52. Berlinale 2002
»Die Lebenslügen von Männern sind mir viel zu gut bekannt« |
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Dominik Graf |
Es gibt Momente, da muss man sein ganzes Leben ändern. Katrin (Karoline Eichhorn) ist soweit. Eine normale Frau, bürgerlich, eher angepasst vielleicht, macht auf Korsika mit ihrem Geliebten Urlaub. Es sollte sowieso der letzte sein, doch schon früher kippt die Stimmung, und er reist früher ab... Auf sich selbst zurückgeworfen, erlebt Katrin eine eigenartige, trotzige Odyssee über die Insel und vor allem durch ihre eigenen Gefühle.
Dominik Grafs Der Felsen der am 10. Februar im Berlinale-Wettbewerb Premiere hat, erzählt eine 'kleine' Geschichte, in der doch alles drinsteckt. Ein Film ohne Vorbild, wild und mitreißend, manchmal befremdend, und sicher der ungewöhnlichste und am stärksten herausfordernde aller vier deutschen Beiträgen im Wettbewerb. Für Graf selbst, der 1952 geboren wurde, und nach längeren Jahren als Genreregisseur (Die Katze, Die Sieger) im vergangenen Jahrzehnt fast nur noch Fernsehen machte, und im Kino allein mit zwei dokumentarischen Essays (Das Wispern im Berg der Dinge, München – Geheimnisse einer
Stadt) auch auf der Berlinale zu sehen war, ist Der Felsen ein Befreiungsschlag.
Mit Dominik Graf sprach Rüdiger Suchsland.
artechock: Der Film München – Geheimnisse einer Stadt entwickelt so etwas wie eine Theorie des Erzählens, dessen praktischem Beispiel, könnte man sagen wir nun in Der Felsen begegnen...
Dominik Graf: (lacht) Sagen wir mal so: Seit dem München-Film interessiert mich deutlicher noch als vorher diese Verbindung von Topographie, von Orten mit Gefühlen – ob jetzt als Erinnerung oder als Gegenwart. Wenn man einen Film über die eigene Stadt macht, dann hat das natürlich viel mit Erinnerung zu tun. Hier ist Korsika aber ganz und gar Gegenwart, ein völlig neuer Ort, auch für die Hauptfigur. Schon am Anfang, wenn Katrin ins Museum geht, und dann dieser großen Landkarte Korsikas gegenübersteht, sollte man das Gefühl haben, als würde dieser Karte ein andere, innere Karte entsprechen. Ein unsichtbares Netz von Gefühlen der Personen, das sich über die Insel legen wird. Dazu kommt dann noch das Netz, das die Wege der Dinge in der Erzählung über die „Karte“ spannen. Orte und konkrete Gegenstände liefern in diesem Film also einen Ersatz für Gefühle – wie in animistischen Religionen: ein Ring, ein Flugticket, eine Pistole; ein Dorf, ein Panoramablick, vielleicht ein Klang... – sie sind alle untrennbar mit Gefühlen verbunden.
artechock: Das hat ja auch eine Katalysatorfunktion, nicht? Das Sehen des Dings lässt ein Gefühl aufscheinen. Bei Proust gibt es das Gebäck, durch das er anfängt, sich zu erinnern – das ist hier ähnlich. Nur nicht auf der Suche nach der Vergangenheit, sondern in die Gegenwart gerichtet...
Graf: Ja. Die menschliche Biographie setzt sich ja oft am deutlichsten aus einem fast willkürlichen Museum von Gegenständen und Fotografien zusammen.
artechock: Dieses Zusammenfügen eines Lebens und eines Gefühlszustandes, einer Gegenwart aus Fragmenten, aus kleinen Erfahrungen, aus Dingen, auch aus den Zufällen, die einem widerfahren – das wäre eine Kontinuität beider Filme. Eine weitere: Der „Roman der Blicke“, wie es in München heißt. Die Idee des entscheidenden Zufalls: Es gibt Blicke die sich treffen, Sekunden später hätten sie sich nicht berührt. Oder eine Weggabelung: Im Film heißt es einmal: »Wenn sie jetzt den anderen Weg nehmen würde, dann wäre hier die Geschichte zwischen ihnen zuende.« Es gibt auch den Blick von der Burg, wo Ihre Hauptfigur das Auto ihres Ex-Lovers wiedererkennt...
