Cinema Moralia – Folge 276
Fremdgehen im Kino |
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Nicht nur Léa Seydoux spielt in Bruno Dumonts France mit... | ||
(Foto: MFA/Filmagentinnen) |
»Hier nun eine spontane Form dieser Epoche: Ich fühle mich außerstande, mich über 'Ideen' zu entrüsten. 'Dumme' Ideen können mich wohl irritieren, ärgern oder vielleicht sogar erschrecken; die 'dummen' Ideen bilden eine Doxa, eine öffentliche Meinung, keine Lehre.
In der Intelligenzija gibt es definitionsgemäß keine 'dummen' Ideen; der Intellektuelle ist berufsmäßig intelligent (nicht sehr intelligent ist möglicherweise sein Verhalten). Diese Art Gleichmut gegenüber den Ideen wird durch eine wache, positive oder negative Sensibilität gegenüber den Menschen, den Persönlichkeiten aufgewogen. –« Roland Barthes
Auch er spielt mit in diesem Spielfilm: Emmanuel Macron, Präsident der französischen Republik. Der Zufall will, dass dieser Film letzte Woche, genau drei Tage vor der ersten Runde der französischen Parlamentswahlen in die deutschen Kinos kam. Gedreht wurde er aber natürlich schon vor über einem Jahr. Und auch Macron hat nicht wirklich mitgespielt – so weit geht die Cinephilie der Franzosen, auch ihrer Politiker, dann doch nicht – er wurde nur einfach derart geschickt hineinmontiert in den Anfang dieses Films, sodass es tatsächlich aussieht, als gäbe es einen kurzen, frechen Schlagabtausch mit der Hauptfigur, einer prominenten Moderatorin für politisches Trash-Fernsehen, also Reportagen mit Elementen von Sensationsspektakel und Exploitation.
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Trotzdem ist es völlig unvorstellbar, in einem deutschen Spielfilm einen entsprechenden Ausschnitt mit Olaf Scholz oder Angela Merkel zu sehen – und wahrscheinlich ist das auch besser so.
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Die entscheidende Stichwahl in Frankreich ist am kommenden Wochenende. Insofern kann und sollte man France auch unter diesem Gesichtspunkt ansehen: Wie zeigt er Politik und vor allem deren mediale Rahmenbedingungen?
Es ist ein vor allem für die Medien nicht sehr schmeichelhaftes Bild. Die Amoralität dieser Welt und ihrer journalistischen Akteure zeigt sich schon in dieser ersten Szene, eben dieser Pressekonferenz mit Macron: Eine Frage wird gestellt, die Antwort ist egal, denn die Frage ist nur rhetorisch und dient dazu, den Präsidenten zu desavouieren.
Die Moderatorin und ihre Assistentin scherzen und lachen dem Präsidenten praktisch ins Gesicht, der angesichts der unverschämten Dreistigkeit seines Gegenübers um Fassung ringt – die Show ist gewonnen.
Später im Film fliegt die Moderatorin und Titelheldin France (die natürlich auch mit »Frankreich« zu identifizieren ist, s.u.) zum Beispiel nach Afghanistan zu den Taliban, interviewt dort – wie immer perfekt gestylt mit modischem Stahlhelm, Camouflage-Jäckchen und Designer-Schussweste – einen blutrünstigen Mudschaheddin und fordert ihn am Schluss auf, um des guten Bildes willen einen religiösen Schlachtruf auszurufen und dabei in die Luft zu ballern. Das muss dann, wie es eben so ist beim Fernsehen, ein paar Mal wiederholt werden, damit es wirklich gut aussieht – es sind solche absurden Szenen, die den einen Haupterzählstrang und den grotesken Humor dieses Films ausmachen.
Hier ist Bruno Dumonts neuer Film France eine saftige und grobe Effekte nicht scheuende Mediensatire. Eine Satire, die den Zynismus moderner Massenmedien kontert durch eine nicht minder kalte, nicht nur illusionslose, sondern ätzend sarkastische Betrachtung, die man sehr wohl ebenfalls auch zynisch finden kann.
Der Zuschauer kann nach und nach feststellen, dass alles, was
diese »Ich«-Journalistin zeigt, inszeniert ist – man sieht sie sogar »Action!« und »Cut!« rufen, als wäre es ein Spielfilm.
