Cinema Moralia – Folge 111
Ein Hellas bitte! |
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Die Einführung des Tonfilms kostete nicht nur Arbeitsplätze, auch ein Qualitätsverlust des Films wurde befürchtet (Flugblatt, 1929) |
»Wie wird man diese unerträglichen Fesseln los? ›Wie? Wie?‹ fragte er und griff sich an den Kopf. ›Ja, wie?‹ Und es schien ihnen, dass sie bald eine Lösung finden würden, und dass dann ein neues herrliches Leben beginnen könnte; und es war beiden klar, dass das Ende noch in weiter Ferne liege und dass das Schwierigste erst jetzt anfange.«
Tschechow, »Die Dame mit dem Hündchen«
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Ja, als es dann wirklich so weit gekommen war, und ich neulich im Biergarten »noch ein Hellas bitte!« bestellte, das wusste ich, was die Stunde geschlagen hatte, und dass mich das Thema noch ein wenig verfolgen würde.
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In diesem Umgang mit diesem ganzen Finanz-Schlamassel und der angeblichen Griechenland-Krise in diesen Tagen, die eigentlich gar keine ist, sondern eine Finanzkapital-Krise und eine Staatsschulden-Krise merkt man, dass die Leute alle Angst haben. Dass es eine Angstbesessenheit gibt und das verzweifelte Verlangen, Sicherheit herzustellen durch sogenannte Rettungsschirme, die dann keine sind und Sicherheits-Zusagen, die sich relativ schnell als unsicher erweisen – es
dominiert eine Art Politik der Klugheit, »der schwäbischen Hausfrau« wie es dann bei Angela Merkel heißt. In der gibt es immer wieder Sicherheitsversprechen, aber eigentlich wächst die Unsicherheit.
Das Interessante an Griechenland ist nun, dass es offensichtlich einen Punkt gibt, an dem die Leute so dermaßen in Unsicherheit gestürzt werden können, dass sie die falschen Sicherheitsversprechen ausschlagen – nach dem Motto »Du hast keine Chance, also nutze
sie.«
Das hat Jakob Augstein im Spiegel als Hoffnung verkauft. Also: Wir können darauf hoffen, dass endlich eine Revolution der Hirne stattfindet.
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Zum Griechenland-Thema letzte Woche gab es positive und negative Reaktionen. Darauf werde ich noch eingehen. Hier aber erstmal aktuell ein Auszug aus einem Gespräch mit meinem lieben Freund, dem Filmkritiker Josef Schnelle, das sich eigentlich vor allem um den deutschen Film drehte, aber kurz auch mal auf Griechenland kam:
»Es geht mir auch so, dass ich diese ganzen Propagandakampagnen, die bei uns gerade gefahren werden, fürchterlich finde – bis hin zur BILD-Zeitung:
›280.000 sagen Nein‹. Das bedeutet, sie wollen kein Geld mehr an Griechenland geben.
Niemand hat bisher Geld an Griechenland gegeben!
Diese ganzen Institutionen haben eigentlich nur versucht, diese neoliberale Politik der europäischen Wirtschaftsmagnaten Griechenland aufzuzwingen. Nun ist Griechenland am Ende – die können ihre Renten gar nicht zahlen, aber diese Renten sollen gekürzt werden von 300 auf 200 Euro im Monat. Und die Mehrwertsteuer soll
erhöht werden. Man erlebt es auch bei diesen ganzen Vorschlägen, die von der griechischen Regierung verlangt werden. Wenn der Vorschlag dann kommt, ist zehn Sekunden später die Antwort von Wolfgang Schäuble da: ›Geht nicht!‹
Es gibt eben keine Solidarität mit Griechenland. Sondern die Finanzplätze wollen ein Exempel statuieren und Spanien davor warnen, auch eine linke Regierung zu wählen. Dabei ist das gerade wahrscheinlich. Die werden das jetzige Geschehen genau
studieren. Die von der Tsipras-Regierung machen bestimmt Fehler. Wer macht schon keine Fehler. Aber ich habe in den Nachrichten den Schulz gesehen – theoretisch ein Sozialdemokrat – mit welcher paternalistischen Attitüde der da auftritt! Was bildet der sich eigentlich ein. Es sind doch nur die Interessen der Heuschrecken, die da verteidigt werden. Und der ist von der SPD – ist ja irre!