Graf: Meine Hauptfigur macht im Grunde eine Entdeckungsreise durch die eigenen Gefühle. Wenn der Film einsetzt, glaubt sie, sie hätte eine klare Haltung zu sich selbst und zum Leben, nämlich eine zutiefst enttäuschte Sehnsucht nach ihrem Liebhaber. Diese Liebe geht ihrem Ende entgegen. Am Schluß der Geschichte versteht sie dann aber, dass sie schon lange vor dem Zeitpunkt, an dem sie glaubte, am tiefsten Punkt angelangt zu sein – dass
sie schon lange zuvor eigentlich das Ende dieser Liebesgeschichte in sich getragen hatte. Vielleicht hat sie sogar tief unten in sich mit ihm viel früher Schluß gemacht als er mit ihr, wer weiss? Denn er hat ja offensichtlich mit seinen Gefühlen zu ihr niemals so wirklich gebrochen. Sonst würde er nicht, nach seiner eigenartigen Odyssee über die Insel – die ja nicht erzählt wird, nur Ihre Reise wird erzählt – wieder zu ihr zurückkommen wollen. Wer weiß, was er dann noch mit
ihr hätte sprechen wollen...?
Das ist eine Reise, an deren Ende ihre Erkenntnis über das eigene Gefühl steht. Eine Erkenntnis, die sie scheinbar auch schon vorher hätte haben können. Aber erst der Umweg über die Begegenung mit diesem Jungen ermöglicht der Frau diese Erkenntnis. Sie ist zunächst nur geprägt von einem: »Ich will nicht loslassen. Ich will auch nicht diejenige sein, die hier verlassen wird. Wenn jemand hier jemanden verlässt, dann gefälligst ich ihn... usw.« All diese
Gedanken haben ihr sozusagen die Sicht vernebelt auf das, was längst zuvor in ihren Gefühlen geschehen war.
artechock: Und um zu einer Klarheit zu kommen, braucht sie Distanz, muss raus aus der Zivilisation, in die wilden Berge... Sie legt ihre bürgerliche Existenz ab. Mich hat dieses merkwürdige Paar und der Gang in die Wildnis, den Gefühlsdschungel in diesem Fall auch an den Film Walkabout von Nicholas Roeg erinnert...
Graf: .....wo die Natur zu einem Symbol wird, ja. Die Möglichkeit, dass der Junge und die Frau da oben in dieser Wildnis zusammenfinden können, ist theoretisch ja größer, als unten in der Hafenstadt, wo beide in ihren sozialen Bezügen gefangen sind. Ich wollte dort oben auf den Bergen aber eher eine Art Vakuum erreichen. Sie steht vor einem Endpunkt, sie fühlt gar nichts mehr- und dies in größerer Klarheit als alles andere zuvor. In Walkabout besteht die Chance der Beziehung nur solange die Figuren in der Wildnis sind – also genau das Gegenteil.
artechock: Sie setzen oft einen Erzähler aus dem Off ein. In diesem Fall zwei Stimmen, einen männlichen und eine Frau. Was hat das für einen Grund? In zeitgenössischen Filmen kommt das relativ selten vor...
Graf: Da täuscht man sich oft. In den letzten 10 Jahren sind die Erzähler sogar auch wieder im Mainstream-Film oft zu finden. Zumindest am Anfang, um in die Geschichte hineinzuführen. Und am Ende, wenn man sie wieder braucht, um Klarheit zu schaffen.
Hier soll die weibliche Erzählerin die Möglichkeiten des Schicksalsgewebes aufzeigen. Aber sehr kalt und distanziert. Sie legt eine anonyme Schicht sprachlich über die Geschichte drüber.
Die – was erzählt? Gefühle manchmal. Eher Möglichkeiten. Wege. Keine Ängste und keine Träume. Und die männliche Stimme ist in erster Linie Übersetzer für das Französisch.
artechock: Es ist essayistisches Erzählen, ein Erzählen, dass auch eine Distanz und eine Reflexion mit hereinnimmt, wo Sie dem Zuschauer auch einen Teil der Arbeit abnehmen. Was Vor- und Nachteile hat...
