21.02.2002
52. Berlinale 2002

Äpfel, Birnen und die Goldene Ananas

BLOODY SUNDAY
BLOODY SUNDAY von Paul Greengrass

Die Berlinale unter Dieter Kosslick bot mehr, als nur eine zweifelhafte Wettbewerbsentscheidung

Von Rüdiger Suchsland

Uner­war­tete Ergeb­nisse zum Ende der Berliner Film­fest­spiele: Spirited Away von Hiyao Miazaki und Bloody Sunday von Paul Green­grass gewinnen zu gleichen Teilen den Goldenen Bären, Andreas Dresens Halbe Treppe erhält den als »Spezi­al­preis der Jury« verge­benen Silbernen Bären.

Die Über­ra­schung immerhin war gelungen. Als Mira Nair, die indische Regis­seurin und Präsi­dentin der Jury des Wett­be­werbs der 52. Berlinale, am Sonntag vor die versam­melte inter­na­tio­nale Presse trat, hatte man mit vielem gerechnet. Aber Spirited Away, das Anima­ti­ons­poem aus Japan und Bloody Sunday, das Polit­drama aus Irland, hatten selbst in langen Festi­val­jahren erfahrene Beob­achter nicht auf ihrer Liste. Dass der Goldene Bär auch noch zwischen diesen beiden Filmen, die unter­schied­li­cher nicht hätten sein können, geteilt wurde, hinter­ließ nur noch Kopf­schüt­teln, kurze Augen­blicke der Sprach­lo­sig­keit, dazu verein­zelte Buhs – dann hasteten die ersten zu ihren Computern.

Jury­ent­schei­dungen auf Film­fes­ti­vals sind – leider – immer häufiger poli­ti­sche Entschei­dungen. Ein Film des Gast­landes muss unter den Preis­trä­gern sein, die drei wich­tigsten Film­re­gionen USA, Ostasien, West­eu­ropa müssen eini­ger­maßen gleich­be­rech­tigt vertreten sein – so lautet das Grund­muster. Da bleibt schon nicht mehr viel Raum für Entschei­dungen, es sei denn, eine Jury setzt sich souverän über alle derar­tigen poli­ti­schen Erwä­gungen hinweg, und versucht statt­dessen, film­künst­le­ri­sche Vorgaben zu machen. In diesem Sinn hat die Jury der ersten Berlinale unter Dieter Kosslicks Leitung schlicht versagt, und ist ihrer eigent­li­chen Aufgabe, Zeichen zu setzen und Trends vorzu­geben, nicht gerecht geworden.

Wett­be­werbs­jurys sind unbe­re­chenbar. Wenn sie sich dann überdies – wie es hier nach allem, was man hört, geschehen ist – in keiner Weise einigen kann, kommen Entschei­dungen heraus, wie diese: Ein Urteil, das nur die Zerris­sen­heit von zehn Indi­vi­duen spiegelt.

Es ist das Dilemma derar­tiger Mammut­wett­be­werbe, immer Äpfel und Birnen mitein­ander verglei­chen, abwägen und schließ­lich entscheiden zu müssen. Mira Nair und ihre Jury zogen sich nun ganz unelegant aus der Affaire, und wählten sozusagen die Ananas. Flucht ins Exotische. Denn beide Preis­träger sind stilis­ti­sche Outsider. Während Spirited Away der erste Anima­ti­ons­film im Wett­be­werb war, seitdem bei der ersten Berlinale 1951 Disneys Cinde­r­ella gezeigt wurde, ist Bloody Sunday ein fürs Fernsehen produ­zierter Film, der nur unter höchst weit­ge­fasster Auslegung der Regu­la­rien überhaupt teil­nehmen durfte.

Trotzdem verdient hat den Preis jeden­falls Spirited Away. Hiyao Miazakis Film dürfte der hier­zu­lande noch recht unbe­kannten Gattung der Anime genannten japa­ni­schen Zeicht­rick­filme zu einem Popu­la­ri­täts­schub verhelfen. Dabei handelt es sich um die Film­va­ri­ante der Mangas, jener Comics für Erwach­sene, die ernste, oft sogar düster-pessi­mis­ti­sche Geschichten erzählen. Spirited Away war auch für jemanden, der zumindest dieje­nigen Anime kennt, die bisher nach Europa kamen, eine spannende Erfahrung. Miazaki dürfte manchem bereits durch Princess Mononoke in Erin­ne­rung sein, der vor fünf Jahren außer Konkur­renz in Berlin lief, und erst vor einem Jahr ins deutsche Kino kam. Im Vergleich zu diesem Ökomär­chen bietet Spirited Away aber eine erwach­se­nere, durch und durch japa­ni­sche, surreale Geschichte – die atem­be­rau­bende Reise eines kleinen Mädchens in eine Phan­ta­sie­welt. »Alice im Wunder­land« auf japanisch.

