25.05.2024
77. Filmfestspiele Cannes 2024

Die Unspektakulären

The Other Way Around
Bester Film der Quinzaine: Jonás Truebas The Other Way Around
(Foto: Filmfestspiele Cannes · Jonás Trueba)

Jonás Trueba, Patricia Mazuy, Claire Simon und India Donaldson: Filme der »Quinzaine des Cinéastes«

Von Dunja Bialas

Zum Strand habe ich es am letzten Tag noch geschafft. Aber bis auf Sonntag, wo ich ein volles Programm hatte, lud das Wetter diesmal nicht zum Baden ein. Ein kräftiger, auch kühler Mistral wehte einem entgegen, wenn die morgend­liche Tour Richtung Cineum, dem Multiplex in La Bocca, anstand. Dort werden die Wieder­ho­lungen des Wett­be­werbs gezeigt, in toll ausge­stat­teten Sälen, aber natürlich ohne den Glamour der Croisette. Aber der Weg lohnt sich, vor allem auch durch den Vorort La Bocca durch. Bevor man in der »Zone Artis­a­nale« und dem Heli­ko­pter­platz direkt vor dem Kino ankommt, lässt sich spüren, wie sich hier das Leben ohne Hochglanz anfühlt. Die Häuser sind in grauem Braun gehalten, vor den Bistrots sitzen Menschen, die weder schön noch reich sind, es ist eine Schlaf­stadt, funk­tional gehalten mit riesigen Hyperm­ar­chés, in denen man sich bevor­raten kann.

Im Cineum, dem Mulitplex mit der calat­rava­ar­tigen Sonnen­ter­rasse, lässt es sich aber den ganzen Tag aushalten, zwischen den Sälen hin- und hers­wit­chen, was auch enge Program­mie­rungen zulässt. Wenn man dann wieder rauskommt, hat man vier­eckige Augen und freut sich auf den Heimweg, direkt am Strand entlang. Und auf die schönen und glamourösen Menschen von Cannes, der Insel der Sorg­lo­sig­keit.

28 Filme habe ich insgesamt gesehen, in einer guten Woche. Und anders als mein geschätzter Kollege behauptet, war es überhaupt kein Privileg, Tickets für den Wett­be­werb zu bekommen, weshalb man dann angeblich Filme in den Nebensek­tionen, den angeb­li­chen Studen­ten­film­wett­be­werben, sehen musste. Nein. Es war vielmehr schwierig, trotz dichtem Wett­be­werbs­pro­gramm auch noch Titel der »Quinzaine des Cinéastes« und der »Semaine de la Critique« mitzu­nehmen, »Un certain regard« habe ich gar nicht geschafft.

Jonás Trueba: Thirty-Something-Trouble

The Other Way Around
(Foto: Film­fest­spiele Cannes · Jonás Trueba)

Allein schon der Film von Jonás Trueba, Sohn des berühmten spani­schen Regis­seurs Fernando Trueba, hat sich gelohnt. Mit Volveréis (The Other Way Around) hat der Spanier in der Quinzaine des Cinéastes das »Europa Cinemas Label« als bester Regisseur gewonnen, den Jury­vor­sitz hatte der Kanadier Xavier Dolan. Ale (gespielt von Itsaso Arana, Truebas lang­jäh­rige Co-Dreh­buch­au­torin und auch selbst Regis­seurin) und Alex (Vito Sanz, der auch schon in Truebas letztem Film You Have to Come and See It an der Seite von Arana gespielt hat) waren fünfzehn Jahre zusammen, jetzt haben sie beschlossen, sich zu trennen, weil irgendwie die Luft raus ist. Sie machen das im Guten und wollen die Trennung mit einer großen Party feiern, wie es der Hippie­vater von Ale ins Gespräch gebracht hat. Das Paar schmiedet also gemeinsam Pläne, infor­miert die fassungs­losen Freunde, wohnt in getrennten Zimmern, hat Me Time, jeder für sich. Als die Frage nach dem Umzug kommt, beginnen erstmals die Pläne zu strau­cheln. Und, ohne Spoiler: »volveréis«, der Titel im Original, heißt übersetzt »du wirst zurück­kehren«.

Trueba gehört einer neuen Gene­ra­tion spani­scher Inde­pend­ents an, die nicht mehr die großen, sondern die alltäg­li­chen, mumb­le­co­re­ar­tigen Geschichten der Thirty-Something-Gene­ra­tion erzählt. Nicht das Spek­ta­kuläre, sondern eine Finesse und Fiesig­keit, die mit leicht­zün­gigem Screwball-Schlag­ab­tausch auch an die Filme des Koreaners Hong Sang-soo erinnern, steht im Zentrum. Es ist die Lust an der Perfor­mance, die den Spaß an den Filmen bringt, nicht ein ausge­feilter Plot oder die Wahnsinns-Geschichte. Volveréis hält größte kleine Glücks­mo­mente im Kino bereit.