Graf: Ist da nicht doch noch einen deutlicher Zwischenraum spürbar zwischen dem, was -und wie es- von der Erzählerin gesagt wird, und dem, was man sieht? Genau in diesen Zwischenraum soll die Phantasie des Zuschauers rein. Es hat ja auch dann wieder seinen Grund, dass andere Momente völlig unkommentiert bleiben.
artechock: Diese Offenheiten gibt es schon. In anderen Fällen aber beschleunigt der Erzähler auch. Gleichzeitig führt er den Blick des Zuschauers zu etwas hin...
Graf: Ja. Auf etwas, das zwar mit dem, was als nächstes passiert, überhaupt nichts zu tun hat, aber was einem trotzdem das Gefühl gibt: Was kommt da noch? Wenn ich Geschichten schreiben würde, würde ich wahrscheinlich ähnlich schreiben: also versuchen, alles zu registrieren, Abwege, Möglichkeiten. Aber ganz wenig Gefühle. Gefühle im seltensten Fall. Stimmungen. Und eigentlich im wesentlichen Ereignisse, Wege. Keine Reflexionen.
artechock: Es liegt ja wohl auch an der relativ komplexen Struktur aus verschiedenen Geschichten, die immer wieder zusammengeführt werden müssen.
Es gibt einmal die Frau, die Hauptfigur, dann die beiden Jungen. Einerseits wird die Geschichte eines Subjekts erzählt, dessen, was ihr passiert. Andererseits geht es um die Geschichte einer Konstellation. Was steht im Vordergrund? Hat die Konstellation, hat der Ort Korsika in erster Linie den Zweck, als Katalysator zu wirken, also bei dieser Hauptfigur etwas auszulösen, wovon dann erzählt wird. Oder ist die Situation mehr, als Mittel zum Zweck?
Graf: Das sind zwei beabsichtigte Konkurrenten. Ich glaube, dass wir versucht haben, in diesem Widerstreit das Gleichgewicht zu halten. Das eine ist das Erzählen einer Figur, und das an ihr scheinbar Drankleben. Da gibt es Momente, wo die Szenen ihr möglichst viel Freiheit lassen, in denen der Erzähler völlig zurücktritt. Auf der anderen Seite gibt es aber Momente, da wird diese Freiheit rigoros beschnitten. Als würde ein determiniertes Schicksal über ihr schweben und sagen: Du hast sowieso keine Chance. Ohne dass Du irgendeinen Einfluß darauf hast, weben sich die Dinge um Dich herum in eine andere Richtung als Du sie geplant hast. Du kannst nur an bestimmten Punkten innehalten, einen Augenblick lang eine Explosion von Gefühlen erleben.
artechock: Die junge Frau im Zentrum interessiert ja nicht in erster Linie psychologisch. Sondern sie scheint etwas Generelles zu repräsentieren. Ebenso die Struktur der Film-Erzählung...
Graf: Ich habe den Eindruck, dass im Moment in vielen Köpfen Frauenfiguren herumspuken, die eine größere Form von Selbstbestimmung behaupten, als diese Frau es in meinem Film tut. Sie zieht sich doch sehr zurück, wirkt eher passiv, verschwindet in ihre große Verletztheit. Sie fühlt sich überhaupt nicht als Herrin ihres Lebens, weder beruflich, noch privat.
Das gegenwärtige Frauenbild scheint aber doch vielfach zu fordern, dass
Frauen zumindest in punkto Gefühl grundsätzlich besser wissen als Männer, wo es lang geht. Diese Figur hier lässt dagegen viel mit sich geschehen und der Eindruck, den sie dabei äußerlich macht, ist dennoch trotzig und tough als bestünde sie geradezu auf ihrer Ziellosigkeit,
In dieser Mischung aus Schwäche und Stärke ähnelt sie vielleicht auch der Hauptfigur in Deine besten Jahre. So empfinden wir – mein Co-Autor Martin Busch und ich –
Frauenfiguren zur Zeit, glaube ich. Die Zeit des Opfer-Seins ist vorbei, aber es ist überhaupt nicht klar, wo es hingeht.
artechock: Aber sie begibt sich dann wieder in eine Situation, in der sie wieder zum Opfer werden kann... Wo ist der Unterschied zu Männern, was ist der Grund, dass die Hauptfiguren Ihrer letzten Filme dann Frauen sind?
