14.02.2002
52. Berlinale 2002

Topographien der Gefühle

DER FELSEN
Der Felsen von Dominik Graf
(Foto: Concorde Filmverleih)

Notizen von der Berlinale (2. Folge)

Von Rüdiger Suchsland

»Viel­leicht ist Tom Tykwer auch das, was Benjamin von Stuckrad-Barre für die Literatur ist.« – auch eine Woche nach dem Eröff­nungs­film dominiert Ratlo­sig­keit unter vielen Kritikern. Die Kollegin, von der der Vergleich stammt, meint ihn positiv. Und hat recht damit. Denn auch Lola rennt brachte Pop-Stimmung, frische Luft und neues Publikum, einen anderen Stil, der sich vor allem durch das defi­nierte, wogegen er war. Tykwers neuer Film Heaven hat damit aller­dings nichts zu tun. Der definiert sich durch das, was er sein will, und nicht schafft. Als ob Stuckrad-Barre plötzlich Thomas Mann sein wollte, obwohl es noch nicht mal zu Thomas Bernhard langt.

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Ganz anders Dominik Grafs Der Felsen. Ein schwie­riger Film, der das Berliner Publikum spaltet. Ganz klar, dass Graf nicht das Massen­pu­blikum will, und dass er hier gegen das übliche Wohl­fühl­kino ankämpft, weit mehr, als in seinen Fern­seh­ar­beiten. Auch klar, dass manches Bild nur aus der Not geboren wurde. Aber wer außer Graf wagt schon so viel? Manchmal ist dem Felsen zu deutlich anzu­merken, dass er mehr will, dass er gegen alle Flucht ins Nur-Private und Unreife, die im deutschen Film so beliebt ist, ankämpft.

Aber dass er auf der Pres­se­kon­fe­renz dann gefragt wird, warum die Bilder so unschön seien, dass Helmut Karasek seinen einzigen Berlinale-Text ausge­rechnet ihm widmet – was dann auf andere Kollegen so wirkt, als ob »Karasek hier eine alte Rechnung beglei­chen musste«, dass also die Kritik am Film dem Niveau von Der Felsen kaum gerecht wird, hat er nicht verdient.

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»Bei mir zuhause, da gibt es ein Spiel« – gleich zu Beginn thema­ti­siert der Film die Bedin­gungen des Erzählens: Ein Straßen­händler am Strand von Korsika breitet auf seiner Decke verschie­dene Gegen­s­tände aus. Wie man die alle in einer Geschichte verknüpfen könne, sei die Heraus­for­de­rung an den Erzähler, sagt er. Es dauert eine Weile, bis man begreift, wie disparat die Elemente, die Graf hier zusam­men­bringt: Da ist ein Paar, das sich trennt. Der Mann will wieder zu seiner Frau schwan­geren Frau zurück. Kathrin (Karoline Eichhorn) die Geliebte, mit der er einen letzten Urlaub verbringen wollte, der zum Debakel wurde, bleibt noch ein paar Tage da, um Abstand zu gewinnen. Tage, die zu einer Reise ins innere Chaos werden. Deutsche im Urlaub. Manchmal kann man an Karmakars Manila denken, der auch ein fremdes Land benutzte, um ein Heimat­film zu machen und wie in einer Labor­si­tua­tion zu zeigen, dass man Deutsch­land immer mitnimmt, dass man weggehen muss, um anzu­kommen. Im Unter­schied zu Karmakar hat Graf aber mehr Mut, das Chaos, das sich viel­leicht in jedem Leben findet, auch wirklich darzu­stellen.