Dagegen dürfte die ästhe­tisch völlig unver­s­tänd­liche Vergabe an Bloody Sunday noch für Kontro­versen sorgen. Denn bei Green­grass' Film handelt es sich um eine pseu­do­do­ku­men­ta­ri­sche, politisch anstößige, weil einseitig anti­bri­ti­sche Darstel­lung jenes Janu­ar­sonn­tages, an dem 1972 der Nord­ir­land­kon­flikt blutig eska­lierte, und am Ende 18 katho­li­sche Iren tot waren. Zu poli­ti­schen Märtyrern geworden, boten sie den Vorwand für den Terror mit dem die IRA Groß­bri­tan­nien seitdem überzieht. Von der IRA spricht Green­grass freilich nicht. Steril äfft er dagegen längst ausge­lei­erte Protest­gesten nach, zeigt die Iren nur als gute, fried­lie­bende und natürlich gewalt­freie Menschen, die Briten nahezu ausnahmslos als brutale Krimi­nelle, die auf Argumente nicht hören, es nicht abwarten können, Iren wie Kaninchen abzu­knallen, und ihre Verbre­chen danach vertu­schen. Schade, dass in Berlin, wo ein intel­li­genter Spielfilm über den Nord­ir­land­kon­flikt wie Jim Sheridans The Boxer einst leer ausging, nun dieses stilis­tisch unin­spi­rierte Tendenz­stück prämiert wird.

In beiden Fällen vermisst man, was Kino bisher – über alle film­his­to­ri­schen Brüche – ausge­zeichnet hat: die Fähigkeit das Publikum zu erschüt­tern und zu berühren. In beiden Fällen steht der Wirkung des Films seine Technik im Weg: Wo der Zeichen­trick­film durch die Offen­sicht­lich­keit seines Gemacht-seins sich der ganz undi­stan­zierten Annährung verwei­gert, wirkt bei Bloody Sunday gerade seine Distanz­lo­sig­keit, die in seinen Mittel ausge­stellte Behaup­tung, Wirk­lich­keit pur zu bieten, kontra­pro­duktiv. Das Urteil der Jury ist, auf die Zukunft des Kinos bezogen, ein Nicht-Urteil.

Was von der Berlinale wirklich 2002 bleiben wird, ist dagegen anderes. Zum einen ein paar Filme, die tatsäch­lich erschüt­terten, faszi­nierten oder zumindest glänzend unter­hielten.

Zur ersten Gruppe gehört Monster’s Ball. Der Titel bezieht sich auf die letzte Nacht eines zum Tode Verur­teilten vor seiner Hinrich­tung. Doch nur zu Beginn ist der Film des in Ulm geborenen, in den USA lebenden Schwei­zers Marc Forster auch eine Anklage der Todes­strafe. Vielmehr geht es um den von Billy Bob Thornton gespielten Henker, einen hoch­ge­störten Rassisten aus den US-Südstaaten, der Prototyp des auto­ri­tären Charak­ters. Mutter und Ehefrau endeten durch Selbst­mord. Als sich auch sein Sohn umbringt, verändert er sich – nicht schlag­artig, sondern langsam und sanft. Plötzlich entwi­ckelt er nie gekannte Sensi­bi­lität und Gefühle, die schließ­lich in die Liebe zu einer schwarzen Frau (großartig: Halle Berry) münden. Monster’s Ball ist ein stiller Film, der zugleich eine seltene Sogkraft entfaltet. Als nahezu einziger Wett­be­werbs­bei­trag weicht er mensch­li­chen Abngründen nicht aus, sondern macht sie zum Thema. Der Film besticht nicht nur durch groß­ar­tige Schau­spieler, sondern auch durch wunder­bare, sanft-geschmei­dige Bilder, durch das Takt­ge­fühl der Regie, die die Mitte zwischen Humor und Melodram hält, den Figuren naherückt, ohne sie preis­zu­geben, und in alldem stark Paul T. Andersons Magnolia erinnert.

