52. Berlinale 2002
Äpfel, Birnen und die Goldene Ananas |
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BLOODY SUNDAY von Paul Greengrass |
Unerwartete Ergebnisse zum Ende der Berliner Filmfestspiele: Spirited Away von Hiyao Miazaki und Bloody Sunday von Paul Greengrass gewinnen zu gleichen Teilen den Goldenen Bären, Andreas Dresens Halbe Treppe erhält den als »Spezialpreis der Jury« vergebenen Silbernen Bären.
Die Überraschung immerhin war gelungen. Als Mira Nair, die indische Regisseurin und Präsidentin der Jury des Wettbewerbs der 52. Berlinale, am Sonntag vor die versammelte internationale Presse trat, hatte man mit vielem gerechnet. Aber Spirited Away, das Animationspoem aus Japan und Bloody Sunday, das Politdrama aus Irland, hatten selbst in langen Festivaljahren erfahrene Beobachter nicht auf ihrer Liste. Dass der Goldene Bär auch noch zwischen diesen beiden Filmen, die unterschiedlicher nicht hätten sein können, geteilt wurde, hinterließ nur noch Kopfschütteln, kurze Augenblicke der Sprachlosigkeit, dazu vereinzelte Buhs – dann hasteten die ersten zu ihren Computern.
Juryentscheidungen auf Filmfestivals sind – leider – immer häufiger politische Entscheidungen. Ein Film des Gastlandes muss unter den Preisträgern sein, die drei wichtigsten Filmregionen USA, Ostasien, Westeuropa müssen einigermaßen gleichberechtigt vertreten sein – so lautet das Grundmuster. Da bleibt schon nicht mehr viel Raum für Entscheidungen, es sei denn, eine Jury setzt sich souverän über alle derartigen politischen Erwägungen hinweg, und versucht stattdessen, filmkünstlerische Vorgaben zu machen. In diesem Sinn hat die Jury der ersten Berlinale unter Dieter Kosslicks Leitung schlicht versagt, und ist ihrer eigentlichen Aufgabe, Zeichen zu setzen und Trends vorzugeben, nicht gerecht geworden.
Wettbewerbsjurys sind unberechenbar. Wenn sie sich dann überdies – wie es hier nach allem, was man hört, geschehen ist – in keiner Weise einigen kann, kommen Entscheidungen heraus, wie diese: Ein Urteil, das nur die Zerrissenheit von zehn Individuen spiegelt.
Es ist das Dilemma derartiger Mammutwettbewerbe, immer Äpfel und Birnen miteinander vergleichen, abwägen und schließlich entscheiden zu müssen. Mira Nair und ihre Jury zogen sich nun ganz unelegant aus der Affaire, und wählten sozusagen die Ananas. Flucht ins Exotische. Denn beide Preisträger sind stilistische Outsider. Während Spirited Away der erste Animationsfilm im Wettbewerb war, seitdem bei der ersten Berlinale 1951 Disneys Cinderella gezeigt wurde, ist Bloody Sunday ein fürs Fernsehen produzierter Film, der nur unter höchst weitgefasster Auslegung der Regularien überhaupt teilnehmen durfte.
Trotzdem verdient hat den Preis jedenfalls Spirited Away. Hiyao Miazakis Film dürfte der hierzulande noch recht unbekannten Gattung der Anime genannten japanischen Zeichtrickfilme zu einem Popularitätsschub verhelfen. Dabei handelt es sich um die Filmvariante der Mangas, jener Comics für Erwachsene, die ernste, oft sogar düster-pessimistische Geschichten erzählen. Spirited Away war auch für jemanden, der zumindest diejenigen Anime kennt, die bisher nach Europa kamen, eine spannende Erfahrung. Miazaki dürfte manchem bereits durch Princess Mononoke in Erinnerung sein, der vor fünf Jahren außer Konkurrenz in Berlin lief, und erst vor einem Jahr ins deutsche Kino kam. Im Vergleich zu diesem Ökomärchen bietet Spirited Away aber eine erwachsenere, durch und durch japanische, surreale Geschichte – die atemberaubende Reise eines kleinen Mädchens in eine Phantasiewelt. »Alice im Wunderland« auf japanisch.