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Denn Der Felsen ist mitreißend gemacht. Auf Mini-DV gedreht, zeigt der Film wilde, spontane Bilder, versucht auch formal die Dispa­rat­heit zu bewahren, die den Gefühlen dieser Städterin im Dschungel entspricht. Schon am ersten Abend lässt sie sich auf ein kurzes Abenteuer mit zwei Franzosen ein. Zuvor hat sie Malte (Antonio Wanneck) kennen­ge­lernt, einen 17jährigen, der in einem Reso­zia­li­sie­rungs­camp für straf­fäl­lige Jugend­liche lebt. Sie treffen sich wieder, Malte verliebt sich in sie, sie kann diese Gefühle nicht erwidern, und lässt doch Nähe zu – aus momen­taner Schwäche viel­leicht, auch aus Verant­wor­tungs­ge­fühl. Als Malte nach Deutsch­land zurück­ge­bracht werden soll, flieht er aus dem Camp, und gemeinsam mit Maltes jungem Bruder fahren beide in die korsi­schen Berge. Dieser Weg einer sonder­baren Drei­er­gruppe zurück in die Natur, in ein zivi­li­sa­to­ri­sches Vakuum, erinnert an Nicholas Roegs 30 Jahre alten Walkabout mit dem entschei­denden Unter­schied aller­dings, dass hier bereits die Wildnis selbst das Unmög­liche in dieser Liebes­ge­schichte offen legt.
In seinem Stil steht Graf Mike Figgis näher, der zuletzt auch die neuen Digi­tal­ka­meras benutzte, um die Einheit stif­tenden Film­bilder aufzu­sprengen, vom Frag­men­ta­ri­schen zu erzählen, ohne ihm Gewalt anzutun. Aller­dings gibt es hier zwei Erzäh­ler­stimmen aus dem Off, die, darin manchmal Truffauts ähnlich, Zeit raffen, die Handlung beschleu­nigen, Erzähl­fäden zusam­men­fügen, und dadurch mehr Raum schaffen für anderes, Filmi­scheres, für die Ruhe, die im Kino oft fehlt. Distanz schaffen sie aller­dings auch. So hat Der Felsen gerade in seinem Verzicht darauf, alles erklären zu wollen, etwas Objek­tives, einen sozio­lo­gi­schen Blick, nicht auf Milieus, sondern für eine Situation. Mitunter wirkt alles daher wie das erste prak­ti­sche Beispiel jeder Theorie des Erzählens, die Graf vor zwei Jahren in seinem Filmessay München – Geheim­nisse einer Stadt entwi­ckelt hat.

So wie die Stadt darin ein von Gefühlen bedeckter Ort war, zeichnet der Regisseur nun die Karte der Gefühls­land­schaft einer jungen Frau. Und wieder begegnet man einem essay­is­ti­schen Erzählen, das die Flüch­tig­keit des Lebens und Erlebens erfassen will, dem Zufall eine Chance geben. So wird der Text einer nie abge­schickten, nur gedachten Postkarte vorge­lesen, ein Netz der Dinge, der Blicke und der Gefühle ausbreitet, in dem sich die Personen verstri­cken. Die mensch­liche Biogra­phie als »Museum von Gegen­s­tänden.« Ebenso wie die Liebe: »In der Liebe darf man nicht lügen, sonst verliert man sein Leben.«

Mit seltener Inten­sität gelingt Graf ein deutscher Film, der erwachsen ist, der die Zerschlis­sen­heit von Gefühlen ebenso zeigt, wie das »zerstört-sein« (Graf) der Insti­tu­tion Familie – ein Film der dabei nichts hat von dem »mit Weihrauch umgebenen Kino­be­griff«, den Graf ablehnt: »das ist klein­bür­ger­li­cher Krempel, den man auch mit der Oper verbindet.« Statt­dessen führt er uns auf eine Entde­ckungs­reise ins Ich.

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In der Nach­bar­schaft des Festi­val­geländes gibt es eine Kirche, da liegen Hänge­matten für Film­kri­tiker, zur Entspan­nung. Pech nur, dass keiner Zeit hinzu­gehen. Im Pres­se­zen­trum wäre das besser.

