28.02.2002
52. Berlinale 2002

Teil 2

Fulltime Killer
FULLTIME KILLER
(Foto: Pushkar Films)

Briefe von der Berlinale

Von Thomas Willmann

Lieber Stief­neffe,

ich muss Dich vielmals um Entschul­di­gung bitten, dass es so lange gedauert hat, bis Dich dieser Brief nun hoffent­lich erreicht. Du weißt ja, wie das ist, mit unserer Post... Jetzt aber hoffe ich, dass er, obgleich mit erheb­li­cher Verspä­tung, Dir doch noch immer ein wenig Gemüts­er­göt­zung verschafft und wenigs­tens kurso­ri­sches Interesse erwecken kann.

Lass Dir an dieser Stelle zunächst gedankt sein für Deine aufmun­ternden Worte und Deine guten Wünsche für vermehrte Sichtung begeis­ternder Festival-Filme, die Du mir nach meinem ersten Brief so vorbild­lich umgehend zukommen ließest. Und ich kann Dir auch glück­li­cher­weise berichten, dass zwar die begeis­ternden Filme auch in der zweiten Woche rar blieben, es für Deinen Onkel dann aber tatsäch­lich noch eine insgesamt befrie­di­gende Berlinale wurde – mehr dazu später.

Versöhn­lich war ja schon allein die Entschei­dung der Jury: Das hätten wir uns doch nicht träumen lassen, dass man sich wahrhaft traut, Qualität zu erkennen und mit SPIRITED AWAY einem Anime den Goldenen Bären aufzu­binden. Klar, es scheint die Jury dann doch die Angst vor der eigenen Courage gepackt zu haben, so dass durch die Prei­s­tei­lung mit BLOODY SUNDAY dafür Sorge getragen wurde, dass auch ja schön brav der ach so politisch relevante und mit den Problemen der Welt befasste und unseren Betrof­fen­heits­stolz bauch­pin­selnde Film mal wieder als wichtig und ausge­zeichnet hoch­ge­halten wurde. Damit quasi auch ein Ober­stu­di­enrat mit der Entschei­dung zufrieden sein kann.
Aber sei’s drum, Haupt­sache japa­ni­scher Zeichen­trick auf dem Sieger­trepp­chen! Yippieh! Und einer der wenigen Filme damit der Berlinale, der seine Aufgabe darin gesehen hat, eine ganz eigene, visionäre, künst­liche Welt zu schaffen. (Und nur um’s mal klar gesagt zu haben: Wen der Nord­ir­land-Konflikt wirklich berührt und bewegt, und wer dort seiner­seits etwas bewegen und zum Besseren verändern will, engagiert sich politisch, geht auf die Straße, macht Partei­ar­beit, was immer, sitzt jeden­falls nicht bei BLOODY SUNDAY im Kino. Film IST Welt­flucht. Punkt.) Fast möchte man da auch meinen, dass hier sogar das letzthin von mir so bekrit­telte »Accept Diversity«-Motto eine gewisse Erfüllung gefunden hat – denn Hayao Miyazakis Film biedert sich keines­wegs west­li­cher Fantasy (und erst recht nicht diesen über­langen Spielzeug-Werbe­spots, die derzeit in unseren Kinos als solche verkauft werden) an. Das ist Nippon durch und durch, lässt den hiesigen Betrachter nur ahnen, was da alles drin­steckt an Bezügen zu Mythen, Märchen, Religion im Land der aufge­henden Sonne. Mir kamen diese Abenteuer im Badehaus der Götter ein bisschen so vor, als hätte Hiero­nymus Bosch nach diversen Japa­no­logie-Seminaren »Alice in Wonder­land« neu erfunden. Bestimmt auch, weil im Gegensatz zu den Disney-Appro­pria­tionen von Märchen hier nichts auf simple Gut-Böse-Gegen­sätze hinfri­siert, keine Helden­ge­schichte erzählt wird. Da ist auch ein alles verschlin­gender, gesichts­loser Geist doch eine eher traurige Gestalt, bewegt sich alles auf moralisch viel­schich­tigem und wandel­barem Boden, fühlt man sich wirklich manchmal wie in eine Welt geworfen, in der nichts a priori Sicher­heit bietet. Die Entde­ckungs­reise ins Fremd­ar­tige ist mithin, wie eben bei Alice, wie oft auch in unseren Märchen, wenn man sich wirklich einmal ihre Urgestalt ansieht, eine, die sich nicht nur in den (hier wirklich beträcht­li­chen) optischen Schau­werten erschöpft.

