52. Berlinale 2002
Topographien der Gefühle |
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Der Felsen von Dominik Graf | ||
(Foto: Concorde Filmverleih) |
»Vielleicht ist Tom Tykwer auch das, was Benjamin von Stuckrad-Barre für die Literatur ist.« – auch eine Woche nach dem Eröffnungsfilm dominiert Ratlosigkeit unter vielen Kritikern. Die Kollegin, von der der Vergleich stammt, meint ihn positiv. Und hat recht damit. Denn auch Lola rennt brachte Pop-Stimmung, frische Luft und neues Publikum, einen anderen Stil, der sich vor allem durch das definierte, wogegen er war. Tykwers neuer Film Heaven hat damit allerdings nichts zu tun. Der definiert sich durch das, was er sein will, und nicht schafft. Als ob Stuckrad-Barre plötzlich Thomas Mann sein wollte, obwohl es noch nicht mal zu Thomas Bernhard langt.
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Ganz anders Dominik Grafs Der Felsen. Ein schwieriger Film, der das Berliner Publikum spaltet. Ganz klar, dass Graf nicht das Massenpublikum will, und dass er hier gegen das übliche Wohlfühlkino ankämpft, weit mehr, als in seinen Fernseharbeiten. Auch klar, dass manches Bild nur aus der Not geboren wurde. Aber wer außer Graf wagt schon so viel? Manchmal ist dem Felsen zu deutlich anzumerken, dass er mehr will, dass er gegen alle Flucht ins Nur-Private und Unreife, die im deutschen Film so beliebt ist, ankämpft.
Aber dass er auf der Pressekonferenz dann gefragt wird, warum die Bilder so unschön seien, dass Helmut Karasek seinen einzigen Berlinale-Text ausgerechnet ihm widmet – was dann auf andere Kollegen so wirkt, als ob »Karasek hier eine alte Rechnung begleichen musste«, dass also die Kritik am Film dem Niveau von Der Felsen kaum gerecht wird, hat er nicht verdient.
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»Bei mir zuhause, da gibt es ein Spiel« – gleich zu Beginn thematisiert der Film die Bedingungen des Erzählens: Ein Straßenhändler am Strand von Korsika breitet auf seiner Decke verschiedene Gegenstände aus. Wie man die alle in einer Geschichte verknüpfen könne, sei die Herausforderung an den Erzähler, sagt er. Es dauert eine Weile, bis man begreift, wie disparat die Elemente, die Graf hier zusammenbringt: Da ist ein Paar, das sich trennt. Der Mann will wieder zu seiner Frau schwangeren Frau zurück. Kathrin (Karoline Eichhorn) die Geliebte, mit der er einen letzten Urlaub verbringen wollte, der zum Debakel wurde, bleibt noch ein paar Tage da, um Abstand zu gewinnen. Tage, die zu einer Reise ins innere Chaos werden. Deutsche im Urlaub. Manchmal kann man an Karmakars Manila denken, der auch ein fremdes Land benutzte, um ein Heimatfilm zu machen und wie in einer Laborsituation zu zeigen, dass man Deutschland immer mitnimmt, dass man weggehen muss, um anzukommen. Im Unterschied zu Karmakar hat Graf aber mehr Mut, das Chaos, das sich vielleicht in jedem Leben findet, auch wirklich darzustellen.
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Denn Der Felsen ist mitreißend gemacht. Auf Mini-DV gedreht, zeigt der Film wilde, spontane Bilder, versucht auch formal die Disparatheit zu bewahren, die den Gefühlen dieser Städterin im Dschungel entspricht. Schon am ersten Abend lässt sie sich auf ein kurzes Abenteuer mit zwei Franzosen ein. Zuvor hat sie Malte (Antonio Wanneck) kennengelernt, einen 17jährigen, der in einem
Resozialisierungscamp für straffällige Jugendliche lebt. Sie treffen sich wieder, Malte verliebt sich in sie, sie kann diese Gefühle nicht erwidern, und lässt doch Nähe zu – aus momentaner Schwäche vielleicht, auch aus Verantwortungsgefühl. Als Malte nach Deutschland zurückgebracht werden soll, flieht er aus dem Camp, und gemeinsam mit Maltes jungem Bruder fahren beide in die korsischen Berge. Dieser Weg einer sonderbaren Dreiergruppe zurück in die Natur, in ein
zivilisatorisches Vakuum, erinnert an Nicholas Roegs 30 Jahre alten Walkabout mit dem entscheidenden Unterschied allerdings, dass hier bereits die Wildnis selbst das Unmögliche in dieser Liebesgeschichte offen legt.