Nach und nach wird auch die Sensationslust des Publikums enthüllt, und die Inszenierung von Geschichten, um sie attraktiver zu machen.
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Jene Filmkritiker und Kinozuschauer, die der Ansicht sind, dass sein Regisseur seine Figuren und seine Geschichte unbedingt zu lieben habe, die können mit diesem Film nicht glücklich werden. Alle anderen aber umso mehr.
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Der zweite Erzählstrang dreht sich um die Hauptfigur. Diese Moderatorin wird von Léa Seydoux in einem der besten Auftritte ihrer Karriere glänzend verkörpert. Sie heißt France de Meurs – und zumindest ihr Vorname ist beziehungsreich doppelsinnig: Diese junge so oberflächliche wie gerissene vulgäre Powerfrau, die ihr Leben auf Instagram und ähnliche oberflächliche Dinge konzentriert, steht auch für das neue Frankreich unserer Gegenwart, zumindest für seinen neoliberal ausgehöhlten Teil.
Im Lauf des Films, motiviert durch einen kleinen Unfall mit Blechschaden, aus dem die Verursacher ökonomisches und vor allem soziales Kapital schlagen, und den Promistatus der Moderatorin ausbeuten, entwickelt sie sich zur Linksliberalen, die ihr schlechtes Gewissen entdeckt. Und der Film entwickelt sich zur Komödie.
Regisseur Dumont stürzt den Film und damit seine Hauptfigur in eine zunehmend surreale und absurde Chaosspirale. Aus banalen Gründen und einer gewissen alltagspraktischen Unfähigkeit verliert das Leben von France jede Struktur. Sie verkörpert etwas Größeres, weiß aber nicht, was sie tun soll, eine Frau, die die zerrissenen Versionen eines Landes in sich trägt, und nur durch ihre Designerkleidung zusammengehalten wird.
Darum ist France ein Film, der eher aussieht wie eine Komödie, aber tatsächlich auch von der Anstrengung einer ganzen Nation handelt, ihr attraktives Lächeln zu bewahren und die Tränen der inneren Erschütterung herunterzuschlucken.
Mal sehen, wer am Sonntag weinen wird...
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Ein Zufallsfund: In einem ganz wunderbaren, 1975 für die Zeitung geschriebenen Text, der den Titel »Beim Verlassen des Kinos« trägt (auf Deutsch im Sammelband »Das Rauschen der Sprache«, S.376-380), schreibt der angebliche Kinoverächter Roland Barthes über seinen Bezug zum Kinoraum – und es ist kaum verwunderlich eine Hymne geworden.
»Das Subjekt, das hier spricht, muß eines zugeben: es verlässt gern einen Kinosaal. Auf die beleuchtete und ein wenig leere Straße hinaustretend (es geht immer abends und unter der Woche hin) und träge auf irgendein Café zuhaltend, geht es schweigend dahin (es mag nicht sofort über den eben gesehenen Film sprechen), leicht benommen, unbeholfen, fröstelnd, kurzum, schlaftrunken; es ist müde, daran denkt es; sein Körper ist etwas Sopitives, Sanftes, Friedliches geworden: Weich wie eine schlafende Katze, fühlt es sich ein wenig ungelenk oder (kann doch für eine moralische Anordnung die Ruhe nur darin liegen) unverantwortlich. Kurz, es liegt auf der Hand, daß es aus einer Hypnose heraustritt.«
So geht es weiter.
Es ist immer wieder das reine Glück, Barthes zu lesen. Immer wieder macht man neue tolle Entdeckungen. Fünf Seiten genügen, dann ist der Tag gerettet.
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»So verläßt man oft das Kino. Wie aber betritt man es? Außer im – allerdings immer häufigeren – Fall einer sehr bestimmten kulturellen Suche (ausgewählter, gewollter, gesuchter Film, Gegenstand einer richtigen vorausgehenden Alarmierung) geht man aus Muße, aus Ungebundenheit, in einer Freizeit, ins Kino.«
Ein ganz wichtiger Punkt. Er wendet sich gegen die Kulturbourgeoisie, auch gegen das, was sich heute gern »Cinephilie« nennt und als solche maskiert: Die Verachtung des Jahrmarkts, die Beflissenheit gegenüber der Kunst, ein Verhältnis zum Kino, das sich nur daran beweisen und selbst bestätigen kann, dass man zu den Eingeweihten gehört, dass man jeden Film von Apichatpong Weerasethakul gut findet, (aus Prinzip scheint mir, das lässt sich aber naturgemäß nicht beweisen) und Tom Cruise doof, jedenfalls den des 21.Jahrhunderts.