Weil wir’s gerade von den verge­benen Preisen haben: Über einen mussten wir doch alle sehr herzlich lachen – den Alfred-Bauer-Preis »für einen Spielfilm, der neue Perspek­tiven der Filmkunst eröffnet,« an BAADER. Die bisher plau­si­belste These, was damit wohl gemeint sei, ist, dass der Film bisher uner­schlos­sene Dimen­sionen der Belang­lo­sig­keit sichtbar gemacht hat. Wenn Du, lieber Stief­neffe, wie es so Deine Art ist, Dich bereits vorab ein wenig schlau gemacht hast, dann wirst Du nun Deinem Onkel gewiss wieder mit dem Vorwurf selbst­ver­schul­deter Kinoqual kommen, weil man ja bei einem Film, bei dem einer der beiden Autoren Moritz von Uslar ist, als vernünf­tiger Mensch einfach gleich daheim bleiben sollte. Nun, Recht hast Du, aber ich vorher eben auch nicht nach den Autoren geguckt und also dann zwei Stunden wert­vollen Morgen­schlafs für eine dieser gnaden­losen 9:00 Uhr-Pres­se­vor­füh­rungen verschenkt. Wobei aber nur der nach­träg­liche Gedanke an die vertane Gele­gen­heit wonnigen Weiter­schla­fens wirklich dazu geneigt war, onkel­schen Grimm zu erwecken – der Film an sich war nicht einmal richtig ärgerlich, er war nur über­flüssig wie eine Kropf­pro­these. Kaum ein anderes Zellu­loid­werk ist dermaßen eingeöltem Klopapier gleichend am Arsch Deines Stief­on­kels vorbei­ge­gangen.
Du kannst Dir das Ganze in etwa vorstellen als zwanglose Verbin­dung von Schul­fern­sehen und H & M-Werbung. Die Stoff­ent­wick­lung muss bei Regisseur Christoph Roth und Herrn von und zu Uslar in etwa so vonstatten gegangen sein: »Hey, der Baader, das war schon ein ziemlich cooler Typ.« »Yo, aber irgendwie doch auch voll ambi­va­lent.« »Wahr! Hey, wir sind doch auch total cool, oder?« »Klar! Lass uns doch einen total coolen Film machen über den Baader!« »Geil! Aber der muss irgendwie halt auch so voll ambi­va­lent sein.« Weiter kann die geistige Durch­drin­gung des Materials nicht gediehen sein.
Ein bisschen heiße Luft gab’s auf der Berlinale um den recht freien Umgang mit den »histo­ri­schen Tatsachen«, was dem Film mancher­orts das Prädikat »kontro­vers« eintrug. Aber um kontro­vers zu sein, müsste das alles einen Sinn und Zweck, müsste einen dezi­dierten Stand­punkt haben. Den Heldentod im Shootout mit der Polizei am Ende aber gibt’s doch wohl nur, weil die Macher einer­seits keinen Bock hatten auf Stammheim, zu kompli­ziert, zu uncool, und ande­rer­seits gern mal ein bisschen Action-Kino spielen wollten. Eine der Haupt­mo­ti­va­tionen scheint überhaupt ganz unpo­li­tisch gewesen zu sein, dass die Herren auch mal wieder nackte Frauen sehen wollten und also alle Darstel­le­rinnen früher oder später, stets aber bar jeden Kontextes, barbusig auftreten. Dreh­ar­beiten wohl in etwa so vorzu­stellen: »Hey, ihr beiden, ward ihr eigent­lich schon nackt? Nee? Na gut, dann, ääähhh... stellt Euch da mal vor den Bade­zim­mer­spiegel und frisiert Euch. Aber zieht die Oberteile aus!« Und gerade sozusagen ex negativo von Kostümen sprechend: Der Zugang zu den 70ern kommt eigent­lich nie über’s Deko­ra­tive hinaus; mehrfach fühlte sich Dein Onkel an das »Sabotage«-Video der Beastie Boys erinnert, von wegen: Wir pappen uns Kotletten an und spielen Seventies, nur dass im Gegensatz zu Spike Jonez' groß­ar­tigem Clip halt weder Ironie noch Freude aufkommt.
Eine Szene nur gab’s, die gefiel und ließ ahnen, was drin gewesen wäre, wenn da hin und wieder über die produk­tivste Perspek­tive nach­ge­dacht worden wäre: Da sitzen die selbst­er­nannten Revo­lu­ti­onäre ratz­edicht und brezen­breit trippend um den Küchen­tisch, fast bewe­gungslos, nur Baader stochert, alle gucken faszi­niert zu, mit dem Besteck im Toaster rum. Bewe­guns­lose Totale, keine Musik, einmal wenigs­tens in einem ganz einfachen Bild die Distanz zwischen den Visionen in diesen Köpfen und der Außen­an­sicht einge­fangen.
Sonst aber fasst es viel­leicht am besten einer der gran­diosen Dialogsätze zusammen: »Ich will auch zur Guerilla.« Genau so hat’s gewirkt.

Spätes­tens dieses Jung­filmer-Armuts­zeugnis hat dann auch vollends offenbart, wie verzwei­felt insze­niert der Versuch war, Kosslicks erste Berlinale zu so einer Art Wieder­ge­burt­stunde des deutschen Kinos zu stili­sieren. Nichts gegen vier heimische Filme im Wett­be­werb, nichts gegen eine »German Cinema«-Sonder­reihe. (Na ja, viel­leicht ein wenig unhei­lah­nendes Zähne­knir­schen des zuge­ge­be­ner­maßen in dieser Richtung vorur­teils­be­las­teten Onkels, doch das gepaart durchaus mit der Bereit­schaft, sich eines Besseren belehren zu lassen...) Aber wenn halt so offen­sicht­lich wird, dass nicht erst vier über­zeu­gende deutsche Filme da gewesen waren, sondern der erklärte Wille, eine entspre­chende Anzahl bundes­re­pu­bli­ka­ni­sche Streifen ins Rennen zu schicken, ganz egal welcher Qualität – dann entblößt sich die Sache doch wieder als großer Krampf. Einfach mal so das deutsche Kino zur Chefsache auszu­rufen und es für auf dem Sprung zu inter­na­tio­naler Bedeutung zu defi­nieren, damit tut man doch auch niemandem einen Gefallen, wenn dann solch armselige Lächer­lich­keiten sofort den offen­sicht­li­chen Gegen­be­weis zur These liefern.

Wobei, soweit jeden­falls von Deinem Onkel gesichtet, sich der europäi­sche Film generell diesmal nicht so rasend spannend heraus­ge­putzt hatte. Gut, die Finnen hatten mit ON THE ROAD TO EMMAUS (EMMAUKSEN TIELLÄ) einen der vergnüg­li­cheren und gspin­ne­teren Beiträge am Start, der zumindest dem für (alko­ho­li­sierte?) Albern­heiten empfäng­li­chen Menschen (also mir) manch Freude bereiten konnte. Aber dann? Was war los mit den Franzosen? Warum immer noch und immer wieder diese Filme über Beischlaf, verbrämt mit viel Ziga­retten und raunenden Diskus­sionen über Philo­so­phie. Dieses esentiell fran­zö­si­sche Grund­muster lugte selbst bei jungen Filme­ma­chern dauernd hervor, ob aus dem 60s-Teenie-Zeitbild LA BANDE DU DRUGSTORE oder dem verquast intel­lek­tu­ellen, semi-expe­ri­men­tellen, spukro­man­ti­schen (und selt­sa­mer­weise trotz aller extremen, schwer­fäl­ligen Bedeu­tungs­hu­berei doch recht einneh­menden) FANTÔMES. Und wo es einmal nicht griff, da schien der Film dann gleich etwas verloren, wie bei dem von vielen zum gran­diosen Meis­ter­werk ausge­ru­fenen SUR MES LÈVRES. Das fängt noch sehr schön an, mit Vincent Cassel als Kack­specht, auf Bewährung aus dem Knast, und jetzt gezwungen, als Bürohilfe zu arbeiten; und mit Emanuelle Devos als schwer­hö­riger, leicht dotscherter Sekre­tärin. Bis zum Beischlaf bringen sie’s schon, und das mit dem Rauchen kriegt Cassel, soweit ich mich erinnere, auch noch hin. Aber schon weil die beiden nicht mehr über Philo­so­phie disku­tieren können, wird’s schwierig. Da verrudert sich der Film in einen Krimi-Plot, der weder sonder­lich inter­es­sant noch glaubhaft oder den Charak­teren recht ange­messen ist, weil er mit ihnen anschei­nend über die Länge eines Spiel­films sonst nichts anzu­fangen weiß. Das war dann einer jener überaus seltenen Momente auf der Berlinale, wo Dein Onkel sich bei einem Film mal WENIGER Genre-Anleihen gewünscht hätte.