Graf: Ich glaube, dass Frauen in der Gesellschaft, in der ich lebe, an einem vollkommenen anderen Punkt sind, als Männer. In ihrem Selbstverständnis, in ihren Wünschen, die sich alle gegenseitig überschneiden. Deshalb gibt es auch bei mir so ein starkes Interesse, Frauen zu beobachten und den Weg ihrer Wünsche sowie auch ihrer Lebenslügen nachzuzeichnen. Die Lebenslügen von Männern sind mir viel zu gut bekannt. Während Frauen eher dazu tendieren, ein fast autarkes System zu bilden und sich dabei völlig zu überfordern, scheinen Männer zur Zeit etwas an den Rand der Rollensysteme gedrängt und gehen in altbekannter Weise nur den Konflikten aus dem Weg.
artechock: Die Personen des Films entsprechen sehr archetypischen Strukturen. Sie ist Mutter und Geliebte, er ein Vatermörder. Und vor allem das zeitlose Thema »Familie«...
Graf: Wirklich wichtig war das Thema des Mutterseins. Sie schiebt es trotzig von sich weg, wird aber am Ende darauf zurückgeführt. Als ich begann, Filme zu machen, herrschte die Übereinkunft, dass Familie ein veraltetes Lebensmodell ist. Heute ist Familie – als Interessensgemeinschaft wie als Emotionsgemeinschaft – eine zerschlissene, angegriffene Lebensform und gleichzeitig wieder unheimlich wichtig. Alles strebt dahin: man hat das Gefühl, Familie ist wie so ein Fluchtpunkt in der Unendlichkeit. Auch in der Unendlichkeit einer Illusion. Eigentlich erstaunlich.
artechock: Aber es sind gestörte Strukturen...
Graf: Natürlich. (Lacht), Gestört ist gut. Der Junge hat schließlich seinen Vater umgebracht. Aber im Ernst: Ich glaube, dass das Verhältnis zur Familie an sich zerstört ist, nicht nur gestört. Alles was davon übrig bleibt, sind immerhin Rest-Symbiosen, Elternliebe vor allem.
artechock: Wenn Geschichte überhaupt der Wandel von Fremd- zu Eigenverantwortung, von Natur zu Kultur ist, dann passiert das eben auch mit der Familie: Von der naturgegebenen wird sie zur Wahl-Verwandtschaft...
Graf: Aber wie geht das dann weiter? An den Begriff Familie schließt sich die Vorstellung von »Zuhause« an. Und da versteht man vielleicht, warum so eine Geschichte nicht Zuhause spielen kann. Da gibt es zwar einen Wunsch bei wirklich allen Figuren nach einem neuen Zuhause, aber er ist – und bleibt- einstweilen unerfüllt.
artechock: Einerseits spielt Der Felsen gar nicht in Deutschland, dann aber natürlich doch: Deutsche im Urlaub, wie in Karmakers Manila, Caroline Links Nirgendwo in Afrika – die Fremde bringt es heraus...
Graf: Ja, Deutsche im Urlaub unter sich. Das ist meine Version von Ballermann (Lacht). Was passiert denn, wenn man Touristen irgendwo in eine emotionale Wüste wirft? (Alexanderplatz raus)Man bekommt die Wahrheit dort wie in einem überscharfen Spiegel noch deutlicher geliefert. Paul Bowles hat ja vielleicht nicht umsonst die moderne westliche Ehe in „Der Himmel über der Wüste“ auf den Punkt gebracht.
artechock: Im deutschen Kino stellt man sich Glück ja auch gerne als Flucht vor – mit einem Koffer voller Geld und dem geliebten Menschen abhauen...
Graf: Ja,ja, ich weiß, bloß weg hier. Dieser 80er-Jahre-Mythos, der ja auch überhaupt nicht stimmt, nie stimmte. Denn dieses Deutschland ist zwar sehr desolat aber dafür überall. Und vor allem haben wir es in uns selbst. Ein anderes Zuhause gibt es nicht mehr.
artechock: Wir wollen das aber auch nicht. Wir wollen ja nicht heimkommen, weil Zuhause auch der Horror ist. Gleichzeitig will man es natürlich. Man will dieses Glück, aber wenn man dann da ist, muss man sofort wieder weg, weil man es nicht aushält.
Graf: Jaja. Warum fährt denn auch Ralf Herforth nicht nach Hause? Natürlich weil er sich drückt. Weil er weiß, was dort dann auf ihn zukommt. Ich glaube, dass ich zu einer Generation gehöre von bourgeoisen Nachkriegskindern, von denen viele gar nicht so viel Verantwortungsgefühl gelernt haben, dass sie in der Lage sind, mit ernsten Lebenssituationen wirklich umzugehen.
