It an der Seite von Arana gespielt hat) waren fünfzehn Jahre zusammen, jetzt haben sie beschlossen, sich zu trennen, weil irgendwie die Luft raus ist. Sie machen das im Guten und wollen die Trennung mit einer großen Party feiern, wie es der Hippievater von Ale ins Gespräch gebracht hat. Das Paar schmiedet also gemeinsam Pläne, informiert die fassungslosen Freunde, wohnt in getrennten Zimmern, hat Me Time, jeder für sich. Als die Frage nach dem Umzug kommt, beginnen erstmals die Pläne zu straucheln. Und, ohne Spoiler: »volveréis«, der Titel im Original, heißt übersetzt »du wirst zurückkehren«.
Trueba gehört einer neuen Generation spanischer Independents an, die nicht mehr die großen, sondern die alltäglichen, mumblecoreartigen Geschichten der Thirty-Something-Generation erzählt. Nicht das Spektakuläre, sondern eine Finesse und Fiesigkeit, die mit leichtzüngigem Screwball-Schlagabtausch auch an die Filme des Koreaners Hong Sang-soo erinnern, steht im Zentrum. Es ist die Lust an der Performance, die den Spaß an den Filmen bringt, nicht ein ausgefeilter Plot oder die Wahnsinns-Geschichte. Volveréis hält größte kleine Glücksmomente im Kino bereit.
Ebenfalls in der Quinzaine des Cinéastes hat die gestandene französische Regisseurin Patricia Mazuy für weitere komödiantische Überraschung gesorgt. La prisonnière de Bordeaux (internationaler Titel: Visiting Hours) ist eine typische Class-Clash-Komödie, mit absolut vorhersehbarem Ausgang. Es geht um das Spiel. Isabelle Huppert gelangt als Vertreterin der Großbourgeoisie von Bordeaux (und die ist noch ganz anders bourgeois als im Rest von Frankreich) zur komödiantischen Hochform, zeigt sich gelangweilt von ihrem saturierten Leben und hebelt die Konventionen aus. Ihren Gegenpart spielt die grandiose Hafsia Herzi als Repräsentantin der kleinkriminellen Banlieue-Unterschicht. Beide Frauen treffen sich im Gefängnis, als sie ihre wegen unterschiedlichen, der jeweiligen Klasse geschuldeten Delikten einsitzenden Männer besuchen. Alma nimmt Mina in ihre große Villa auf, die Kinder kommen nach. Weniger Intruder als Bong Joon-Hos Parasite und auch weniger schwarzhumorig, zielt der Film vor allem auf die Befreiung der bourgeoisen Klasse. Die zugrundeliegende Sehnsucht nach dem einfacheren, weil authentischeren und gefühligeren Leben der Arbeiterklasse könnte man dem Film natürlich als Sozialromantik ankreiden – entspricht aber auch der französischen Verklärung des proletarischen, revolutionären Lebens und einer gewissen sympathischen Résistance gegen die herrschende Klasse.
Auch die Dokumentarfilmerin Claire Simon trägt diesen zärtlichen Blick auf die Marginalisierten in sich. In Apprendre (Séance Spéciale) portraitiert sie die Schülerinnen und Schüler einer Elementarschule im Pariser Vorort Ivry-sur-Seine. Ihr Film ist beobachtend und knüpft mit Fragen, die die Filmemacherin immer wieder behutsam aus dem Off stellt, an ihre früheren Filme und die Tradition des »Cinéma vérité« à la Jean Rouch an. Sie filmt auf Augenhöhe der Kinder, zeigt ihre Pausenhofspiele (und kommt damit auf ihren Kurzfilm Récréations von 1993 zurück) und ihr Zögern im Lernen. Anders jedoch als der rein beobachtende, einen Langzeitbogen spannende und sehr didaktische Film Favoriten von Ruth Beckermann, der dieses Jahr Premiere auf der Berlinale feierte, enthält sich Simons Film jeglicher Lernziele und scheut davor zurück, einen Bildungsroman zu konstruieren wie ihre österreichische Kollegin. Sie interessiert sich im Gegensatz zu dieser tatsächlich für die Kinder und das Viertel, in dem sie zur Schule gehen – und eben nicht für die pädagogische Methode. Wenn die Montage weniger pointiert ist, wie bei Simon, mag das die Bedürfnisse der Zuschauer, die sich bei Beckermann auch belustigen dürfen, weniger befriedigen. Für einen Dokumentarfilm im Sinne des »Cinéma vérité« ist dies aber ungleich zuträglicher.
Die Amerikanerin India Donaldson, Tochter des australisch-neuseeländischen Genre-Regisseurs Roger Donaldson, zeigte mit ihrem Debüt Good One (Quinzaine des Réalisateurs), dass sie eher bei Kelly Reichardt gelernt hat als bei ihrem Action-versessenen Vater. Die Ausgangslage ist also typisch Low Key American Independent. Zwei Väter brechen zum Wandern und Campen auf, die jeweiligen fast erwachsenen Kinder Sam und Dylan sollen mitkommen. Schweres Survival-Geschirr wird in den Rucksack gepackt, es geht für drei Tage in die amerikanische Wildnis (es werden sogar Bären gefürchtet). Allein, Vater Matt (Danny McCarthy) hält es mit seinem Spross toxisch, weshalb schließlich Sam (Lily Collias) ihre Generation alleine vertritt. Und tatsächlich zeigen sich auf den langen und unwegsamen Wanderwegen und am Lagerfeuer die Zerwürfnisse der Generationen, die ehrliche Aufrichtigkeit und echte Schockiertheit der jungen Sam, und die alles verharmlosende, über alles hinwegsehende Generation der Eltern (oder Väter).
Der Film ist langsam erzählt, entfaltet eine subtile Dramatik und überlässt über weite Teile den filmischen Raum dem Weg durch die Wälder und über die steinigen Stufen wilder Wasserfälle (Kamera: Wilson Cameron). Hier ist nichts Plot-driven, der Film lässt sich auch immer wieder durch Soundtrack emotionaler Dämpfung tragen, der einem bestimmten Independent- und Aussteiger-Lebensgefühl Ausdruck verleiht, wie etwa in Kelly Reichardts Old Joy.
Fazit des Streifzuges durch die Nebenreihen von »Quinzaine« und »Semaine«: die Sektionen lohnen unbedingt. Eigentlich müsste man sich clonen, um Cannes auch nur im Ansatz zu begreifen. Und der Abschied von Cannes, genossen auf der Croisette, wo die fliegenbewehrten Premierengäste großsprüchig entlangflanieren (wieso sind eigentlich so viele von der deutschen Filmbranche hier?), fällt wirklich schwer. Ich will mich gar nicht losreißen.