Immerhin hatte ich so beim fran­zö­si­schen Film beru­hi­gen­der­weise stets vertraute Bezugs­rahmen parat und wenigs­tens das Gefühl, das Ganze eini­ger­maßen einordnen zu können. Das war bei meinem einen Aben­teu­er­trip ins Filmland Ukraine dann deutlich anders. So etwas wie das Natio­nal­epos EIN GEBET FÜR HETMAN MAZEPA (MOLITVA ZA GETMANA MAZEPU), mein lieber Stief­neffe, hat auch Dein Onkel noch nicht gesehen. Immerhin! (Ob er so etwas so schnell wieder sehen möchte, ist dann eine ganz andere Frage.) Seit ich dieses hyste­ri­sche, deli­rie­rende.. äähhh... Dings gesehen habe, mache ich mir jeden­falls ernst­hafte Sorgen, was man den armen Ukrainern so ins Trink­wasser kippt. Ich weiß gar nicht, wie meine armse­ligen Worte Dir einen ange­mes­senen Eindruck vermit­teln sollen von diesem, tja, »Film« (oder doch eher Happening). Stell Dir viel­leicht vor: Greenaway nach einer Lobotomie. Oder Fellini als Kasperl­theater-Intendant. Oder Schlin­gen­sieff mit zuviel Geld, und Julian Nieda-Rühmelin als Darsteller. MAZEPA ist nämlich nicht nur der teuerste ukrai­ni­sche Film aller Zeiten, einen Teil der Titel­rolle (erklär ich gleich!) spielt auch noch der ukrai­ni­sche Kultur­mi­nister Bohdan Stupka (der zuge­ge­be­ner­maßen schon vorher ein bekannter Schau­spieler war). Was mich so ratlos machte war vor allem die Unge­wiss­heit, ob da völlige Dille­tanten am Werk sind, denen es an allen Fähig­keiten und Möglich­keiten mangelt, ihre zwei­fels­ohne gran­diosen Visionen irgendwie nach­voll­ziehbar auf die Leinwand zu bringen, oder um dezi­dierte Avant­gar­disten, die sich (sowas gibt’s ja) ganz bewusst gegen jede tech­ni­sche Glätte und Konven­tion verhielten und also quasi absicht­lich alle Außen­auf­nahmen über­be­lich­teten und den Ton komplett nach(un)synchro­ni­sierten und derglei­chen Späßle mehr. Und ob’s am mangelnden Film­ma­te­rial oder am Kunst­willen lag, dass es schien, als wäre jeder Take (alles lange, wilde Hand­ka­me­ra­ein­stel­lungen) definitiv nur einmal gedreht und komplett verwendet worden, egal, was dabei alles schief­lief. Es gab jeden­falls vermehrte Anzeichen, dass die Macher das ein oder andere Seminar zur Post­mo­derne hinter sich hatten, z.B. (weil quasi Auflösung von Iden­ti­täten und Chro­no­lo­gien, holla!) dass Mazepa in unter­schied­li­chen Darstel­lern in unter­schied­li­chen Lebens­al­tern verkör­pert wurde, die aber dauernd innerhalb ein und der selben Szene wech­selten. Oder dann auch Selbst­re­fle­xi­vität und Illu­si­ons­durch­bre­chung dadurch, dass die histo­ri­schen Figuren selbst anfangen, von der dereins­tigen Verfil­mung ihres Lebens zu reden, und so... Auch die Einbe­zie­hung populär­kul­tu­reller Elemente (sprich: immer mal wieder eher unmo­ti­vierte Softporno- und Splatter-Einlagen) ließe sich so oder so deuten. Und dito die fast komplette Unver­s­tänd­lich­keit des Ganzen in narra­tiver Hinsicht. (Zu der aller­dings gewiss die Unter­titel mehr als ein Quentlein beitrugen – »Meine Quall hat ein Ende,« hieß es da z.B., obwohl weit und breit keine Qualle zu sehen war.)
Es hätte zumindest einer der rausch­haf­testen und wirklich diver­gie­rendsten Filme des Festivals sein können, wenn... – ja, wenn er nicht sagen­hafte 154 Minuten gedauert hätte, was ihn dann doch nicht nur für mich zur in dieser Länge nicht durch­steh­baren »Quall« machte. Dass Dein Onkel zu jener Minder­heit gehörte, die am Schluss des Filmes noch im Kino saß, lag nur daran, dass ihn zwischen­durch Morpheus für ein gutes Stündlein in seine starken Arme genommen hatte...