Nun muss man natürlich sagen, dass die Eltern-Generation vor
uns auch wieder fast zu erwachsen gewesen war. In kürzester Zeit hatten die ja das Schlimmstmögliche über die Welt gelernt...
artechock: Das wollen wir ja auch gar nicht lernen...
Graf: Nein. Aber aus dieser Erfahrung kam natürlich auch der ganze europäische Nachkriegsfilm, der Neorealismus vor allem – aus diesen Irrsinnserfahrungen des Zweiten Weltkriegs und der Zeit danach. Diesen Vorsprung an Lebenserfahrung, den der hochgelobte europäische Autorenfilm hatte, den können wir in unserem deutschen Kino jetzt nicht per Dekret und schon gar nicht per Geld wieder einführen. Wir sind wahrscheinlich eine relativ infantile, verantwortungslose Generation von in weichen Windeln aufgewachsenen Westdeutschen, die nicht genau wissen, was eigentlich ihr Thema ist. Dabei ist das, was wir gerade besprochen haben, sicher eines davon: Das Marode-werden von Zuhause und Identität und Familie. Ich lande ja sogar in meinen Thrillern immer wieder bei diesen Themen. Offenbar habe ich den Eindruck, dazu etwas sagen zu können? Und zwar, dass ich nichts dazu sagen kann....dass ich nicht die geringste Antwort habe. Keine Moral, keine Ideologie dazu, nichts.
artechock: Man will ja keine Filme sehen, die predigen – was leider manche jener hochgelobten Nachkriegsfilme tun.
Graf: Die guten Filme haben natürlich auch nie gepredigt. Aber es bleibt uns sicher eine andere grundsätzliche, extrem wichtige Frage, und zwar dass das, was der Kapitalismus predigt – dass nämlich jeder ein extremes Anrecht auf extremes persönliches Glück mit allem hat, was dazugehört- dass diese Kriterien uns in unseren privatesten Wünschen und Sehnsüchten immer mehr pervertieren. In Der Felsen werden diese Wünsche nach Glück ja nicht zur Debatte gestellt. Wir sehen nur eine Frau, die sich in ihre Glücksansprüche verheddert hat, die schwer beleidigt und sehr verletzt ist und die lange nicht merkt, dass sie dabei ist, das nächste Unglück auszulösen. Und wir sehen andere Glücksansprüche.....
artechock: Das Problem ist sicher, dass dieser Anspruch sehr hoch ist: Glück zu haben und möglichst immer und überall. Aber den Anspruch selbst finde ich richtig. Würden Sie den wirklich infrage stellen? Würden Sie sagen: Wir haben eigentlich kein Anrecht auf Glück?
Graf: Natürlich haben wir das, aber der Kapitalismus predigt einen völlig debilen Begriff vom einzelnen Individuum, das seinen Glücksanspruch mit Zähnen und Klauen verwirklicht, nicht nur materiell. Auch in der Liebe werden die Gesetze der freien Marktwirtschaft mit allen Mitteln realisiert. Das war zwar immer schon so, aber die sozialen Hemmschwellen sind abgebaut. »Weil Sie es sich wert sind« wie es in der Werbung heisst.
artechock: Der Felsen ist Ihre erste Kinoarbeit nach Die Sieger. Sie haben ja öffentlich mehrfach gesagt, dass Sie lieber fürs Fernsehen arbeiten, weil man da freier sei. Bleibt es dabei?
Graf: Da ich die meisten Filme der Filmgeschichte auf dem Fernseher gesehen habe, kann ich mit dem ganzen Unterschied TV/Kino wenig anfangen. Solange ich mich an die Genre-Filme halte, habe ich es im Fernsehen leichter, denn im deutschen Kino gibt es keine Genrefilme mehr. Das Wegbrechen der deutschen Genres – Thriller, Fantasyfilm etc.- ist natürlich fatal, denn das Publikum sieht solche Filme eigentlich überall in der Welt
gerne.
