77. Filmfestspiele Cannes 2024
Die Delirierenden |
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Brainlab im Wald: Rumours | ||
(Foto: Filmfestspiele Cannes | Guy Maddin, Johnson Brothers) |
Von Dunja Bialas
Ein endlos langes Model posiert mitten auf der Hauptader von Cannes im langen goldenen Kleid. Es hebt den Fuß, macht einen Schritt vorwärts, balanciert auf dem Highheel. Das ist nicht von dieser Welt, aber es ist das ganz normale Straßentheater von Cannes.
Unangenehmer die »Marion«-Flyer, die einem am stark frequentierten Marché Forville entgegengestreckt werden. Marion, das ist verniedlichend für Madame Le Pen, die Rechte Frankreichs bereitet sich zur Europa-Wahl vor und will, dass die Franzosen ihre Kandidatin beim Vornamen nennen. Wenn es doch nur eine Politsatire wäre.
So eine hat jetzt der kanadische Spezialist für Gothic-Horror Guy Maddin zusammen mit den Winnipeg-Brüdern Evan und Galen Johnson (The Forbidden Room) »Out of Competition« gezeigt. In Rumours treffen sich auf der fiktiven Burg Dankerode die Staatschefs zum G7-Gipfel, nach getaner Arbeit kommen sie in einem Pavillon im Park zusammen, um ein vorläufiges Statement zur globalen Lage zu verfassen. Jongliert wird mit den Formulierunen der Maastricht-, Tokio- und Parisbeschlüsse, allein, wie das jetzt zu Papier bringen? Eigentlich hat keiner Lust auf ein Arbeitsdinner, lieber will man trinken und auch ein bisschen private Affären weitertreiben oder von seinen Hobbys erzählen. Hilde, Gastgeberin und deutsche Kanzlerin, süffisant von Cate Blanchett verkörpert, teilt in Arbeitsgruppen ein, alle brainstormen dilettantisch, lassen sich von ihren Gelüsten ablenken und von dem Banalen, das ihnen gerade durch den Kopf geht.
Die Pavillon-Szene ist ein dialoggetriebener, anspielungsreicher Schlagabtausch der versammelten Staatschefs, die nicht immer erkennbar auf ihre echten Vorbilder verweisen. Als da wären: Denis Ménochet (Frankreich), Charles Dance (schläfrig: USA/Joe Biden), Takehiro Hira (Japan), Nikki Amuka-Bird (streng: Großbritannien), Rolando Ravello (Italien/Berlusconi) und schließlich verwegen: Roy Dupuis (Kanada). Der Kanadier wird eine tragende Rolle im nun kommenden Abenteuer spielen. Während die Präsidenten tagen, versinkt der Park im Nebel, als wäre würde hier noch einmal Lars von Triers Melancholia gegeben. Sex, Schlamm und ein Riesenhirn, eine Kahnfahrt über das Gewässer, das das Schloss von den zivilen Gefilden trennt und schließlich ein Zombie-Rudel, das sich über den Park hermacht. Es sind vorzeitliche Moorleichen, die der Mumien-Fan Denis Ménochet aus versehen aufgeweckt hat, als er an einer der Ausgrabungsstätten im Park in eines der Gräber gestürzt ist und ein Skelett unter seinem Gewicht begraben hat. Jetzt bekommt er weiche Knochen, die Moorleichen-Substanz ist ätzend.
Das ist deutsche Angst, die Rache der Gestorbenen, und deutscher Wald, märchenhaft und absurd. Schließlich soll ein schlüpfriges Mega-Hirn auf einer Lichtung die kultische Rettung aus der Misere sein.
Es ist unmöglich, den delirierenden Plot nur halbwegs anständig wiederzugeben. Maddin & Johnsons verlassen jedenfalls die diskursdichte Pavillonszene recht bald und damit auch die begonnene Dekonstruktion der politischen Sprache und der spontanen, wertvoll klingenden aber hohlen Polit-Thesenpapiere. Der Film nimmt lieber Rache an der Politkaste insgesamt, schickt sie buchstäblich in den Sumpf und versetzt sie in Todesangst, mit zunehmend experimentellen Gothic-Ausformungen des Plots und der filmischen Sprache, die alles absurd in den Abgrund treibt.
Der Film von Guy Maddin und den Johnson-Brüdern ist aber auch nicht reines L’art-pour-l’art-Vergnügen, wie seine exzessiven, detailreichen Schauerfilme zuvor. Der Cast ist untypischerweise hochkarätig (es spielt auch noch Alicia Vikander als EU-Präsidentin in einer Nebenrolle), seine Message ist ungewohnt realitätsbezogen und ernst. Ein politischer Kommentar der »Winnipegs«.
Delirierend-komisch wurde es auch in Quentin Dupieux' Le deuxième acte, dem außer Konkurrenz gezeigten Eröffnungsfilm der 77. Filmfestspiele von Cannes. Der französische Regisseur hat ja noch nie wirklich ernste Filme gemacht. Seine Werke sind allesamt komödiantische Kleinodien, oft zentriert um einen Gegenstand, der ein absurdes Eigenleben entwickelt, wie eine Wildlederjacke mit Fransen, ein Autoreifen oder eine Videokassette. Auch er versammelt einen illustren Cast: Vincent Lindon, Léa Seydoux, Louis Garrel und Raphaël Quenard spielen in einem libidinösen Quartett: Florence liebt David, der sie genervt an seinen Freund Willi abtreten will. Und alles auch nicht. Immer wieder wird die Illusion der Fiktion verlassen, Vincent Lindon (der den Vater von Florence spielt) will aus dem Film aussteigen, hat es satt, Schauspieler zu sein: »Le cinéma ne sert à rien!«, das Kino ist für nichts gut, sagt er. Ein paar Cinephile gäbe es noch, die uns ansehen.
Das ist nicht so weinerlich, wie es klingt. Le deuxième acte ist ein Film über den Zustand der Schauspieler, über die Texte, die sie sprechen sollen, über das Aus-der-Rolle-Fallen. Noch nicht ganz auf der Meta-Ebene verlassen sie doch allesamt immer wieder den Film. Mokieren sich über die korrekte Sprache (»pass auf, was du sagst, sonst werden wir noch gecancelt«), schreien ihre Langeweile über die Angebote hinaus, wollen aus dem Film aussteigen: »Wir sind doch nicht mehr in den Achtzigerjahren.« Ruhm und Konkurrenz sind zwei Treibstoffe der Schauspieler, erst als PT Anderson bei Vincent Lindon anruft, bringt ihn das wieder in die Spur zurück, lässt aber auch Louis Garrel Witterung aufnehmen.
Derart das weltweit wichtigste Festival zu eröffnen, ist ein schillerndes Statement von Cannes-Chef Thierry Frémaux, der stets am lautesten »Vive le cinéma!« ruft. Denn Le deuxième acte ist neben Canal Plus und anderen usual suspects auch von Netflix co-produziert, das Frémaux von der Leinwand gebannt hat, so lange es sich nicht fürs Kino engagiert. Das ändert sich allmählich, Netflix öffnet sich für die Kinoprojektion. Daneben ist Le deuxième act aber auch eine große Verweigerung des Erzählkinos: Er ist kein illusorischer Spielfilm, sondern Desillusion, keine hohe Schauspielkunst, sondern eine, die immer wieder krachend am Boden liegt, kein Plot, sondern offenherziges »So tun als ob«. Und, nehmt das, ihr lieben anderen Festivals der Welt: der Film hat auch kein Thema, es sei denn das, wozu wir alle hier an der Croisette sind. Das Kino, das ist sich in Cannes Thema genug.