In seinem Stil steht Graf Mike Figgis näher, der zuletzt auch die neuen Digitalkameras benutzte, um die Einheit stiftenden Filmbilder aufzusprengen, vom
Fragmentarischen zu erzählen, ohne ihm Gewalt anzutun. Allerdings gibt es hier zwei Erzählerstimmen aus dem Off, die, darin manchmal Truffauts ähnlich, Zeit raffen, die Handlung beschleunigen, Erzählfäden zusammenfügen, und dadurch mehr Raum schaffen für anderes, Filmischeres, für die Ruhe, die im Kino oft fehlt. Distanz schaffen sie allerdings auch. So hat Der Felsen gerade in seinem
Verzicht darauf, alles erklären zu wollen, etwas Objektives, einen soziologischen Blick, nicht auf Milieus, sondern für eine Situation. Mitunter wirkt alles daher wie das erste praktische Beispiel jeder Theorie des Erzählens, die Graf vor zwei Jahren in seinem Filmessay München – Geheimnisse einer Stadt entwickelt hat.
So wie die Stadt darin ein von Gefühlen bedeckter Ort war, zeichnet der Regisseur nun die Karte der Gefühlslandschaft einer jungen Frau. Und wieder begegnet man einem essayistischen Erzählen, das die Flüchtigkeit des Lebens und Erlebens erfassen will, dem Zufall eine Chance geben. So wird der Text einer nie abgeschickten, nur gedachten Postkarte vorgelesen, ein Netz der Dinge, der Blicke und der Gefühle ausbreitet, in dem sich die Personen verstricken. Die menschliche Biographie als »Museum von Gegenständen.« Ebenso wie die Liebe: »In der Liebe darf man nicht lügen, sonst verliert man sein Leben.«
Mit seltener Intensität gelingt Graf ein deutscher Film, der erwachsen ist, der die Zerschlissenheit von Gefühlen ebenso zeigt, wie das »zerstört-sein« (Graf) der Institution Familie – ein Film der dabei nichts hat von dem »mit Weihrauch umgebenen Kinobegriff«, den Graf ablehnt: »das ist kleinbürgerlicher Krempel, den man auch mit der Oper verbindet.« Stattdessen führt er uns auf eine Entdeckungsreise ins Ich.
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In der Nachbarschaft des Festivalgeländes gibt es eine Kirche, da liegen Hängematten für Filmkritiker, zur Entspannung. Pech nur, dass keiner Zeit hinzugehen. Im Pressezentrum wäre das besser.
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Wieder einmal nicht rechtzeitig am Kartenschalter der Berlinale. Jetzt bleibt nur die Ausweichvorstellung am Nachmittag, aber da läuft ja noch... Neulich hatte man erst ein Buch in Händen, dass sich auf ein paar hundert Seiten ausschließlich mit dem »Filmende in der Kinogeschichte« befasst, und überlegte, ob der Autor wohl alle zitierten Werke trotzdem ganz gesehen, oder die Casetten immer bis zur letzten Viertelstunde vorgespult hatte. Auf der Berlinale diskutierte man dann mit einer Kollegin ob es – wenn schon, denn schon – die bessere von zwei schlechten Varianten sei, zu spät in einen Film hinein zu kommen, oder vor dem Ende hinauszugehen. Ein Argument gab das andere, und plötzlich – hatte der nächste Film schon angefangen. Die normative Kraft des Faktischen nannte man das früher.