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Wieder einmal nicht recht­zeitig am Karten­schalter der Berlinale. Jetzt bleibt nur die Ausweich­vor­stel­lung am Nach­mittag, aber da läuft ja noch... Neulich hatte man erst ein Buch in Händen, dass sich auf ein paar hundert Seiten ausschließ­lich mit dem »Filmende in der Kino­ge­schichte« befasst, und überlegte, ob der Autor wohl alle zitierten Werke trotzdem ganz gesehen, oder die Casetten immer bis zur letzten Vier­tel­stunde vorge­spult hatte. Auf der Berlinale disku­tierte man dann mit einer Kollegin ob es – wenn schon, denn schon – die bessere von zwei schlechten Varianten sei, zu spät in einen Film hinein zu kommen, oder vor dem Ende hinaus­zu­gehen. Ein Argument gab das andere, und plötzlich – hatte der nächste Film schon ange­fangen. Die normative Kraft des Fakti­schen nannte man das früher.

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Hans-Peter heißt der grüngelbe Kana­ri­en­vogel, der ein bisschen Farbe in das Leben von Uwe und Ellen bringt. Zu sagen haben sich die beiden nicht viel, Uwe verbringt den Tag in der Imbiss­bude, Ellen verkauft Parfüm. Eines Tages ist Hans-Peter verschwunden, ausge­flogen als Ellen kurz einmal frische Luft in die »verquarzte Bude« bringen wollte. Da sieht man dann das Paar orien­tie­rungslos auf der Suche im riesigen Innenhof ihres Wohnblock, verloren und einsam. Kurz darauf beginnt Ellen eine Liebes­af­faire mit Chris, einem Radio­mo­de­rator, der eigent­lich mit Katrin verhei­ratet ist – beide Paare sind befreundet. Zu Beginn hat man die vier bei einem Diaabend gesehen, Urlaubs­bilder wurden da gezeigt, die gleich­zeitig entlar­vend sind für die alltäg­li­chen Mief eines deutschen Klein­bür­ger­da­seins, wie sie doch Mitgefühl erregen in ihrer sprach­losen Depres­sion und der Sehnsucht nach mehr.

Ein merk­wür­diger Sog geht aus von Andreas Dresens HALBE TREPPE, der gestern im Wett­be­werb der Berlinale gezeigt wurde, als dritter der vier deutschen Beiträge. Zwei Paare und eine Affaire, alltäg­lich viel­leicht, aber damit genau auf der Fährte jener Realität des Lebens, nicht nur des deutschen, die man im heimi­schen Kino so oft vermisst. Mit 80.000 Mark Preis­gel­dern und weiteren Refe­renz­mit­teln haben Dresen und sein Produzent Peter Rommel ihren Traum von einem Film mit ganz kleinem Team und ohne lästige Einreden anderer verwirk­licht. Ein paar Wochen lang drehte man in Frankfurt/Oder, mit Digi­tal­ka­mera und weit­ge­hend unbe­kannten Schau­spie­lern in impro­vi­sierter, in manchem an den Dogma-Stil erin­nernder Machart. Heraus­ge­kommen ist trotzdem ein Film, der von der ersten Minute an weiß, was er will. Distan­ziert führt er seine Figuren ein, dabei fast über­vor­sichtig jede Form von Voyeu­rismus und Bloßstel­lung vermei­dend. Glaub­wür­dig­keit ist oberstes Ziel, und so entsteht auf leichte Weise ein Gefühl für die Trau­rig­keit des Verlas­sen­seins. Mögen Halbe Treppe auch der letzte Wagemut und hohe Anspruch fehlen, mit dem der zweite und nach wie vor beste deutsche Wett­be­werbs­film, Dominik Grafs Der Felsen Publikum und Kritiker in Berlin spaltete, so handelt es sich doch auch hier um einen preis­wür­digen deutschen Wett­be­werbs­bei­trag, so verbindet beide Filme doch mehr, als sie trennt: Auch Dresen will seine Figuren objek­ti­vieren, das Reprä­sen­ta­tive in ihnen heraus­ar­beiten. Dazu gebraucht er Mittel des Doku­men­tar­films, die für – manchmal fast zuviel – Distanz zwischen Zuschauer und Story sorgen. Vor allem aber bieten beide Filme einen je indi­vi­du­ellen Gegen­ent­wurf zu jenem kunst­hand­werk­li­chen Reprä­sen­ta­ti­ons­kino, das im Wett­be­werb auch nach Moritz de Hadelns Abgang noch immer ab und an zu finden ist.