Nahe ging auch Robert Altmans tief­grün­dige Gesell­schafts­sa­tire Gosford Park: Ein großartig insze­niertes Ensem­ble­s­tück, das den Wett­be­werb wohl gewonnen hätte, wäre es nicht außer Konkur­renz gelaufen. Zumindest sehr gute Unter­hal­tung bot Francois Ozons 8 femmes.

Moment­auf­nahmen vom Stand der Dinge zeigten Dominik Grafs Der Felsen, der viel wagte, und darum manche über­for­derte. Das kann man Andreas Dresens Halbe Treppe nicht nachsagen, der weit weniger wagte, dem dieses Wenige aber perfekt gelang, und der darum zu einem der Lieblinge von Publikum und Kritik wurde, die es in jedem Festival gibt.

Auch Baader muss hier erwähnt werden. Kein Film des Wett­be­werbs erregte derart die Gemüter. Die einen mäkelten daran herum, dass sich Regisseur Chris­to­pher Roth eine Freiheit im Umgang mit Histo­ri­schem nahm, die in Literatur (vgl. »Der Name der Rose«) und Theater (vgl. »Richard III.«) zwar selbst­ver­s­tänd­lich ist, im Film aber immer noch vielen sauer aufstößt. Den anderen war der groß­spurig als Pop-Phantasie angekün­digte Film dafür zu wenig Pop. Wer ihn vertei­digte, verwies auf die Bilder, auf den Grund­ent­wurf, auf das Gespür für Zufälle und Möglich­keits­sinn, dass den Film bestimmt. Was jeden­falls für Baader spricht, ist, dass sich über keinen Film auch nur annährend so gut streiten ließ, wie über ihn – allen­falls noch über Ozons unero­ti­schen Frau­en­film. Der Deutsche Film ist unter dem neuen Berli­nale­chef Dieter Kosslick und der neuge­schaf­fenen Reihe »Perspek­tive Deutsches Kino« also besser reprä­sen­tiert – und, wie zumindest der eher schwache Wett­be­werb sugge­rierte, durchaus konkur­renz­fähig.

Doch die Berlinale ist viel mehr. Einen letztlich stärkeren Eindruck als der Wett­be­werb hinter­ließen die anderen Reihen: Das »Inter­na­tio­nale Forum«, mit seinem verdienst­vollen China-Focus, der ganz neue Einblicke, auch in die sozialen Zustände des Reich' der Mitte eröffnete, und darüber hinaus auch mit anderen asia­ti­schen Filmen glänzte, etwa Fulltime Killer, Johnnie To’s Killer­bal­lett aus Hongkong. Die Retro­spek­tive zum Film der Sechziger Jahre, die mit ihrem Aufbruchs­geist und ihrer aus Unschuld geborenen Genau­ig­keit und Offenheit des Hinsehens zeigte, was dem europäi­schen, allen voran dem deutschen Film der Gegenwart fehlt – Ausnahmen wie die genannten deutschen Wett­be­werbs­filme bestä­tigen die Regel.

Und vor allem das Panorama, dass wie schon im vergan­genen Jahr belegte, dass es sich vom einstigen Reste­ver­werter zu einer hoch­in­ter­es­santen Sektion gemausert hat, die ähnlich wie die »Une certaine regard« in Cannes und das »Cinema del presente« von Venedig im Vergleich zum mitunter sterilen Reprä­sen­ta­ti­ons­kino des Wett­be­werbs die oft inter­es­san­teren »großen« Filme bietet.
Diesmal gefielen dort neben den bekannt starken Asiaten vor allem die Franzosen: Jacques Audiard gelang mit Read My Lips eine außer­ge­wöhn­liche Erfahrung: Zuerst erscheint alles wie das still-intensive Portrait einer alternden jungen Frau. Man spürt, das irgendwas nicht stimmt, begreift aber erst nach 10 Minuten, dass sie taub ist. So geht es weiter. Und unter der Hand wandelt sich der Film zu einem Hitch­cock­haften Thriller.