Es ist offenbar, dass die an Griechenland ein Exempel statuieren
wollten – und das ist in die Hose gegangen. Vorher lief alles aber ganz friedlich für die Heuschrecken ab. Ich finde, dass diese Abstimmung ein Hoffnungszeichen für Europa ist.
Ich muss sagen, dass diese Griechenland-Krise mir die Augen dafür geöffnet hat, dass das ein Klassenkampf von Oben innerhalb der EU ist.
Innerhalb der EU sollen Regeln durchgesetzt werden, die sich eigentlich immer gegen die normalen Menschen richten. Dieser Kampf wird unglaublich hart geführt.
Ich verspreche mir von dieser Entwicklung eine Erosion dieses Finanzkapitalismus, der uns so eingelullt hat und die Macht übernommen hat.«
So weit Josef Schnelle. Auch eine Form von Filmkritik, denn die verdient nur ihren Namen, wenn sie auch Medien- und Diskurskritik ist.
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Die deutschen überregionalen Zeitungen kann man zu diesem Thema immer weniger lesen. Im Netz, um sich zu ärgern. Wenn man aber noch für irgendetwas Geld ausgibt, dann für den Guardian, den Economist, die Neue Zürcher, die Berliner Zeitung, die taz und den Freitag.
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»Dieses Publikum, dem man so vollkommen die Freiheit entzogen hat und das dies alles geduldet hat, verdient weniger als jedes andere, dass man es schont. Mit dem traditionellen Zynismus derer, die die menschliche Neigung, ungerechte Kränkungen noch zu rechtfertigen, kennen, verkünden die Manipulatoren der Werbung heute in aller Ruhe, dass man ins Kino geht, wenn man das Leben liebt'. Aber dieses Leben und dieses Kino gelten gleich wenig; insofern sind sie tatsächlich beliebig
austauschbar.
Das Kinopublikum, das nie sehr bürgerlich war und auch kaum mehr aus dem gewöhnlichen Volk kommt, setzt sich inzwischen fast nur noch aus einer einzigen sozialen Schicht zusammen, ... tatsächlich täuschen sich diese hier in allem und können nur noch über Lügen faseln. Es sind arme Lohnabhängige, die sich für Eigentümer halten; betrogene Ignoranten, die sich gebildet glauben, und Tote, die meinen, sie hätten Sitz und Stimme.«
Guy Debord
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Leser-Anmerkungen gabs auch zum »Kulturschutzgesetz« des BKM. Ein Verteidiger der Kulturstaatsministerin meinte mich belehren zu müssen: Es gehe de facto um das Verhältnis zwischen Gemeininteresse und Individualinteresse. Genau das, Herr Direktor. Und das im Zweifelsfall das Gemeinwohl vorgeht, das steht schon in der Verfassung. »Schutz heißt nicht Enteignung ›argumentiert Grütters formal schlüssig. Aber »Schutz« ist oft genug nur ein sympathischeres Wort
für Entmündigung und Bevormundung. Um Sterbende vor sich selbst zu schützen, dürfen sie sich nicht töten oder dafür die Hilfe von Ärzten in Anspruch nehmen. Stattdessen müssen reiche Sterbende in die Schweiz reisen, arme Sterbende müssen weiter leben.
Auch zu unterscheiden ist zwischen dem Schutz der Künstler und dem der Verwerter. Also zwischen Maler und Galerist, Autor und Verleger, Filmemacher und Verleiher oder Sender.
Am Ende steht im Textentwurf des Ministeriums, solle
der Staat einen vergünstigten Zugriff auf die Kunstwerke haben. Und es bleibt ein unsympathischer Eindruck. Der der Gefahr einer kalten Enteignung durch den Staat.‹«
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Ja, Eigentum verpflichtet. Ja, man muss dem freien Markt enge Grenzen auflegen, ihn sogar im Sinne des Gemeinwohls eingrenzen und unter Kuratel stellen. Nur fragt man sich, warum die Bundesregierung da ausgerechnet bei der Kunst anfängt. Warum werden nicht die Rechte der Banken beschnitten? Warum gibt es klein Gesetz zum Schutz des Volksvermögens? Warum werden nicht die deutschen Reichen besteuert?