Dagegen dürfte die ästhetisch völlig unverständliche Vergabe an Bloody Sunday noch für Kontroversen sorgen. Denn bei Greengrass' Film handelt es sich um eine pseudodokumentarische, politisch anstößige, weil einseitig antibritische Darstellung jenes Januarsonntages, an dem 1972 der Nordirlandkonflikt blutig eskalierte, und am Ende 18 katholische Iren tot waren. Zu politischen Märtyrern geworden, boten sie den Vorwand für den Terror mit dem die IRA Großbritannien seitdem überzieht. Von der IRA spricht Greengrass freilich nicht. Steril äfft er dagegen längst ausgeleierte Protestgesten nach, zeigt die Iren nur als gute, friedliebende und natürlich gewaltfreie Menschen, die Briten nahezu ausnahmslos als brutale Kriminelle, die auf Argumente nicht hören, es nicht abwarten können, Iren wie Kaninchen abzuknallen, und ihre Verbrechen danach vertuschen. Schade, dass in Berlin, wo ein intelligenter Spielfilm über den Nordirlandkonflikt wie Jim Sheridans The Boxer einst leer ausging, nun dieses stilistisch uninspirierte Tendenzstück prämiert wird.
In beiden Fällen vermisst man, was Kino bisher – über alle filmhistorischen Brüche – ausgezeichnet hat: die Fähigkeit das Publikum zu erschüttern und zu berühren. In beiden Fällen steht der Wirkung des Films seine Technik im Weg: Wo der Zeichentrickfilm durch die Offensichtlichkeit seines Gemacht-seins sich der ganz undistanzierten Annährung verweigert, wirkt bei Bloody Sunday gerade seine Distanzlosigkeit, die in seinen Mittel ausgestellte Behauptung, Wirklichkeit pur zu bieten, kontraproduktiv. Das Urteil der Jury ist, auf die Zukunft des Kinos bezogen, ein Nicht-Urteil.
Was von der Berlinale wirklich 2002 bleiben wird, ist dagegen anderes. Zum einen ein paar Filme, die tatsächlich erschütterten, faszinierten oder zumindest glänzend unterhielten.
Zur ersten Gruppe gehört Monster’s Ball. Der Titel bezieht sich auf die letzte Nacht eines zum Tode Verurteilten vor seiner Hinrichtung. Doch nur zu Beginn ist der Film des in Ulm geborenen, in den USA lebenden Schweizers Marc Forster auch eine Anklage der Todesstrafe. Vielmehr geht es um den von Billy Bob Thornton gespielten Henker, einen hochgestörten Rassisten aus den US-Südstaaten, der Prototyp des autoritären Charakters. Mutter und Ehefrau endeten durch Selbstmord. Als sich auch sein Sohn umbringt, verändert er sich – nicht schlagartig, sondern langsam und sanft. Plötzlich entwickelt er nie gekannte Sensibilität und Gefühle, die schließlich in die Liebe zu einer schwarzen Frau (großartig: Halle Berry) münden. Monster’s Ball ist ein stiller Film, der zugleich eine seltene Sogkraft entfaltet. Als nahezu einziger Wettbewerbsbeitrag weicht er menschlichen Abngründen nicht aus, sondern macht sie zum Thema. Der Film besticht nicht nur durch großartige Schauspieler, sondern auch durch wunderbare, sanft-geschmeidige Bilder, durch das Taktgefühl der Regie, die die Mitte zwischen Humor und Melodram hält, den Figuren naherückt, ohne sie preiszugeben, und in alldem stark Paul T. Andersons Magnolia erinnert.