Ähnlich subtile Spannung und noch mehr Sensi­bi­lität für seine Figuren bot auch DANDY von François Armanet. Er beschreibt das Leben von Pariser Groß­bür­ger­kids Mitte der Sechziger. Mit viel Aufmerk­sam­keit für Details entsteht keine nost­al­gi­sche Feier der Revolte, sondern die bittere Diagnose von Verklemmt­heit. Im Zentrum steht ein Junge, der unfähig ist, sich aus seiner selbst­ge­wählten Isolation zu lösen – bonjour tristesse und Bürger-Kritik a la francaise.
Schließ­lich die groß­ar­tige Komödie CHAOS von Corinne Serreau. Sie elek­tri­sierte mit ihrer hyste­ri­schen, von der Hand­ka­mera zusätz­lich beschleu­nigten Geschichte: Ein Pariser Bürger­paar mit erwach­senem Sohn gerät aus der Bahn, als beide durch Zufall Zeuge werden, wie eine junge Hure zusam­men­ge­schlagen wird. Während der Mann feige wegläuft, kümmert sich seine Gattin um die junge Frau, eine Alge­ri­en­fran­zösin, wodurch für sie alles anders wird – sarkas­ti­sche Bour­go­isie-Kritik a la francaise.

Einer der schönsten Filme in diesem Jahr war die Doku­men­ta­tion Lost in La Mancha von Keith Fulton und Luis Pepe: Sie erzählt vom seit Jahren geplanten großen Don Quixote-Projekts des Regis­seurs und ehema­ligen »Monty Python«-Mitglieds Terry Gilliam. Es hätte der aufwen­digste europäi­sche Film aller Zeiten werden sollen, schei­terte aber nach dem fünften Drehtag grandios an zu wenig Geld, der Krankheit des Haupt­dar­stel­lers Jean Rochefort und einem noch nie dage­we­senen Hagel­sturm, der im August 2000 über die kasti­li­sche Wüste und herein­brach, und einen Großteil der Ausrüs­tung des Filmteams zerstörte.

Faszi­nie­rende Einblicke und gerade in ihrer entlar­venden Offenheit eine große Hommage an die Freude des Filme­ma­chens. Denn im Prinzip ist jeder Film ein quixo­teskes Projekt, dessen Gelingen zunächst einmal nur staunen lässt, wie das möglich war. Am Ende weckt der Film vor allem Sinn für die Leiden­schaft die nötig ist, damit auch auf der Leinwand jene Inten­sität erzeugt wird, die erst gute Filme möglich macht.

Der neue Leiter Dieter Kosslick wird gut daran tun, ein kontro­verses Festival zu schaffen. Das gilt auch für den Wett­be­werb. Plumper Defai­tismus ist es dagegen, mit dem Argument, es gäbe nur ein Cannes und nur eine Oscar­ver­lei­hung, im Wettkampf um den ersten Platz frei­willig zu kapi­tu­lieren, sich künstlich klein zu machen. Auch Über­le­gungen Einzelner, die beiden letzten Festi­val­tage abzu­schaffen, zeugen nicht nur von Into­le­ranz, sie belegen auch, dass hier nicht verstanden wird, wozu ein Festival dient: Die Berlinale ist das zweit­wich­tigste Film­fes­tival der Welt, auch weil sie mit über 400 Filmen einen reprä­sen­ta­tiven Quer­schnitt des Weltkinos bietet, weil sie nicht nur aus dem Wett­be­werb (der auch nicht schlechter war, als der von Venedig), sondern dem schier unaus­schöpf­li­chen Angebot der Neben­reihen besteht.

Dass es ausge­rechnet Charlie Chaplins Klassiker Der große Diktator war, der gestern Abend zum Berlinale-Abschluß lief, sollte nicht program­ma­tisch miss­deutet werden: Mit Kosslick ist ein demo­kra­ti­scherer Geist und mehr Trans­pa­renz in das zweit­wich­tigste Film­fes­tival der Welt einge­zogen – und ein wenig auch von der Ironie, die Chaplin auszeich­nete, von der Leich­tig­keit, mit der sich dieser dem schweren Thema der Nazi-Diktatur annahm, deren Sprüche und Bombast lächer­lich machte. Noch glänzt lange nicht alles, was Kosslick ist. Aber ein Anfang ist getan, Wandel ist spürbar. Wenn noch die Filme und ihre Jurys etwas besser wären, gäbe es wenig Grund zur Klage.