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Hans-Peter heißt der grüngelbe Kanarienvogel, der ein bisschen Farbe in das Leben von Uwe und Ellen bringt. Zu sagen haben sich die beiden nicht viel, Uwe verbringt den Tag in der Imbissbude, Ellen verkauft Parfüm. Eines Tages ist Hans-Peter verschwunden, ausgeflogen als Ellen kurz einmal frische Luft in die »verquarzte Bude« bringen wollte. Da sieht man dann das Paar orientierungslos auf der Suche im riesigen Innenhof ihres Wohnblock, verloren und einsam. Kurz darauf beginnt Ellen eine Liebesaffaire mit Chris, einem Radiomoderator, der eigentlich mit Katrin verheiratet ist – beide Paare sind befreundet. Zu Beginn hat man die vier bei einem Diaabend gesehen, Urlaubsbilder wurden da gezeigt, die gleichzeitig entlarvend sind für die alltäglichen Mief eines deutschen Kleinbürgerdaseins, wie sie doch Mitgefühl erregen in ihrer sprachlosen Depression und der Sehnsucht nach mehr.
Ein merkwürdiger Sog geht aus von Andreas Dresens HALBE TREPPE, der gestern im Wettbewerb der Berlinale gezeigt wurde, als dritter der vier deutschen Beiträge. Zwei Paare und eine Affaire, alltäglich vielleicht, aber damit genau auf der Fährte jener Realität des Lebens, nicht nur des deutschen, die man im heimischen Kino so oft vermisst. Mit 80.000 Mark Preisgeldern und weiteren Referenzmitteln haben Dresen und sein Produzent Peter Rommel ihren Traum von einem Film mit ganz kleinem Team und ohne lästige Einreden anderer verwirklicht. Ein paar Wochen lang drehte man in Frankfurt/Oder, mit Digitalkamera und weitgehend unbekannten Schauspielern in improvisierter, in manchem an den Dogma-Stil erinnernder Machart. Herausgekommen ist trotzdem ein Film, der von der ersten Minute an weiß, was er will. Distanziert führt er seine Figuren ein, dabei fast übervorsichtig jede Form von Voyeurismus und Bloßstellung vermeidend. Glaubwürdigkeit ist oberstes Ziel, und so entsteht auf leichte Weise ein Gefühl für die Traurigkeit des Verlassenseins. Mögen Halbe Treppe auch der letzte Wagemut und hohe Anspruch fehlen, mit dem der zweite und nach wie vor beste deutsche Wettbewerbsfilm, Dominik Grafs Der Felsen Publikum und Kritiker in Berlin spaltete, so handelt es sich doch auch hier um einen preiswürdigen deutschen Wettbewerbsbeitrag, so verbindet beide Filme doch mehr, als sie trennt: Auch Dresen will seine Figuren objektivieren, das Repräsentative in ihnen herausarbeiten. Dazu gebraucht er Mittel des Dokumentarfilms, die für – manchmal fast zuviel – Distanz zwischen Zuschauer und Story sorgen. Vor allem aber bieten beide Filme einen je individuellen Gegenentwurf zu jenem kunsthandwerklichen Repräsentationskino, das im Wettbewerb auch nach Moritz de Hadelns Abgang noch immer ab und an zu finden ist.
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Kísértések vom Ungarn Zoltan Kamondi ist so ein Fall. Eingeladen wohl nur, um im Wettbewerb auch Osteuropa nicht zu vergessen, reiht sich der Film in die Reihe der Familienstorys ein, die zumindest die erste Hälfte des Wettbewerbs dominieren. Ungarn in der Postwendezeit: Marci (Marcell Miklos) ist ein Muttersöhnchen und lebt immer noch daheim. Seine Freundin Elvira ist hübsch, aber langweilt ein bisschen. So passiert es, dass sich Marci, ein begabter Computerfreak, der davon lebt, dass er sich in anderer Leute Bankkonten hineinhackt, in das Zigeunermädchen Juli verliebt, und sie ihren Eltern für einen Sack Zwiebeln abkauft. Weil Kamondi sich nie von seinen Klischees aus Tradition (= Zigeuner) und kalter Kapitalismusmodernität löst, kommt dabei nur absehbare Langeweile heraus. Auch stilistisch weicht Kísértések in seinem ständigen unmotivierten Wechsel zwischen Schwarzweiß und Farbbildern auf gekünstelte Gesten aus, wo etwas gezeigt werden müsste.