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Kísér­tések vom Ungarn Zoltan Kamondi ist so ein Fall. Einge­laden wohl nur, um im Wett­be­werb auch Osteuropa nicht zu vergessen, reiht sich der Film in die Reihe der Fami­li­en­st­orys ein, die zumindest die erste Hälfte des Wett­be­werbs domi­nieren. Ungarn in der Post­wen­de­zeit: Marci (Marcell Miklos) ist ein Mutter­söhn­chen und lebt immer noch daheim. Seine Freundin Elvira ist hübsch, aber langweilt ein bisschen. So passiert es, dass sich Marci, ein begabter Compu­ter­freak, der davon lebt, dass er sich in anderer Leute Bank­konten hinein­hackt, in das Zigeu­ner­mäd­chen Juli verliebt, und sie ihren Eltern für einen Sack Zwiebeln abkauft. Weil Kamondi sich nie von seinen Klischees aus Tradition (= Zigeuner) und kalter Kapi­ta­lis­mus­mo­der­nität löst, kommt dabei nur absehbare Lange­weile heraus. Auch stilis­tisch weicht Kísér­tések in seinem ständigen unmo­ti­vierten Wechsel zwischen Schwarz­weiß und Farb­bil­dern auf gekün­s­telte Gesten aus, wo etwas gezeigt werden müsste.

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8 femmes – Francois Ozons neuer Film hat nicht nur den lako­nischsten, tref­fendsten Titel aller Filme die diesmal auf der Berlinale laufen, er hat auch die groß­ar­tigste Besetzung: Catherine Deneuve, Isabelle Huppert, Fanny Ardant, Emma­nu­elle Béart, Virginie Ledoyen, daneben Danielle Darrieux, Firmine Richard und Ludovine Seigner. Allein dieser sensa­tio­nelle Aufmarsch weib­li­cher Super­stars macht 8 femmes zu einem Ereignis. Zu sehen ist eine skurrile, hoch­amü­sante Mischung aus Komödie und Krimi­nals­tück, garniert mit Musical-artigen Einlagen, die elegant mit Pop- und Schla­ger­musik der 50er bis 70er Jahre spielen. Man muss erlebt haben, wie Ozon – der sich zuletzt mit einer Film­fas­sung des Fass­binder-Stücks Tropfen auf heiße Steine und dem faszi­nie­renden Autoren­film Unter dem Sand in die erste fran­zö­si­sche Regie­garde kata­pul­tierte – die Deneuve zusammen mit den jungen Ledoyen und Seigner zu Rock'n Roll singen und tanzen oder Huppert als alte Jungfer hyste­risch sein lässt, um zu verstehen, wie gut das funk­tio­niert. Aber nach 10 Minuten hat man es kapiert, und beginnt, sich zu lang­weilen. Das ist alles sehr sehr onkelhaft; auch sehr künstlich, und letztlich gar nicht erotisch, weil Ozon mit seinen Darstel­le­rinnen in dieser Hinsicht offen­sicht­lich gar nichts anfangen kann. Mit seinem kontrol­liert über­trie­benem Spiel, running gags und vorher­seh­baren Verwir­rungen bleibt 8 femmes genialer Boulevard. Kein cine­as­ti­sches Groß­ereignis, aber immerhin ein origi­nelles, klug-anspie­lungs­rei­ches Unter­hal­tungs­stück, das kaum mit einem Goldenen Bären, aber ziemlich sicher mit manchem Zusatz­preis rechnen darf.