Patricia Mazuy: Clash of Classes

La prisonniere de Bordeaux
(Foto: Film­fest­spiele Cannes · Patricia Mazuy)

Ebenfalls in der Quinzaine des Cinéastes hat die gestan­dene fran­zö­si­sche Regis­seurin Patricia Mazuy für weitere komö­di­an­ti­sche Über­ra­schung gesorgt. La prison­nière de Bordeaux (inter­na­tio­naler Titel: Visiting Hours) ist eine typische Class-Clash-Komödie, mit absolut vorher­seh­barem Ausgang. Es geht um das Spiel. Isabelle Huppert gelangt als Vertre­terin der Groß­bour­geoisie von Bordeaux (und die ist noch ganz anders bourgeois als im Rest von Frank­reich) zur komö­di­an­ti­schen Hochform, zeigt sich gelang­weilt von ihrem satu­rierten Leben und hebelt die Konven­tionen aus. Ihren Gegenpart spielt die grandiose Hafsia Herzi als Reprä­sen­tantin der klein­kri­mi­nellen Banlieue-Unter­schicht. Beide Frauen treffen sich im Gefängnis, als sie ihre wegen unter­schied­li­chen, der jewei­ligen Klasse geschul­deten Delikten einsit­zenden Männer besuchen. Alma nimmt Mina in ihre große Villa auf, die Kinder kommen nach. Weniger Intruder als Bong Joon-Hos Parasite und auch weniger schwarz­hu­morig, zielt der Film vor allem auf die Befreiung der bour­geoisen Klasse. Die zugrun­de­lie­gende Sehnsucht nach dem einfa­cheren, weil authen­ti­scheren und gefüh­li­geren Leben der Arbei­ter­klasse könnte man dem Film natürlich als Sozi­al­ro­mantik ankreiden – entspricht aber auch der fran­zö­si­schen Verklärung des prole­ta­ri­schen, revo­lu­ti­onären Lebens und einer gewissen sympa­thi­schen Résis­tance gegen die herr­schende Klasse.

Claire Simon: Auf Augenhöhe der Kinder

Apprendre
(Foto: Film­fest­spiele Cannes · Claire Simon)

Auch die Doku­men­tar­fil­merin Claire Simon trägt diesen zärt­li­chen Blick auf die Margi­na­li­sierten in sich. In Apprendre (Séance Spéciale) portrai­tiert sie die Schü­le­rinnen und Schüler einer Elemen­tar­schule im Pariser Vorort Ivry-sur-Seine. Ihr Film ist beob­ach­tend und knüpft mit Fragen, die die Filme­ma­cherin immer wieder behutsam aus dem Off stellt, an ihre früheren Filme und die Tradition des »Cinéma vérité« à la Jean Rouch an. Sie filmt auf Augenhöhe der Kinder, zeigt ihre Pausen­hof­spiele (und kommt damit auf ihren Kurzfilm Récréa­tions von 1993 zurück) und ihr Zögern im Lernen. Anders jedoch als der rein beob­ach­tende, einen Lang­zeit­bogen spannende und sehr didak­ti­sche Film Favoriten von Ruth Becker­mann, der dieses Jahr Premiere auf der Berlinale feierte, enthält sich Simons Film jeglicher Lernziele und scheut davor zurück, einen Bildungs­roman zu konstru­ieren wie ihre öster­rei­chi­sche Kollegin. Sie inter­es­siert sich im Gegensatz zu dieser tatsäch­lich für die Kinder und das Viertel, in dem sie zur Schule gehen – und eben nicht für die pädago­gi­sche Methode. Wenn die Montage weniger pointiert ist, wie bei Simon, mag das die Bedürf­nisse der Zuschauer, die sich bei Becker­mann auch belus­tigen dürfen, weniger befrie­digen. Für einen Doku­men­tar­film im Sinne des »Cinéma vérité« ist dies aber ungleich zuträg­li­cher.

India Donaldson: Low Key Inde­pen­dent

Good One
(Foto: Film­fest­spiele Cannes · India Donaldson)

Die Ameri­ka­nerin India Donaldson, Tochter des austra­lisch-neuseelän­di­schen Genre-Regis­seurs Roger Donaldson, zeigte mit ihrem Debüt Good One (Quinzaine des Réali­sa­teurs), dass sie eher bei Kelly Reichardt gelernt hat als bei ihrem Action-verses­senen Vater. Die Ausgangs­lage ist also typisch Low Key American Inde­pen­dent. Zwei Väter brechen zum Wandern und Campen auf, die jewei­ligen fast erwach­senen Kinder Sam und Dylan sollen mitkommen. Schweres Survival-Geschirr wird in den Rucksack gepackt, es geht für drei Tage in die ameri­ka­ni­sche Wildnis (es werden sogar Bären gefürchtet). Allein, Vater Matt (Danny McCarthy) hält es mit seinem Spross toxisch, weshalb schließ­lich Sam (Lily Collias) ihre Gene­ra­tion alleine vertritt. Und tatsäch­lich zeigen sich auf den langen und unweg­samen Wander­wegen und am Lager­feuer die Zerwürf­nisse der Gene­ra­tionen, die ehrliche Aufrich­tig­keit und echte Scho­ckiert­heit der jungen Sam, und die alles verharm­lo­sende, über alles hinweg­se­hende Gene­ra­tion der Eltern (oder Väter).

Der Film ist langsam erzählt, entfaltet eine subtile Dramatik und überlässt über weite Teile den filmi­schen Raum dem Weg durch die Wälder und über die steinigen Stufen wilder Wasser­fälle (Kamera: Wilson Cameron). Hier ist nichts Plot-driven, der Film lässt sich auch immer wieder durch Sound­track emotio­naler Dämpfung tragen, der einem bestimmten Inde­pen­dent- und Aussteiger-Lebens­ge­fühl Ausdruck verleiht, wie etwa in Kelly Reichardts Old Joy.

Fazit des Streif­zuges durch die Neben­reihen von »Quinzaine« und »Semaine«: die Sektionen lohnen unbedingt. Eigent­lich müsste man sich clonen, um Cannes auch nur im Ansatz zu begreifen. Und der Abschied von Cannes, genossen auf der Croisette, wo die flie­gen­be­wehrten Premie­ren­gäste großsprüchig entlang­fla­nieren (wieso sind eigent­lich so viele von der deutschen Film­branche hier?), fällt wirklich schwer. Ich will mich gar nicht losreißen.