Und so war es dann doch mal wieder an den Asiaten, mit einer gewissen Verläss­lich­keit für die cine­as­ti­schen Glücks­mo­mente des Onkels zu sorgen.
Nicht, dass da von vorn­herein alles Gold war, was mit Vorspännen in chine­si­schen Schrift­zei­chen glänzte:
Beim zweiten Anime im Programm ging’s beispiels­weise (nicht nur) dem Onkel so, dass tatsäch­lich fast nur die fantas­ti­sche Optik ihn erreichte und erfreute; die Geschichte, die Zusam­men­hänge blieben (es mag wiederum die etwas suspekt erschei­nenden Unter­titel eine Mitschuld treffen) bei A TREE OF PALME (PALUMU NO KI) seinem abend­län­disch struk­tu­rierten Hirn doch relativ unver­s­tänd­lich. Und das, obwohl ihm vom Video­spielen doch irgend­welche Kämpfe um Lebens­en­er­gien, Questen um zauber­tä­tige Kapseln und derglei­chen nicht ganz unver­traut sind, und eines der Vorbilder des Films ganz unzwei­fel­haft unser europäi­scher Pinocchio war. Womit wenigs­tens die Grundzüge sich klärten, von wegen Roboter-Bub, der aber auch irgendwie ein Baum ist (da wurde es schon schwierig!), will Mensch werden. Aber das genauere wie, wer, wo, was und warum... Und wenn Du jetzt denkst: Na ja, der Onkel hat dann bestimmt zum Pres­se­info gegriffen, und das hat ihn erhellt, dann muss ich sagen – gegriffen hat er, und erheitert hat es, aber erleuchtet, das nicht. Weil also schon die Kurzbio des Regis­seurs sprach­liche Kunst­werke folgenden Kalibers enthielt (alle Zitate »sic!«): »As the animator his carrier of involving in the original picture of 'Warriors of the Wind' led to him great perfor­mance as an chief animation director in 'AKIRA', having shown his over­whel­ming existence.« Wo man aber wenigs­tens noch drauf­kommt, was gemeint ist. Wie eigent­lich auch bei der Synopsis, die nur sehr knapp gehalten war und nicht viel mehr verriet als eben oben ange­spro­chene Mensch­wer­dungs­wün­sche des Holz­ro­bo­ters. (Warum der etwas infan­tiler veran­lagte deutsch­spre­chende Zuschauer – also Leute wie Dein Onkel – während des Films des öfteren unan­ge­mes­sene Heiter­keit befiel, wird Dir übrigens folgendes Zitat aus der Synopsis erhellen, verbunden mit der Infor­ma­tion, dass über­wie­gende Teile des Dialogs daraus bestanden, dass die Charak­tere gegen­seitig verzwei­felt ihre Namen riefen: »PALME is deter­mined to get there even more strongly due to his love to POPO, thinking, 'I will become a human being for POPO.'« Ähem, nun ja...)
Was die Botschaft des Ganzen anbelangt aber: Da befiel mich doch der Verddacht, dass eher einer den Stoiber bei Chris­ti­ansen versteht als die »Director’s message«, die ich, weil sie gar so schön ist, hier in ihrer Gänze zu Deiner Ergötzung hinzi­tiere. »A robot called PALME is frigh­t­ened of the tran­si­ence of its existence. But, he is still going to travel in the inside of people’s painful souls and minds and is going to hold a clear thing. That figure might be also same as us who live now. Our figure asks for a spiritual where­a­bouts also as a man. Therefore, it is sure that this tale is now required one. I believe that the values of this film will be born with the depth of the mirror of each people’s mind, which this film watches.« Na, wenn das mal kein clear thing ist.
(Übrigens, weil wir’s gerade haben mit erhei­ternden Über­set­zungen aus asia­ti­schen Sprachen – hier, völlig außerhalb jedes cine­as­ti­schen Kontexts, des Onkels Lieb­lings­fund­s­tück seines Berlin­auf­ent­halts, entdeckt auf der Stäbchen-Verpa­ckung beim Asia-Imbiss in den Potsdamer Platz-»Arkaden«: »Welcome to Chinese Restau­rant. Please try your Nice Chinese Food With Chopsticks the tradi­tional and typical of Chinese glonous history and cultual.«)

Es ist halt doch nicht so leicht mit den kultu­rellen Diffe­renzen, wenn man mehr soll, als sie einfach nur akzep­tieren. Den anderen verstehen, das kann glatt in Arbeit ausarten. Ging mir beispiels­weise auch so beim Wett­be­werbs­film KT von Junji Sakamoto. Saß ich drin und merkte einfach: Du hast nicht annähernd genug Ahnung von den poli­ti­schen Vorgängen in Japan und Korea Anfang der ‘70er, um damit wirklich was anfangen zu können. Da müsstest Du Dich erstmal schlau machen. Und bin dann auch nach einer langen Weile gegangen.
Oder wenn Du jetzt meinst: Wenn beispiels­weise Chinesen selbst sich mit kultu­rellen Diffe­renzen zum Westen ausein­an­der­setzen, dann haben sie was Span­nendes zu erzählen – tja, dann bist Du da auch nur der roman­ti­schen Illusion aufge­sessen, dass die »Anderen« (so man denn aufge­klärt genug ist, sie nicht einfach für böse zu halten) immer entweder hilfs­be­dürftig oder ganz voll toller poeti­scher Lebens­weis­heit sein zu haben. Und man ihnen nicht zugesteht, ganz einfach genauso blöde Lang­weiler sein zu können wie wir. Case in point: BIG SHOT’S FUNERAL von Feng Xiaogang. Ließ sich so viel­ver­spre­chend an – Komödie um einen amerik­an­si­chen Regisseur (Donald Suther­land, no less!), der in China grade an einem Remake von THE LAST EMPEROR dreht, dabei zusam­men­bricht und sich vom Totenbett aus eine richtig schön chine­si­sche, fröhliche Trau­er­feier ausbittet. Was dann sofort eine riesige Vermark­tungs­ma­schine in Gang bringt. Aber nun: Der Witz ist eben, dass alle versuchen, diese Toten­feier zu vermarkten. Und das ist der GANZE Witz. 100 Minuten lang. Sonst nix. Immer wieder und wieder: Alle versuchen, den Tod dieses großen Mannes zu vermarkten, ha ha! Und wieder und wieder. Und auf Dauer kann man da dann irgend­wann nicht mehr ganz so schallend drüber lachen...