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8 femmes – Francois Ozons neuer Film hat nicht nur den lakonischsten, treffendsten Titel aller Filme die diesmal auf der Berlinale laufen, er hat auch die großartigste Besetzung: Catherine Deneuve, Isabelle Huppert, Fanny Ardant, Emmanuelle Béart, Virginie Ledoyen, daneben Danielle Darrieux, Firmine Richard und Ludovine Seigner. Allein dieser sensationelle Aufmarsch weiblicher Superstars macht 8 femmes zu einem Ereignis. Zu sehen ist eine skurrile, hochamüsante Mischung aus Komödie und Kriminalstück, garniert mit Musical-artigen Einlagen, die elegant mit Pop- und Schlagermusik der 50er bis 70er Jahre spielen. Man muss erlebt haben, wie Ozon – der sich zuletzt mit einer Filmfassung des Fassbinder-Stücks Tropfen auf heiße Steine und dem faszinierenden Autorenfilm Unter dem Sand in die erste französische Regiegarde katapultierte – die Deneuve zusammen mit den jungen Ledoyen und Seigner zu Rock'n Roll singen und tanzen oder Huppert als alte Jungfer hysterisch sein lässt, um zu verstehen, wie gut das funktioniert. Aber nach 10 Minuten hat man es kapiert, und beginnt, sich zu langweilen. Das ist alles sehr sehr onkelhaft; auch sehr künstlich, und letztlich gar nicht erotisch, weil Ozon mit seinen Darstellerinnen in dieser Hinsicht offensichtlich gar nichts anfangen kann. Mit seinem kontrolliert übertriebenem Spiel, running gags und vorhersehbaren Verwirrungen bleibt 8 femmes genialer Boulevard. Kein cineastisches Großereignis, aber immerhin ein originelles, klug-anspielungsreiches Unterhaltungsstück, das kaum mit einem Goldenen Bären, aber ziemlich sicher mit manchem Zusatzpreis rechnen darf.
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Große Familiendramen, kleine Tragödien, komödiantisch-distanzierte oder engagierte Auseinandersetzungen mit der Vergangenheit – thematisch ist das bisherige Wettbewerbsprogramm so verschieden, wie die Länder, aus denen es stammt. Nachdem Tom Tykwers Eröffnung mit Heaven sehr unterschiedliche Aufnahme fand, und der zu Herzen gehende Happy Times des Chinesen Zhang Yimou leider außer Konkurrenz lief, gab es wie alle Jahre mit Annette K. Olesens Små ulykker einen dänischen Film, diesmal zwar nicht im wackeligen Dogma-Stil, aber wieder ein gefühlsintensives Familiendrama: Gleich zu Beginn stirbt die Mutter, die drei Kinder und der Onkel sind in Ehekrisen verstrickt, oder lesbisch, oder haben Ernährungsprobleme, und der herzkranke Vater steht unter Verdacht, seine Töchter missbraucht zu haben. Am Ende, nach notwendiger Katharsis löst sich alles in – vorläufiges – Wohlgefallen auf. Doch die überladene Konstellation hat nur den Sinn, wie in einem Ibsen-Drama die gesamte Condition Humaine ins Kleine zu kondensieren – ein gelungenes Beispiel intelligenten europäischen Kinos.
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Der bisherige Favorit der meisten Besucher stammt von dem Schweizer Marc Forster. Der Titel Monster’s Ball bezieht sich auf die letzte Nacht eines zum Tode Verurteilten vor seiner Hinrichtung. Doch nur zu Beginn ist der Film auch eine Anklage der Todesstrafe. Vielmehr geht es um den von Billy Bob Thornton gespielten Henker, einen hochgestörten Rassisten aus den US-Südstaaten, der Prototyp des autoritären Charakters. Mutter und Ehefrau endeten durch Selbstmord. Als sich auch sein Sohn umbringt, verändert er sich – nicht schlagartig, sondern langsam und sanft. Plötzlich entwickelt er nie gekannte Sensibiltät und Gefühle, die schließlich in die Liebe zu einer schwarzen Frau (Halle Berry) münden. Monster’s Ball ist ein stiller Film, der zugleich eine seltene Sogkraft entfaltet. Er besticht nicht nur durch großartige Schauspieler, sondern auch durch wunderbare, sanft-geschmeidige Bilder, durch das Taktgefühl der Regie, die die Mitte zwischen Humor und Melodram hält, den Figuren naherückt, ohne sie preiszugeben, und in alldem an Mendes American Beauty und vor allem an Andersons Magnolia erinnert – der vor zwei Jahren sehr zu recht den Goldenen Bären gewann.