Aber Der Felsen ist ja nun auch kein Genre. Und ich registriere seit ein, zwei Jahren schon, dass das Kino im unteren Budgetbereich hier sehr wohl wieder ein ernsthafter Partner für Erzählwünsche sein kann. Das „große“ deutsche Kino ist in bestimmten Gehirnen zwar derart auf Kommerzialität ausgerichtet, dass das Ergebnis nur vorauseilender Gehorsam einem vermeintlichen
Publikumsgeschmack gegenüber ist. Und dementsprechend wurden die meisten teuren Mainstream-Filme ja auch heftig an die Wand gefahren.
Aber das, was wirklich gut ist im deutschen Kino, und was deutlich auch immer besser wird, das ist fast alles eigentlich eher eine Art kleines Fernsehspiel. Die guten deutschen Filme kamen in den vergangenen Jahre alle aus dem Off, von dorther, wo man sie gar nicht erwartet hat. Und bei 99 Prozent der deutschen Regisseure kann man auch stets davon
ausgehen, dass ihnen ein kleinerer Film besser gelingt als ein größerer. Weil ein von Weihrauch umgebener Groß-Kinobegriff in Deutschland die Kreativität lähmt. Es heißt: „Emotionskino“, „Gefühlskino“, „große Bilder“ – das ist im Grunde ja kleinbürgerliche Erbauungskultur, es ist das Versprechen eines kulturellen 5 Sterne- Menus fürs Gemüt. Bloß bitte nichts Subversives. Aber aus diesen kitschigen und ebenso aus den hohlen
kommerziellen Kino-Versprechungen kommen fast durchweg in Deutschland die schwächeren Filme. Darauf sollte man hier mal langsam reagieren, finde ich.
artechock: Es gibt aber im Kino eine andere Bereitschaft zum Hingucken, sich auf Neues einzulassen... Was erwarten denn die Zuschauer?
Graf: Die Haltung der Teenies ist ja erstmal relativ klar, und die werden ja auch satt bedient. Aber was erwarten die Leute sonst? Ich glaube sie erwarten viel mehr starke und auch erwachsene Filme als die Branche das wahrhaben will.
artechock: Was macht diese Filme aus?
Graf: Zum Beispiel dass sie Lebenserfahrung ausstrahlen wenn sie über Gefühle sprechen. Über Liebe. Über Einsamkeit. Über Tod.... Und es müssen auch wieder politischere Filme her. Kalte Filme, die den Ist- Zustand der Gesellschaft eisig analysieren, die die Menschen sowohl erschrecken als auch zum Nachdenken anregen. Auch intellektuellere Filme.
artechock: Doch auch manchmal im Gewand von Mainstream- und Genrefilmen...
Graf: Das war ja immer meine Hoffnung. Ich habe lange versucht über Thriller solche Geschichten zu erzählen, die ein gemeinsames Nachdenken und Fühlen mit den Zuschauern ermöglichen. Aber im Kino sind die Thriller in Deutschland momentan nicht mehr möglich. Wahrscheinlich hat die Pleite meiner »Sieger« damals auch dazu beigetragen. Selbst schuld. Kinofilme sind teuer, und wenn je teurer ein Film, umso mehr fordert man von einem Drehbuch, einem Projekt eine allgemein kompatible Gefühlslage. Das führt aber oft zu Interessenkonflikten. Die Figuren sind im deutschen Mainstream längst zu eindimensional geworden, und wenn es um »Sympathieträger« geht wird es bei deutschen Drehbuchbesprechungen auch manchmal völlig absurd. Dabei sind doch gerade die beständig zitierten Amerikaner das beste Vorbild dafür, was für komplexe Mainstream-Charaktere dem Publikum zumutbar sind.
artechock: Markiert die diesjährige Berlinale-Wettbewerbsauswahl, auch Ihre Teilname, die neugeschaffene Reihe mit deutschen Filmen so etwas wie eine Trendwende?
Graf: Wir verbinden alle mit dem Wechsel der Leitung die Hoffnung, dass eine andere Art von deutschem Kino auch offensiv vertreten wird. Der Blick des Auslands auf deutsches Kino war in den letzten 15 Jahren sehr konservativ. Man erwartete von uns nur wahlweise Autoren-Tiefsinn, Formalismus und/oder Auseinandersetzung mit der Nazi-Zeit. Wenn ein Film das nicht hatte, war er fürs Ausland zumeist uninteressant. Vielleicht ändert sich das ein wenig. Als ich noch in Berlin gewohnt habe, da war die Berlinale ja ein tödliches Pflaster für alle deutschen Filme. Mal sehen.