Trotzdem, bei asia­ti­schen Filmen war generell die Tref­fer­quote die durch­schnitt­lich höchste. Da gab’s reichlich, was zwar viel­leicht den oheim­schen Erwar­tungen nicht bis zum Füll­strich entsprach, aber doch die inves­tierte Zeit maßvoll entlohnte. Was soll’s, wenn PRINCESS BLADE die inten­dierte Großkurve von action­rei­chem Beginn zu ruhigem Mittel­teil zu wieder explo­die­rendem Finale nicht so recht hinbe­kommt, weil ihm gerade in der Ruhe schlicht die Kraft fehlte – wenn die Action­cho­reo­gra­phien von Donnie Yen dafür ordent­lich kickten. Was, wenn Shinji Aoyama mit HAMA MIKU – NAMAE NO NAI MORI nicht das Gewicht eines EUREKA auf die Waage brachte, wenn’s doch so schön verspielt, so verschroben, mit so einer schönen Titel­musik war – und genau wusste, wie lang (bzw. kurz) das Ganze trägt. Und (fast) egal, wenn Shunji Iwai mit ALL ABOUT LILY CHOU CHOU den Nerv des Onkels deutlich weniger getroffen hat als mit seinem SWALLOWTAIL BUTTERFLY (zu deutsch YENTOWN), wo der Film es dennoch geschafft hat, genug Momente fest in der Erin­ne­rung zu verankern. Und klar hatten wir alle (na ja, viele zumindest) nach seinem THE ISLE darauf gehofft gehabt, dass Kim Ki-Duk mit BAD GUY (NA-BBUN-NAM-JA) im Wett­be­werb was hinklotzt, wo die anderen danach einfach einpacken und heim­fahren hätten können. Und mussten dann zugeben, dass er DAS dann doch nicht geschafft hat. (Wobei die Wellen des Hasses, die dieser Film bei nicht wenigen hat hoch­branden lassen, dann doch ebenso unbe­rech­tigt wie bezeich­nend waren. Klar, ein sperriger, ein anstren­gender Film – irgend­wann wird’s wirklich zu viel, wenn die Charak­tere allesamt keine andere Ausdrucks-, keine andere Kommu­ni­ka­ti­ons­form haben als Gewalt. Aber eben auch ein Film, der einem dabei wirklich auf die Pelle rückte, bei dem das Gefühl des Unbe­ha­gens nicht rein intel­lek­tuell blieb; der einem die Hölle der gezeigten Welt unan­ge­nehm nah und intensiv erfahrbar machte.)

Zwei Funde gab’s dann (bevor wir bald zum einen ÜBERRAGENDEN Werk des Festivals kommen), die Deinen Onkel wirklich gänzlich für sich einnehmen konnten. Zum einen THE RULE OF THE GAME (WA DONG REN) von Ho Ping. Wo Du jetzt wahr­schein­lich unwei­ger­lich an Tarantino denken würdest, wenn ich Dir von der Handlung berich­tete – von wegen mehrere mitein­ander verwobene Geschichten von relativ glück­losen Klein­kri­mi­nellen und so... Wo Du jetzt aber gar nicht auf Tarantino kommen würdest, wenn Du den Film wirklich sehen könntest. Das hatte eine so grandiose Beiläu­fig­keit, war so herrlich unauf­ge­regt und fern jeder gehu­berten Coolness angelegt, und hat seine (nicht uner­heb­liche) Clever­ness keine Sekunde vor sich herge­tragen, sondern einem damit lieber immer wieder wirklich über­rascht. Ganz groß!
Zum anderen DARK WATER (HONOGURAI MIZUNO SOKOKARA), der manchem, der sich nachher furchtbar darüber ärgerte, glatt durch die Lappen ging. Weil (und danach brauchte man wirklich keinen Beweis mehr für die Studi­en­rats­las­tig­keit des Festivals) im Berlinale Journal dazu einiges stand von wegen Kampf einer Frau ums Sorge­recht für die Tochter, aber nicht so recht erwähnt wurde, dass das nur ein kleiner Neben­strang ist und das Ganze schlicht und einfach ein lupen­reiner Horror­film. Wer da nicht wo anders nachlas oder drauf aufmerksam wurde, dass man’s bei Hideo Nakata mit dem Regisseur von THE RING zu tun hatte... tja, Pech. Und wirklich Pech, weil das Ding wirklich atem­be­rau­bend gut funk­tio­niert hat. Klar, sonder­lich unvor­her­sehbar war der Gang der Ereig­nisse nicht gerade, auch wenn manches, was lange schon zu erwarten war, noch als Über­ra­schung sich aufbau­schte. Aber die Atmo­sphäre – meine Herren! Da hat es dem Onkel sogar die Gänsehaut auf den Buckel getrieben, und das passiert ihm im Kino mitt­ler­weile nun wirklich selten. Da saß manch gestan­dener Mann dann beim Finale drin wie ein kleines Mädchen in der Geis­ter­bahn.