Nahe ging auch Robert Altmans tiefgründige Gesellschaftssatire Gosford Park: Ein großartig inszeniertes Ensemblestück, das den Wettbewerb wohl gewonnen hätte, wäre es nicht außer Konkurrenz gelaufen. Zumindest sehr gute Unterhaltung bot Francois Ozons 8 femmes.
Momentaufnahmen vom Stand der Dinge zeigten Dominik Grafs Der Felsen, der viel wagte, und darum manche überforderte. Das kann man Andreas Dresens Halbe Treppe nicht nachsagen, der weit weniger wagte, dem dieses Wenige aber perfekt gelang, und der darum zu einem der Lieblinge von Publikum und Kritik wurde, die es in jedem Festival gibt.
Auch Baader muss hier erwähnt werden. Kein Film des Wettbewerbs erregte derart die Gemüter. Die einen mäkelten daran herum, dass sich Regisseur Christopher Roth eine Freiheit im Umgang mit Historischem nahm, die in Literatur (vgl. »Der Name der Rose«) und Theater (vgl. »Richard III.«) zwar selbstverständlich ist, im Film aber immer noch vielen sauer aufstößt. Den anderen war der großspurig als Pop-Phantasie angekündigte Film dafür zu wenig Pop. Wer ihn verteidigte, verwies auf die Bilder, auf den Grundentwurf, auf das Gespür für Zufälle und Möglichkeitssinn, dass den Film bestimmt. Was jedenfalls für Baader spricht, ist, dass sich über keinen Film auch nur annährend so gut streiten ließ, wie über ihn – allenfalls noch über Ozons unerotischen Frauenfilm. Der Deutsche Film ist unter dem neuen Berlinalechef Dieter Kosslick und der neugeschaffenen Reihe »Perspektive Deutsches Kino« also besser repräsentiert – und, wie zumindest der eher schwache Wettbewerb suggerierte, durchaus konkurrenzfähig.
Doch die Berlinale ist viel mehr. Einen letztlich stärkeren Eindruck als der Wettbewerb hinterließen die anderen Reihen: Das »Internationale Forum«, mit seinem verdienstvollen China-Focus, der ganz neue Einblicke, auch in die sozialen Zustände des Reich' der Mitte eröffnete, und darüber hinaus auch mit anderen asiatischen Filmen glänzte, etwa Fulltime Killer, Johnnie To’s Killerballett aus Hongkong. Die Retrospektive zum Film der Sechziger Jahre, die mit ihrem Aufbruchsgeist und ihrer aus Unschuld geborenen Genauigkeit und Offenheit des Hinsehens zeigte, was dem europäischen, allen voran dem deutschen Film der Gegenwart fehlt – Ausnahmen wie die genannten deutschen Wettbewerbsfilme bestätigen die Regel.
Und vor allem das Panorama, dass wie schon im vergangenen Jahr belegte, dass es sich vom einstigen Resteverwerter zu einer hochinteressanten Sektion gemausert hat, die ähnlich wie die »Une certaine regard« in Cannes und das »Cinema del presente« von Venedig im Vergleich zum mitunter sterilen Repräsentationskino des Wettbewerbs die oft interessanteren »großen« Filme bietet.
Diesmal gefielen dort neben den bekannt starken Asiaten vor allem die Franzosen: Jacques Audiard
gelang mit Read My Lips eine außergewöhnliche Erfahrung: Zuerst erscheint alles wie das still-intensive Portrait einer alternden jungen Frau. Man spürt, das irgendwas nicht stimmt, begreift aber erst nach 10 Minuten, dass sie taub ist. So geht es weiter. Und unter der Hand wandelt sich der Film zu einem Hitchcockhaften Thriller.