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Einen interessanten Fragekatalog bekam ich neulich per Mail von einem Freund: »Was sind denn die Kultfilme der letzten 10 Jahre?« hieß es da. Es erscheint mir so, als gäbe es dies Phänomen nicht mehr ungebrochen. Zumindest fielen mir keine ein. Das war eine inspirierende Frage, auch wenn ich das Wort »Kultfilm« eigentlich selten benutze und auch immer seltener denke.
Aber es stimmt schon, dass es scheinbar so ungebrochene »Kultfilme« etwas weniger (oder gar nicht mehr?) gibt.
Es gibt nicht mehr so etwas wie Matrix, der das vom ersten Tag an war. Dieser Eindruck könnte zunächst einfach damit zu tun haben, dass ich langsam zu alt für sowas bin. Und natürlich, dass das Kino mehr und mehr kein Leitmedium ist. Dass es in diesem Leitmediumscharakter durch Fernseh- und DVD- und Streaming-Serien, durch Computerspiele und allerlei Internet-Dinge abgelöst
wird. Da gibt es nämlich durchaus »Kult«. Sogar im Fernsehen: siehe Tatort!
Zugleich ist »Kult« primär natürlich ein Jugendphänomen, auch wenn es neuerdings »Kult« für die Silver Ager der 60+-Generation oder richtig Alte gibt.
Daneben ist »Kult« wohl etwas Milieu- und Generations-abhängiges. Will sagen: »James Bond«-Filme sind für manche Menschen per se »Kult«, auch »Star Wars«. Ebenso war Ziemlich beste Freunde eine Art »Kult«, oder nennen wir es ein »Must see«. Der Unterschied zwischen beidem wäre aber, dass »Kult« etwas ist, das irgendwie Spuren in einer Kultur hinterlässt, zu einem popkulturellen Phänomen wird. Und das es mehr ist, als eine Eintagsfliege. Aus genau diesem Grund ist Monsieur Claude auch
ganz und gar kein Kult, Herr der Ringe, Harry Potter und Twilight aber schon.
Was ist nun in der Hinsicht von dieser Welle der ganzen Superheldenfilme der letzten Jahre zu halten? Ich bin
nicht sicher.
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Was für mich »Kultfilme« der letzten 10 Jahre waren, werde ich auch noch gefragt. Es gibt schon immer noch auch über die Leinwand hinaus sehr einflussreiche Filme, aber doch viel stärker nur innerhalb von Mileugrenzen. Selbst die Coen-Brüder haben es nach Fargo nicht wieder so geschafft.
Aber Tarantino. Inglourious Basterds hat schon universale Wirkung. Ansonsten gibt es sicher im jeweiligen Milieu bestimmte Werke: Anime-Filme (Miyazaki) und Horrorfilme (die Hostel-Reihe). Auch ein einmaliges Teil wie Pans Labyrinth, der irgendwie Fantasy und
Märchen ist.
Unter intellektuellen Großstädtern mit Affinität zum europäischen Autorenfilm sind die Filme von Sofia Coppola Kult (besonders Lost in Translation und The Virgin Suicides, die beide aber älter als zehn Jahre sind). Filme von Wes Anderson und sogar von Paul Thomas Anderson und
dann die sogenannten Mumblecores, u.a. Frances Ha.
»Kult« kann auch Star-abhängig sein: Filme mit Tom Cruise, George Clooney sind Kult, und Filme mit Stallone und Schwarzenegger allemal Nostalgie-»Kult«.
Für mich waren »Star Wars« generationell Kultfilme. Irgendwie auch die frühen John Travolta-Filme, dann die »großen« New Hollywood-Filme: Bonnie und Clyde, Exorcist, Der weiße Hai, Der Pate, Apocalypse Now, Blade Runner. Aber warum die und nicht andere? Da muss ich noch nachdenken. Zu sehr persönlichem Kult wurde auch später Bestimmtes: Alles von Michael Mann, besonders Heat, alles von Brian De Palma, alles von Scorsese, alles von Fincher. Matrix und Memento. In Europa: Diva, Leon – der Profi, Das fünfte Element, Brazil, Life of Brian, Wenn die Gondeln Trauer tragen, Trainspotting.