Wenn man’s drauf anlegt, dann holt man aus DARK WATER freilich problemlos mindes­tens ebenso viel und ebenso tief­ge­hende Sozi­al­kritik heraus wie aus den dezi­dierten »Problem­filmen« (um einmal dieses garstige Unwort zu verwenden). Aber da muss man halt viel­leicht eine kleine Ecke weiter­denken als nur bis zur bloßen Ober­fläche, und, na ja: schwierig! Deswegen halt Genrefilm nicht so gern gesehen im Programm, weil erstmal unter Trivia­li­täts­ver­dacht und so, genau wie halt vor weiß nicht viel Jahr­zehnten – was man naiver­weise für längst über­wunden und evident uralten Käse hätte halten können. Nun musstest Du Dir ja schon im letzten Brief des Oheims Lament über die Bildungs­bür­ger­las­tig­keit des Film­an­ge­bots auf der dies­jäh­rigen Berlinale anhören, und dazu hatte ich als einen Erklärungs­ver­such den Mangel einer zünftigen Retro angeführt. Was aber auch den Umstand der vielen zerknirschten Sozial- und Bezie­hungs­dramen unver­hält­nis­mäßig stark spürbar machte im Vergleich zu vergan­genen Jahren war die drastisch geschrumpfte Mitter­nachts-Schiene im Delphi. Da gab’s ja bisher, getreu dem »Erst die Arbeit, dann das Vergnügen«-Motto, immer wenigs­tens zur Geis­ter­stunde Filme, bei denen es unge­straft erlaubt war, schlicht Freude am Kino zu empfinden. Dieses Jahr aber war dieses Angebot auf die Hälfte reduziert – weil die bösen, bösen Hong Kong-Produ­zenten auf einmal richtig Geld sehen wollten für ihre Filme. Jetzt muss man freilich zugeben, dass ein Festival sich tatsäch­lich in Nöte bringt, wenn es einmal anfängt, für Auffüh­rungs­rechte mehr als nominelle Pauschal-Beträge abzu­drü­cken. Weil, nicht nur »Des ham mir schon immer so g'macht« und »Des ham mir no nia so g'macht« sondern vor allem halt »Da könnt ja a jeda kommen«, und dann wollen die Produ­zenten noch von Jahr zu Jahr mehr und überhaupt... Ande­rer­seits: Erzähl mir keiner, dass um die paar größeren Hollywood-Filme im Wett­be­werb nicht gepokert würde. Und dass, selbst wenn die sich bescheiden würden, es nicht einfach um Werbung für den kurz bevor­ste­henden Deutsch­land-Start ginge. Von asia­ti­schen Studios aber wird ganz selbst­ver­s­tänd­lich erwartet, dass sie ihre Filme für mau und ohne stra­te­gi­schen Werbe-Wert (schließ­lich haben die leider fast nie einen deutschen Verleih) hergeben. Also nicht nur »Accept diversity«, sondern bitte auch »Maintain diversity«. (Wie ein Vorwurf klang es, als mir eine zustän­dige Dame vom Forum, in dessem Rahmen die Reihe lief, erklärte, die Hong Kong-Produ­zenten wollten Geld sehen »weil die Filme so poulär geworden sind«. Die trauen sich was, die Chinesen – populär werden! Schlitzau­gerte Saubuam!) Weil, sonst kommen nachher irgend­wann auch noch die asia­ti­schen Kinder aus der Turn­schuh­fa­brik und wollen menschen­wür­dige Stun­den­löhne, und dann aber, lieber Stief­neffe, gute Nacht!
Wobei das jetzt alles auch noch immer keine Erklärung dafür bietet, warum bei den Midnight Movies dieses Jahr kein einziges Bollywood-Musical war. Sauerei, mit Verlaub! Und zwar elendige!

Da fällt mir ein: Du hattest auch den Wunsch geäußert, nicht immer nur über die Filme infor­miert zu werden, sondern auch ein bisserl über den Glamour drum rum. Das sei mir doch gleich Befehl. Nur – so richtig glamourös war die Berlinale dieses Jahr einfach nicht, und keiner weiß recht, warum. Wie jedes Jahr ertönte der Jammer­schrei »Zu wenig Stars,« aber das stimmte schlichtweg nicht.
Stars waren reichlich da, kleine wie große, alte wie junge, Madeln und Buben, eigent­lich für jeden Geschmack was dabei. Und auch Parties gab’s wieder – gewiss nicht so viele wie noch vor zwei Jahren zu Börsen­gang-Boom-Zeiten; aber die ein oder andere Firma schien sich doch auch schon wieder zu trauen, nicht wie im letzten Jahr fast ausschließ­lich Arbeits­essen zu insze­nieren. Trotzdem lag so ein allum­fas­sender Hauch des Arbeits­mäßigen über dem gesamten Festival, und ein Gefühl des Nur-um-sich-selbst-Kreisens – es schien wenig Wirkung nach außen zu dringen, nicht einmal so recht bis zur gewöhn­li­chen Berliner Bevöl­ke­rung.
Es mag daran liegen, dass in der Film­wirt­schaft inzwi­schen die Struk­turen weit­ge­hend verhin­dern, dass andere als Major-Produk­tionen noch irgendwen erreichen, der sich nicht wirklich aktiv ums Kino­ge­schehn kümmert. Es hat sich so eine Kategorie des puren Festival-Films heraus­ge­bildet (die, rein zahlen­mäßig, wahr­schein­lich weitaus den größten Teil aller welt­weiten Produk­tionen umfasst), der nie außerhalb von Festivals zu sehen sein wird – oder wenn, dann mit viel Glück irgend­wann nachts auf arte oder in den letzten paar echten Programm­kinos. Ins Multiplex aber, und damit ins leider letzte Refugium, wo Kino noch von sich behaupten darf, ein echtes MASSEN-Medium zu sein, schafft es nichts davon. Die wirklich Film­be­geis­terten haben sich anschei­nend damit abge­funden (oder wollen das nicht wahr­nehmen), rotten sich auf solch Festivals zusammen und bleiben unter sich; der Main­stream schämt sich seiner Borniert­heit längst nicht mehr (wenn er das je getan hat) und lässt die Spinner selbst­genügsam unter sich.
So verliert solch ein Film­fes­tival langsam jeden Anschein von einer Kommu­ni­ka­ti­ons­platt­form, auf der die Künstler wirklich die große Welt erreichen mit ihren Botschaften; auf der ein Auss­tausch statt­fände mit der Gesell­schaft insgesamt. Was bleibt, ist das Einholen von Sound­bites, ist jour­na­lis­ti­sche Flakhilfe für die Marke­ting­ab­tei­lungen und eben das pure Geschäft des Filme­ver­kau­fens.