Ähnlich subtile Spannung und noch mehr Sensibilität für seine Figuren bot auch DANDY von François Armanet. Er beschreibt das Leben von Pariser Großbürgerkids Mitte der Sechziger. Mit viel Aufmerksamkeit für Details entsteht keine nostalgische Feier der Revolte, sondern die bittere Diagnose von Verklemmtheit. Im Zentrum steht ein Junge, der unfähig ist, sich aus seiner selbstgewählten Isolation zu lösen – bonjour tristesse und Bürger-Kritik a la
francaise.
Schließlich die großartige Komödie CHAOS von Corinne Serreau. Sie elektrisierte mit ihrer hysterischen, von der Handkamera zusätzlich beschleunigten Geschichte: Ein Pariser Bürgerpaar mit erwachsenem Sohn gerät aus der Bahn, als beide durch Zufall Zeuge werden, wie eine junge Hure zusammengeschlagen wird. Während der Mann feige wegläuft, kümmert sich seine Gattin um die junge Frau, eine Algerienfranzösin, wodurch für sie alles anders
wird – sarkastische Bourgoisie-Kritik a la francaise.
Einer der schönsten Filme in diesem Jahr war die Dokumentation Lost in La Mancha von Keith Fulton und Luis Pepe: Sie erzählt vom seit Jahren geplanten großen Don Quixote-Projekts des Regisseurs und ehemaligen »Monty Python«-Mitglieds Terry Gilliam. Es hätte der aufwendigste europäische Film aller Zeiten werden sollen, scheiterte aber nach dem fünften Drehtag grandios an zu wenig Geld, der Krankheit des Hauptdarstellers Jean Rochefort und einem noch nie dagewesenen Hagelsturm, der im August 2000 über die kastilische Wüste und hereinbrach, und einen Großteil der Ausrüstung des Filmteams zerstörte.
Faszinierende Einblicke und gerade in ihrer entlarvenden Offenheit eine große Hommage an die Freude des Filmemachens. Denn im Prinzip ist jeder Film ein quixoteskes Projekt, dessen Gelingen zunächst einmal nur staunen lässt, wie das möglich war. Am Ende weckt der Film vor allem Sinn für die Leidenschaft die nötig ist, damit auch auf der Leinwand jene Intensität erzeugt wird, die erst gute Filme möglich macht.
Der neue Leiter Dieter Kosslick wird gut daran tun, ein kontroverses Festival zu schaffen. Das gilt auch für den Wettbewerb. Plumper Defaitismus ist es dagegen, mit dem Argument, es gäbe nur ein Cannes und nur eine Oscarverleihung, im Wettkampf um den ersten Platz freiwillig zu kapitulieren, sich künstlich klein zu machen. Auch Überlegungen Einzelner, die beiden letzten Festivaltage abzuschaffen, zeugen nicht nur von Intoleranz, sie belegen auch, dass hier nicht verstanden wird, wozu ein Festival dient: Die Berlinale ist das zweitwichtigste Filmfestival der Welt, auch weil sie mit über 400 Filmen einen repräsentativen Querschnitt des Weltkinos bietet, weil sie nicht nur aus dem Wettbewerb (der auch nicht schlechter war, als der von Venedig), sondern dem schier unausschöpflichen Angebot der Nebenreihen besteht.
Dass es ausgerechnet Charlie Chaplins Klassiker Der große Diktator war, der gestern Abend zum Berlinale-Abschluß lief, sollte nicht programmatisch missdeutet werden: Mit Kosslick ist ein demokratischerer Geist und mehr Transparenz in das zweitwichtigste Filmfestival der Welt eingezogen – und ein wenig auch von der Ironie, die Chaplin auszeichnete, von der Leichtigkeit, mit der sich dieser dem schweren Thema der Nazi-Diktatur annahm, deren Sprüche und Bombast lächerlich machte. Noch glänzt lange nicht alles, was Kosslick ist. Aber ein Anfang ist getan, Wandel ist spürbar. Wenn noch die Filme und ihre Jurys etwas besser wären, gäbe es wenig Grund zur Klage.