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Ich glaube, um »Kultfilm« zu sein, darf ein Film nicht zu ernst sein, darum steht kein Wenders hier, kein Fassbinder. Gibt es Autorenkult? Heute ist Godard Kult, weil er immer noch da ist und arbeitet. Kultfilm ist auch etwas, in das Leute immer wieder rein gehen: Eis am Stiel oder Rocky Horror Picture Show.
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Eine, gelinde gesagt, höchst kuriose E-Mail-Abfolge erreichte uns vergangene Woche. Da gab es endlich mal wieder Post von Björn Böhning. Um den Staatssekretär und Chef der Berliner Senatskanzlei war es zuletzt fast schon auffällig still geworden. So als ob er sich nach dem Scheitern der von ihm verantworteten Olympia-Bewerbung und dem Total-Debakel der von ihm – theoretisch – organisierten Neubesetzung des DFFB-Direktors, mal eine Weile politisch tot stellen wollte.
Oder eben politisch tatsächlich schon tot war.
Aber Totgesagte leben bekanntlich länger und gerade im Fall von Böhning kann man sich darauf gefasst machen, dass einem der Mann im Leben immer wieder begegnen wird, garantiert bald in irgendeiner berlinfernen neuen Funktion. Sigmar Gabriel war schließlich auch mal Pop-Beauftragter der SPD.
Jedenfalls hatte ich mich, als ich die Einladung vom »Presse- und Informationsamt des Landes Berlin« ins Berliner Rathaus bekam, kurz gefreut.
Denn darin hieß es, Böhning würde über »aktuelle filmpolitische Entwicklungen im Land Berlin« »informieren«. Toll! Ich dachte, nun würden mir endlich die Augen geöffnet, der Blick klar und die langersehnten und gewiss bei richtiger Betrachtung und angemessener Information blendenden filmpolitischen Perspektiven der Hauptstadt am Horizont erscheinen. Super!
Die Vorfreude allerdings währte nicht lang. Nur ein paar Minuten, so lang wie in etwa ein Anruf vom Büro des
regierenden Bürgermeisters zur Senatskanzlei dauern mag, dann kam eine zweite Mail hinterher: »Pressekonferenz entfällt!« hieß es da schnöde und ohne Erklärung. Was mag da wohl passiert sein?
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Neue Techniken hatten es gegen die Puristen schon immer schwer. Ich habe damals geschrieben: Nolans »Interstellar« hat auch deshalb so intensiv gewirkt, war auch deshalb so gut, weil er auf Film gedreht wurde. Aber natürlich gibt es darin digitale Effekte. Auch ich liebe 35mm, aber muss ich deshalb alles Digitale verdammen? Auch ich liebe Kino, aber darf ich deshalb keine DVD- und Streaming-Serien mögen und Filme nicht auf DVDs nochmals angucken? Purismus und Puritanismus sind immer
unsympathisch. Und leicht gerät man da in selbstgebaute Fallen. Ein Beispiel dafür bietet ein Handzettel, der keineswegs neu ist, mir aber erst jetzt in die Hände fiel: »Gegen den Tonfilm!« heißt die Dachzeile: »Für lebende Künstler!« Und dann weiter: An das Publikum!
Achtung! Gefahren des Tonfilms! Viele Kinos müssen wegen Einführung des Tonfilms und Mangel an vielseitigen Programmen schließen!
Tonfilm ist Kitsch!
Wer Kunst und Künstler liebt, lehnt den Tonfilm ab!
Tonfilm
ist Einseitigkeit!
100 % Tonfilm = 100 % Verflachung!
Tonfilm ist wirtschaftlicher und geistiger Mord!
Seine Konservenbüchsen-Apparatur klingt kellerhaft, quietscht, verdirbt das Gehör und ruiniert die Existenzen der Musiker und Artisten!
Tonfilm ist schlecht konserviertes Theater bei überhöhten Preisen!
Darum:
Fordert gute stumme Filme!
Fordert Orchesterbegleitung durch Musiker!
Fordert Bühnenschau mit Artisten!
Lehnt den Tonfilm ab!
Wo kein Kino
mit Musikern oder Bühnenschau:
Besucht die Varietés!
Internationale Artisten
Loge E.V. Deutscher Musiker – Verband
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So weit kann’s kommen.
(to be continued)