So ist man dann schon fast froh über all die Halb­de­bilen und schrägen Gestalten, die sich zwangs­weise immer in so ziemlich jeder Pres­se­kon­fe­renz einfinden und dort zwar einer­seits große Pein auslösen durch dumme, unsinnige oder unver­s­tänd­liche Fragen, minu­ten­lange Monologe ohne Punkt und derglei­chen mehr, die aber ande­rer­seits wenigs­tens der hohlen Glätte des ganzen Proze­deres ein paar Dellen zufügen.
À propos Pres­se­kon­fe­renzen: Wie ja schon in meinem letzten Epistel fest­ge­stellt, ist seit dem 11. September 2001 selbst­ver­s­tänd­lich auch auf der Berlinale nichts mehr so wie zuvor. Was eben auch immer wieder in den jour­na­lis­ti­schen Frage­stunden zu merken war. Denn der 11. September, der war da immer wieder ein wichtiges Thema. Also, wenn zum Beispiel bei Tom Tykwer in HEAVEN eine Frau in einem Hochhaus eine Bombe zündet – sofort Frage nach 11. September! Oder wenn Terro­risten vorkamen in einem Film – Frage nach 11. September! Oder New York. Oder Männer mit Bart. Oder Männer ohne Bart. Oder überhaupt Leute. Oder auch keine Leute. Immer sofort: Frage nach 11. September! Auch gab es eine Dame von einem Fern­seh­sender aus der arabi­schen Welt (ich habe vergessen, woher genau), die in jeder Pres­se­kon­fe­renz, in der sie auftauchte – auch wenn’s zu sagen wir, einer fran­zö­si­schen Komödie war – , die Frage stellte, ob Araber im west­li­chen Kino zu negativ darge­stellt werden. Und was man daran ändern könnte. Und überhaupt, Vers­tän­di­gung von Westen mit Islam und so. Was unter anderem mal wieder ein schöner Beweis für den magischen Glauben war, dass Leute, weil sie irgendwie an einem Film beteiligt waren und nun zufällig auf einem Podium vor einem Mikrofon sitzen, zu sämt­li­chen Fragen des Welt­ge­sche­hens a priori wichtige, richtige und inter­es­sante Dinge zu sagen haben. Und beispiels­weise Schau­spieler als Quell der Erkenntnis auch in komplett nicht­fil­mi­schen Belangen eine Autorität haben, wie sie wiederum beispiels­weise ähnlich themen­fremden Super­markt­kas­sie­re­rinnen niemals eignen könnte.

Bei allem Dust nach Glamour, bei allem Gemosere über fehlende Grande Dames und Grand Seigneurs (und da muss man sagen: Deneuve, Cardinale, Altman! Wen wollt ihr denn noch alles?) oder heiße flavors of the month – von dem einen unbe­streit­baren, leib­haf­tigen Super-bis-Mega-Star vor Ort wurde allgemein dann doch erstaun­lich wenig Notiz genommen: Andy Lau war da! Und jetzt fürchte ich, dass selbst Dir, meinem des asia­ti­schen Kinos nicht unkun­digen und durchaus geschmacks­si­cheren Stief­neffen, das unter Umständen kaum mehr als ein »Ach nett!« entlockt. Dann schäm' Dich! Und nimm Dir ein Beispiel an den kleinen Chine­sinnen, die im Delphi waren, als Lau auftrat. Das musst Du Dir jetzt ungefähr so vorstellen, als würden Madonna und Leonardo di Caprio zusammen mal eben durch’s Kino spazieren. Hei, das war ein Gequieke und Gefiepe, »Mr. Lau, Mr. Lau!!!«, und ein Getatsche und Gewusel und Gefo­to­gra­fiere! Also, wenn’s um Enthu­si­asmus geht und seine unge­hemmte Zurschau­stel­lung, da sind kleine Chine­sinnen ganz groß!
Und beweisen dabei aber halt auch einfach Geschmack. Muss man auch als Nicht-Chinese und erst recht Nicht-Chinesin neidlos aner­kennen: Andy Lau und Charisma – also da wenn der einen Laden aufmachen würde mit abge­schnit­tenen Scheiben, könnte er halb Hollywood heute ganz allein ausrei­chend versorgen, und den Deutschen Film insgesamt gleich gar für die nächsten sieben bis acht Jahr­zehnte.
Nur dass das gegen­wär­tige deutsche Kino wahr­schein­lich erstmal gar nicht wüsste, wohin dann mit dem Charisma – da hätte es ja gar nicht die Filme dafür. Da müsste es mit dem Schei­ben­ab­schneiden schon viel grund­le­gender und umfang­rei­cher anfangen.

Was die Präsenz eines Andy Lau (nicht ohne lieb­rei­zendes Zutun von Anita Mui und Sandra Ng, sei fairer­weise gesagt) aus einem eher durschnitt­li­chen Routi­ne­pro­dukt noch alles macht, das zeigte DANCE OF A DREAM. Einer von frag mich nicht wievielen Filmen von Andrew Lau (nicht verwech­seln mit Andy, Andrew ist der Regisseur!) dieses Jahr, und wie meist bei ihm (wenn er sich nicht gerade zu einem Ausreißer nach oben aufrafft) solideste Unter­hal­tung, mit einem flotten, freud­vollen Handwerk, für das Filme­ma­cher außerhalb Hong Kongs wahr­schein­lich sämtliche Großmütter verscher­beln würden, welches dort aber kaum über dem Standard liegt. Eine Tanz­lehrer-Komödie – wie’s dem chine­si­schen Geschmack entspricht etwas zu bubbly, zu quietsch­fröh­lich, für unser Empfinden stel­len­weise schon nah an der Hysterie vor lauter Enthu­sisamus, besonders der Damen. Aus Reper­toire-Elementen zusam­men­ge­bas­telt, ohne ewig lang an glatten Fugen zu tüfteln. Aber eben optisch mit dem Hong Kong-typischen untrüg­li­chen Gespür für das absolute Grund­ele­ment des Kinos: Die Bewegung und ihre Ästhetik. Und völlig frei von falschen Ansprüchen, nichts heischend, was es nicht ist, im besten Sinne »scham­loses« Enter­tain­ment. Und dazu eben mit Darstel­lern wie Andy Lau, bei denen das Zuschauen einfach immer Spaß macht, allein wegen der Grazie der Bewegung, allein wegen der Ausstrah­lung, eben wegen seines Charismas. Wenn ich Dir, lieber Stief­neffe, dann noch berichte, dass in diesem Film unter anderem eine Szene vorkam, in der Anita Mui und Sandra Ng Busen­mas­sage üben (bevor Deine jugend­liche Phantasie mit Dir durchgeht: im beklei­deten Zustand, versteht sich, wir sprechen hier schließ­lich von einem Hong Kong-Fami­li­en­film!), und eine Musi­cal­nummer mit der chine­si­schen Version von »Ein Schiff wird kommen« (nein, wirklich, der Onkel hat erst danach zum Bier gegriffen!) – na, dann kannst Du Dir ausmalen, mit welch Glücks­ge­fühlen der Oheim anschließend aus dem Kino schwebte.