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In der Farbpsychologie steht Rot gleichermaßen für die Liebe, wie für Aggression. Rot, die Farbe der revolutionären Freiheit dominiert nun auch die ersten Tage der Berlinale. Dies nicht allein, weil Festival- und Sponsorenlogo sich bis in feinere Farbnuancen ähneln, oder weil endlich alle Teppiche vor den Kinos ausgerollt sind um der zahlreichen Stars zu harren, die ihr Kommen für die nächsten Tage angekündigt haben.
An den Auslagen im Pressebereich leuchtet einem das Themenheft einer Filmzeitschrift entgegen, das dieser Farbe gewidmet ist. Auf ihm ist Irène Jacob aus Krysztof Kieslowskis Film ROT zu sehen – jenem Film seiner »Drei Farben«-Trilogie, die der Regisseur der Brüderlichkeit gewidmet hatte. Und ganz brüderlich wird jeder Filmkritiker, wenn er sich denn irgendwann durch die Warteschlangen der Kollegen durchgekämpft und seine Akkreditierung erhalten hat, dabei sogar Michael Naumann überholen konnte, der hier vor zwei Jahren noch als Kulturstaatsminister selbst Gastgeber war, am Ende mit einer roten Berlinale-Tasche beglückt.
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So hat der neue Berlinale-Chef Dieter Kosslick auch diese Hürde gemeistert. »Sind alles Darstellungsfragen« lautet eine seiner häufigeren Formulierungen, und man möchte gar nicht wissen, was wohl andere Farbgebung bei spöttischen Kollegen für Assoziationen ausgelöst hätten: Lila, der letzte Versuch, Grün ist die Hoffnung, Trauerfarbe schwarz oder romantisch-unbestimmtes Blau – das ist Rot schon die viel glücklichere Wahl, und zudem ein Stück Klarheit im Vergleich zu den etwas unbestimmt-schmutzigen Mischtönen auf den Plakaten.
Das roteste Rot sah man allerdings erwartungsgemäß im Kino, im bereits letzte Woche erwähnten Thome-Film Rote Sonne: Der traf sich perfekt mit einem Festival, das den neuen Weg, den es beharrlich und gelassen beschreiten will, zunächst einmal über eine neue Stimmung zu vermitteln sucht, dass sich – wie Thome – im Zweifel mehr der Ironie verpflichtet fühlt, als dem Ernst, das auch künstlerisch spielt, anstatt in Sentimentalität zu baden. Rot eben, nicht Schwarz.
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»Man denkt mit den Köpfen anderer. Und die Gefährten denken im eigenen Kopf« – Alexander Kluge war spürbar gerührt. »Irgendwann erwischt es einen« fügte er sogleich verschmitzt-ironisch, aufkommende Sentimentalität brechend, hinzu. Jetzt war eben er dran. Erst am Donnerstag wird der Regisseur 70 Jahre alt, doch der Geburtstagsreigen begann auf der Berlinale schon am Sonntag. Da zeigte das Panorama Angelika Wittlichs liebevoll-intelligente Dokumentation zu Kluges Lebenswerk (am 16.2. auch im Dritten Programm des BR zu sehen). Diese erzählte nicht nur viel über Kluge selbst, sie zeigte auch viele Freunde, und sogar der sonst mehr als kamerascheue Jürgen Habermas hatte sich interviewen lassen.
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Einige Gefährten waren nicht nur auf der Leinwand zu sehen. Hannelore Hoger, Edgar Reitz, Christoph Schlingensief waren gekommen, um wohl auch ein bisschen Solidarität mit dem Solitär des deutschen Kinos zu bekunden. Zugleich ein bezeichnendes Bild: Da saßen hier nachher drei der wichtigsten deutschen Regisseure der letzten Jahrzehnte zusammen, ziemlich genau 40 Jahre nachdem das »Oberhausener Manifest« Papas Kino endgültig für tot erklärte. Jetzt sind sie selbst, gegen ihren Willen, längst für das deutsche Kino gestorben.