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Große Fami­li­en­dramen, kleine Tragödien, komö­di­an­tisch-distan­zierte oder enga­gierte Ausein­an­der­set­zungen mit der Vergan­gen­heit – thema­tisch ist das bisherige Wett­be­werbs­pro­gramm so verschieden, wie die Länder, aus denen es stammt. Nachdem Tom Tykwers Eröffnung mit Heaven sehr unter­schied­liche Aufnahme fand, und der zu Herzen gehende Happy Times des Chinesen Zhang Yimou leider außer Konkur­renz lief, gab es wie alle Jahre mit Annette K. Olesens Små ulykker einen dänischen Film, diesmal zwar nicht im wacke­ligen Dogma-Stil, aber wieder ein gefühl­s­in­ten­sives Fami­li­en­drama: Gleich zu Beginn stirbt die Mutter, die drei Kinder und der Onkel sind in Ehekrisen verstrickt, oder lesbisch, oder haben Ernäh­rungs­pro­bleme, und der herz­kranke Vater steht unter Verdacht, seine Töchter miss­braucht zu haben. Am Ende, nach notwen­diger Katharsis löst sich alles in – vorläu­figes – Wohl­ge­fallen auf. Doch die über­la­dene Konstel­la­tion hat nur den Sinn, wie in einem Ibsen-Drama die gesamte Condition Humaine ins Kleine zu konden­sieren – ein gelun­genes Beispiel intel­li­genten europäi­schen Kinos.

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Der bisherige Favorit der meisten Besucher stammt von dem Schweizer Marc Forster. Der Titel Monster’s Ball bezieht sich auf die letzte Nacht eines zum Tode Verur­teilten vor seiner Hinrich­tung. Doch nur zu Beginn ist der Film auch eine Anklage der Todes­strafe. Vielmehr geht es um den von Billy Bob Thornton gespielten Henker, einen hoch­ge­störten Rassisten aus den US-Südstaaten, der Prototyp des auto­ri­tären Charak­ters. Mutter und Ehefrau endeten durch Selbst­mord. Als sich auch sein Sohn umbringt, verändert er sich – nicht schlag­artig, sondern langsam und sanft. Plötzlich entwi­ckelt er nie gekannte Sensi­biltät und Gefühle, die schließ­lich in die Liebe zu einer schwarzen Frau (Halle Berry) münden. Monster’s Ball ist ein stiller Film, der zugleich eine seltene Sogkraft entfaltet. Er besticht nicht nur durch groß­ar­tige Schau­spieler, sondern auch durch wunder­bare, sanft-geschmei­dige Bilder, durch das Takt­ge­fühl der Regie, die die Mitte zwischen Humor und Melodram hält, den Figuren naherückt, ohne sie preis­zu­geben, und in alldem an Mendes American Beauty und vor allem an Andersons Magnolia erinnert – der vor zwei Jahren sehr zu recht den Goldenen Bären gewann.

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In der Farb­psy­cho­logie steht Rot glei­cher­maßen für die Liebe, wie für Aggres­sion. Rot, die Farbe der revo­lu­ti­onären Freiheit dominiert nun auch die ersten Tage der Berlinale. Dies nicht allein, weil Festival- und Spon­so­ren­logo sich bis in feinere Farb­nu­ancen ähneln, oder weil endlich alle Teppiche vor den Kinos ausge­rollt sind um der zahl­rei­chen Stars zu harren, die ihr Kommen für die nächsten Tage angekün­digt haben.