Was jetzt aber alles nur Vorge­plänkel war und blasse Ahnung, bleicher Schatten und harmloser Zeit­ver­treib. Vor dem EINEN, vor dem GROßEN, vor dem WAHREN, dem WIRKLICHEN und EINZIGEN und HÖCHSTEN und HEILIGSTEN, was die Berlinale 2002 zu bieten hatte. Ich kann nicht sagen, dass es ganz unver­hofft kam – nach dessen über­ra­genden, heroi­schen Trio von 1999 gedrehten Filmen (THE MISSION, WHERE A GOOD MAN GOES und RUNNING OUT OF TIME – wie FULLTIME KILLER auch mit keinem anderen in einer der Haupt­rollen als Andy Lau!) erwartet der Onkel von Johnnie To ja stets nur das Aller­beste.
Aber dass es dann doch so eine Offen­ba­rung werden würde – es hätte geheißen, die Schick­sals­götter heraus­zu­for­dern, hätte man gewagt, fest damit zu rechnen. Wenn es nach Tsui Harks TIME & TIDE noch irgend­eines Beweises bedurfte, dass man in Sachen Action-Kino in Hong Kong schon wieder 20 Jahre weiter ist als Hollywood, das sich seit THE MATRIX so rührend bemüht, endlich auf den HK-Stand von ca. 1980 zu kommen – FULLTIME KILLER lieferte ihn im Überfluss.
You want diversity? Dieser Film hatte sie tatsäch­lich: Kanto­ne­sisch, Mandarin, Japanisch und Englisch wurde da im flie­genden Wechsel gespro­chen, nicht einen, sondern gleich zwei Profi­killer (im Wett­streit) gab’s, quer durch ganz Asien hüpfte der Plot, IL MARIACHI, POINT BREAK, FEAR & LOATHING IN LAS VEGAS, LEON, THE MAN WHO SHOT LIBERTY VALLANCE, »Crying Freeman«-Manga, »Metal Slug«-Video­spiel, Beethoven, Rossini, Bach, das alles war drin und mehr, und weil’s eben kein besser­wis­se­ri­sches Zita­ten­raten war, wurde meist gleich dazu­ge­sagt, woher man sich bedient hatte.
Da muss jetzt selbst Dein Onkel zugeben, dass er beim ersten Sehen stel­len­weise über­for­dert war, manche Zusam­men­hänge nicht sofort begriff – kein Wunder, nach zwei Wochen bebil­derter Hörpsiele, wo man bei den meisten nach dem estab­li­shing shot für den Rest einer Szene getrost die Augen schließen konnte, wusste man doch Schuss für Gegen­schuss, wie sie aufgelöst sein würde und wurde einem alles Wesent­liche in den Dialogen vorer­zählt. Und dann dieser Film, der einem zutraute, fast alles über die Bilder zu kapieren – und dabei davon ausging, dass es reicht, etwas einmal gezeigt zu haben. Wo uns Hollywood doch lehrt, dass alle wichtige Infor­ma­tion mindes­tens dreimal vorgekaut zu sein hat.
Es war definitiv ein Film für Schnell­gu­cker, auch wenn die unglaub­lich geilen (nein, ein anderes Wort tut es hier nicht) Schrot­flin­ten­schüsse selbst­ver­s­tänd­lich gebührend in Zeitlupe zele­briert wurden. Es war ein Film, der erstmal von nichts handelte als dem Kino selbst, in dem auch Andy Lau (mit Bill Clinton-Maske) im Kino sitzt, den Trailer zu THE MISSION guckt und meint – ach, könnte unser Leben nur so prall und spannend sein wie Film-Trailer. Der rasend virtuos mit allem spielte, was die Kamera an Möglich­keiten hat, der ganz und gar Genre war, in allem über­le­bens­groß – und dann in zweiter Linie bitter­süße Tragödie, Film über Ruhm, Rivalität, Liebe, Einsam­keit, Legenden. Kurzum: Es war das eine Meis­ter­s­tück wirk­li­chen KINOS, das einem da von der Berlinale gegönnt wurde.
Und es hätte zu keinem besseren Zeitpunkt kommen können: Viermal war es Deinem Onkel vergönnte, sich FULLTIME KILLER an den letzten drei Tagen der Berlinale anzu­schauen, mit nie erlah­mender, nein, sogar mit wach­sender Begeis­te­rung. Sich endlich alles holend, was da zuvor knapp zwei Wochen als mal kleines, mal riesig klaf­fendes Defizit in den diversen Kinosälen gestanden war. Es war ein versöhn­li­ches, onkel­be­glü­ckendes, oheim­be­frie­di­gendes Ende des Festivals, wie man es schöner nicht hätte planen können.
All’s well that ends well, hat schon vor rund 400 Jahren ein anderer Favorit Deines Onkels gesagt, und so sei das abschließende Placet erteilt und fest­ge­stellt: Es war eine gute Berlinale.

Und das ist dann doch auch ein schönes Ende für diesen (mal wieder, Du mögest es mir wie immer in Deinem großen Langmut verzeihen, über alle vernünf­tigen Stränge gewach­senen) Brief. Ich wünsche uns beiden freilich, dass ein weiser Verleiher sich FULLTIME KILLER sichert und deutsche Kinos damit begnadet. Und würde mich freuen, auch von Dir bald wieder zu hören.
Auf dass Deine Wege stets gesäumt seien von Licht­spiel­häu­sern voll begeis­ternder Filme, und Dein Leben so spannend wie ein Trailer,
grüße mir auch Deine Eltern recht lieb
und komm' doch nächstes Mal einfach mit auf die Berlinale,
Dein
Stief­onkel dritten Grades mütter­li­cher­seits