Der jüngste von ihnen macht Theater, Kluge produziert seine TV-Programme und schreibt Bücher, und auch Edgar Reitz, der das letzte Jahrzehnt vor allem damit verbrachte, sein Projekt »Dritte Heimat« irgendwie doch noch durch die Fördergremien zu bekommen, wird hier zwar Kinotaugliches herstellen, sehen wird man es einmal mehr – wie zuvor »Heimat« und »Die Zweite Heimat« – doch nur auf der Flimmerkiste. Anderswo wäre es unvorstellbar, dass einige der besten Regisseure eines Landes faktisch an ihrer Arbeit gehindert werden, während Loach, Rohmer, Chabrol Saura in ihrer Heimat einfach weitermachen können.
Symptomatisch auch die distanzierten Aufnahme, die Dominik Grafs Wettbewerbsfilm bei manchen Kollegen fand, während nette Boulevardkomödien wie Ozons 8 femmes als cineastisches Großereignis gefeiert werden. Nur wenige sehen offenbar, wie produktiv die Sperrigkeit und der Mut Graf sein können, der dem Kluges durchaus verwandt ist. »Der Moment ist gut«, sagte dieser, »für Teamwork, für Filme zwischen den Generationen.« Aber wer im deutschen Kino, denkt heute mit Kluges Kopf?
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Auch Lasse Hallströms The Shipping News, die Verfilmung von E.Annie Proulx' Roman, bot nur das Beispiel eines Kinos, gegen das Regisseure wie Dresen und Graf anfilmen. Eingeleitet mit der Erinnerung der Hauptfigur Quoyle an den Tag, als ihn sein Vater ins Wasser warf, um ihn zum Schwimmen zu zwingen (Achtung: Trauma!) wird aus dem Kopf des fast ertrinkenden Knaben in einer manierierten Rückblende das Gesicht Kevin Spaceys. Ähnlich geht es weiter. Denn Quoyle ist ein lieber Narr, der seine Frau liebt, die ihn ausnutzt. Eines Tages ist sie tot, und er muss allein für die gemeinsame Tochter sorgen – was er natürlich ohne seine Tante (Dench) und eine neue Frau (Julianne Moore) nicht schafft. Auch hier erlebt man gute Menschen in gar schröcklichen [SIC!] Familienverhältnissen. Irgendwie muss man seine Wurzeln suchen, böse Geister abwehren, allerlei dunkle Geheimnisse enthüllen und dabei nett sein. »Es gibt noch viel Mysteriöse in der Welt« lautet die Moral, und wie zur Bekräftigung ist alles erfüllt mit Skurrilitäten wie kopflose Leichen im Meer, Boote die verbrennen und vielerlei Seemannsgarn. Gäbe es hier nicht noch Schauspieler wie Kevin Spacey und Judi Dench, die mit ihrem intelligenten Spiel etwas Erleichterung bringen, würde der Druck auf die Tränendrüsen schier unerträglich. Dem Publikum aber gefällt das süße Kitschhandwerk Marke Hallström (Chocolat) seit jeher, im Wettbewerb hat es nur als Starvehikel etwas zu suchen.
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Aber glücklicherweise heißt Kino auf der Berlinale vor allem Vielfalt. Und darum freut man sich über Filme, die wie Halbe Treppe die Dinge einmal etwas anders machen wollen, als es immer alle übrigen tun, über das Bemühen um einen subjektiven persönlichen Film, mit dem hier deutsche Regisseure sogar an die in der Retrospektive gewürdigte Tradition des Autorenfilms der 60er Jahre anschließen. Ganz zum Schluß hat Uwe in Halbe Treppe zwar seine Frau endgültig verloren, aber Hans-Peter flattert fröhlich piepend wieder zum Fenster herein. Als wäre nichts geschehen.
PS:
Ach, ja, die Favoriten: Graf wird es nicht werden, genauso weinig wie die Kritikerliebling 8 femmes. Ziemlich gut war Monster’s Bal von Marc Forster. Daran kam bisher nichts heran. Dresen, ja wenn’s ein deutscher Film werden soll, dann der. Sonst wird er immerhin irgendwelche andere
Preise bekommen. Und die Dänen soll man nie vergessen.