An den Auslagen im Pres­se­be­reich leuchtet einem das Themen­heft einer Film­zeit­schrift entgegen, das dieser Farbe gewidmet ist. Auf ihm ist Irène Jacob aus Krysztof Kies­low­skis Film ROT zu sehen – jenem Film seiner »Drei Farben«-Trilogie, die der Regisseur der Brüder­lich­keit gewidmet hatte. Und ganz brüder­lich wird jeder Film­kri­tiker, wenn er sich denn irgend­wann durch die Warte­schlangen der Kollegen durch­gekämpft und seine Akkre­di­tie­rung erhalten hat, dabei sogar Michael Naumann überholen konnte, der hier vor zwei Jahren noch als Kultur­staats­mi­nister selbst Gastgeber war, am Ende mit einer roten Berlinale-Tasche beglückt.

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So hat der neue Berlinale-Chef Dieter Kosslick auch diese Hürde gemeis­tert. »Sind alles Darstel­lungs­fragen« lautet eine seiner häufi­geren Formu­lie­rungen, und man möchte gar nicht wissen, was wohl andere Farb­ge­bung bei spöt­ti­schen Kollegen für Asso­zia­tionen ausgelöst hätten: Lila, der letzte Versuch, Grün ist die Hoffnung, Trau­er­farbe schwarz oder roman­tisch-unbe­stimmtes Blau – das ist Rot schon die viel glück­li­chere Wahl, und zudem ein Stück Klarheit im Vergleich zu den etwas unbe­stimmt-schmut­zigen Misch­tönen auf den Plakaten.

Das roteste Rot sah man aller­dings erwar­tungs­gemäß im Kino, im bereits letzte Woche erwähnten Thome-Film Rote Sonne: Der traf sich perfekt mit einem Festival, das den neuen Weg, den es beharr­lich und gelassen beschreiten will, zunächst einmal über eine neue Stimmung zu vermit­teln sucht, dass sich – wie Thome – im Zweifel mehr der Ironie verpflichtet fühlt, als dem Ernst, das auch künst­le­risch spielt, anstatt in Senti­men­ta­lität zu baden. Rot eben, nicht Schwarz.

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»Man denkt mit den Köpfen anderer. Und die Gefährten denken im eigenen Kopf« – Alexander Kluge war spürbar gerührt. »Irgend­wann erwischt es einen« fügte er sogleich verschmitzt-ironisch, aufkom­mende Senti­men­ta­lität brechend, hinzu. Jetzt war eben er dran. Erst am Donnerstag wird der Regisseur 70 Jahre alt, doch der Geburts­tags­reigen begann auf der Berlinale schon am Sonntag. Da zeigte das Panorama Angelika Wittlichs liebevoll-intel­li­gente Doku­men­ta­tion zu Kluges Lebens­werk (am 16.2. auch im Dritten Programm des BR zu sehen). Diese erzählte nicht nur viel über Kluge selbst, sie zeigte auch viele Freunde, und sogar der sonst mehr als kame­ra­scheue Jürgen Habermas hatte sich inter­viewen lassen.

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Einige Gefährten waren nicht nur auf der Leinwand zu sehen. Hannelore Hoger, Edgar Reitz, Christoph Schlin­gen­sief waren gekommen, um wohl auch ein bisschen Soli­da­rität mit dem Solitär des deutschen Kinos zu bekunden. Zugleich ein bezeich­nendes Bild: Da saßen hier nachher drei der wich­tigsten deutschen Regis­seure der letzten Jahr­zehnte zusammen, ziemlich genau 40 Jahre nachdem das »Ober­hau­sener Manifest« Papas Kino endgültig für tot erklärte. Jetzt sind sie selbst, gegen ihren Willen, längst für das deutsche Kino gestorben.

Der jüngste von ihnen macht Theater, Kluge produ­ziert seine TV-Programme und schreibt Bücher, und auch Edgar Reitz, der das letzte Jahrzehnt vor allem damit verbrachte, sein Projekt »Dritte Heimat« irgendwie doch noch durch die Förder­gre­mien zu bekommen, wird hier zwar Kino­taug­li­ches herstellen, sehen wird man es einmal mehr – wie zuvor »Heimat« und »Die Zweite Heimat« – doch nur auf der Flim­mer­kiste. Anderswo wäre es unvor­stellbar, dass einige der besten Regis­seure eines Landes faktisch an ihrer Arbeit gehindert werden, während Loach, Rohmer, Chabrol Saura in ihrer Heimat einfach weiter­ma­chen können.

Sympto­ma­tisch auch die distan­zierten Aufnahme, die Dominik Grafs Wett­be­werbs­film bei manchen Kollegen fand, während nette Boule­vard­komö­dien wie Ozons 8 femmes als cine­as­ti­sches Groß­ereignis gefeiert werden. Nur wenige sehen offenbar, wie produktiv die Sper­rig­keit und der Mut Graf sein können, der dem Kluges durchaus verwandt ist. »Der Moment ist gut«, sagte dieser, »für Teamwork, für Filme zwischen den Gene­ra­tionen.« Aber wer im deutschen Kino, denkt heute mit Kluges Kopf?

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Auch Lasse Hall­ströms The Shipping News, die Verfil­mung von E.Annie Proulx' Roman, bot nur das Beispiel eines Kinos, gegen das Regis­seure wie Dresen und Graf anfilmen. Einge­leitet mit der Erin­ne­rung der Haupt­figur Quoyle an den Tag, als ihn sein Vater ins Wasser warf, um ihn zum Schwimmen zu zwingen (Achtung: Trauma!) wird aus dem Kopf des fast ertrin­kenden Knaben in einer manie­rierten Rück­blende das Gesicht Kevin Spaceys. Ähnlich geht es weiter. Denn Quoyle ist ein lieber Narr, der seine Frau liebt, die ihn ausnutzt. Eines Tages ist sie tot, und er muss allein für die gemein­same Tochter sorgen – was er natürlich ohne seine Tante (Dench) und eine neue Frau (Julianne Moore) nicht schafft. Auch hier erlebt man gute Menschen in gar schröck­li­chen [SIC!] Fami­li­en­ver­hält­nissen. Irgendwie muss man seine Wurzeln suchen, böse Geister abwehren, allerlei dunkle Geheim­nisse enthüllen und dabei nett sein. »Es gibt noch viel Myste­riöse in der Welt« lautet die Moral, und wie zur Bekräf­ti­gung ist alles erfüllt mit Skur­ri­li­täten wie kopflose Leichen im Meer, Boote die verbrennen und vielerlei Seemanns­garn. Gäbe es hier nicht noch Schau­spieler wie Kevin Spacey und Judi Dench, die mit ihrem intel­li­genten Spiel etwas Erleich­te­rung bringen, würde der Druck auf die Tränen­drüsen schier uner­träg­lich. Dem Publikum aber gefällt das süße Kitsch­hand­werk Marke Hallström (Chocolat) seit jeher, im Wett­be­werb hat es nur als Star­ve­hikel etwas zu suchen.

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Aber glück­li­cher­weise heißt Kino auf der Berlinale vor allem Vielfalt. Und darum freut man sich über Filme, die wie Halbe Treppe die Dinge einmal etwas anders machen wollen, als es immer alle übrigen tun, über das Bemühen um einen subjek­tiven persön­li­chen Film, mit dem hier deutsche Regis­seure sogar an die in der Retro­spek­tive gewür­digte Tradition des Autoren­films der 60er Jahre anschließen. Ganz zum Schluß hat Uwe in Halbe Treppe zwar seine Frau endgültig verloren, aber Hans-Peter flattert fröhlich piepend wieder zum Fenster herein. Als wäre nichts geschehen.

PS:
Ach, ja, die Favoriten: Graf wird es nicht werden, genauso weinig wie die Kriti­ker­lieb­ling 8 femmes. Ziemlich gut war Monster’s Bal von Marc Forster. Daran kam bisher nichts heran. Dresen, ja wenn’s ein deutscher Film werden soll, dann der. Sonst wird er immerhin irgend­welche andere Preise bekommen. Und die Dänen soll man nie vergessen.