Barthes sagt, dass das »Kino«, also der Raum und Zustand, den dieser Begriff meint, mit Muße, Ungebundenheit und Freizeit zu tun hat, dass ihm das Ausgewählte, Gewollte, Gesuchte, das »Richtige« entgegenstehen – so jedenfalls verstehe ich diese Passage und stimme voller Leidenschaft zu.
Kino ist mit unsittlichen und amoralischen Zuständen verbunden, mit Leere, Untätigkeit, Müßiggang, »einem schwarzen, anonymen, indifferenten ... Festspiel der Affekte«.
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Später findet sich noch ein schöner Vergleich zwischen Kino und Fernsehen, der sich leicht auf den zwischen Kino und Streaming oder Computerbildschirm übertragen lässt: »Durch das Fernsehen sind wir zur Familie verurteilt, zu deren häuslichen Instrument es geworden ist, wie früher der Herd mit dem gemeinschaftlichen Topf.« Dort »keinerlei Faszination; das Dunkel ist gelöscht, die Anonymität verdrängt; der Raum ist vertraut, gegliedert (durch Möbel, bekannte Gegenstände), aufgebaut: der Erotismus – sagen wir, um die Schwerelosigkeit, die Unvollendung begreiflich zu machen, eher die Erotisierung des Ortes ist verworfen.«
Der Besuch im Kino, »diesem urbanen Dunkel«, wo »die Freiheit des Körpers bearbeitet« wird, »diese unsichtbare Arbeit der möglichen Affekte« sich ereignet, dieser Besuch ist gegenüber dem Familienereignis Fernsehen jedes Mal ein Akt des Fremdgehens. Der Neugier und der Leidenschaft.
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In der französischen akademischen Tradition ist es Usus: Wenn ein Institut verröchelt, verdümpelt, versinkt, dann gründe ein Konkurrenzunternehmen. Im besten Fall: profitieren beide Institutionen. Das eine rappelt sich auf, das andere demonstriert seine Kraft. – Im anderen Fall: dasjenige überlebt und prosperiert, wo die Energien sich sammeln.
Aber eben nicht umgekehrt unendlich viel Kraft aufwenden, um ein erschöpftes, mit sich selbst beschäftigtes,
dysfunktionales System zu reformieren.
Das gilt für Redaktionen, für ganze Medien, es gilt auch für den PEN-Berlin.
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»Die Diversität umfasst nicht nur Geschlecht und Herkunft« – das ist so ein zentraler Satz der Gründungswoche.
PEN Berlin ist der Name der Neugründung, die von 232 Autoren gegründet wurde. Vorausgegangen: Die Selbstvernichtung der Schriftstellervereinigung PEN nach dem Zerwürfnis um den Präsidenten Deniz Yücel.
Das neue deutsche PEN Zentrum beruft sich auf die »Ideale der Aufklärung, der Meinungsvielfalt, der Toleranz und der Solidarität,«
Man steht also für Meinungsfreiheit, offenen Diskurs, Diversität und Solidarität. Mit dabei sind auch Eva Menasse, Nora Bossong, Lucy Fricke, Diedrich Diederichsen, Ursula Krechel, Christian Kracht und Thea Dorn, aber auch Filmemacher und viele Jourmalisten.
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Es ist so eine Frechheit: Am Tag der Gründung des PEN-Berlin titelt die dumme ZEIT tatsächlich: »Denis Yücel gründet neue Autorenvereinigung.« Aber nein! Es ist nicht Denis Yücel, der sie gegründet hat, sondern es sind 232 Autoren und Autorinnen. Es ist auch keineswegs eine Denis Yücel-Vereinigung. Es ist, wenn überhaupt, eine Vereinigung, die gegen den Typus Johanno Strasser gerichtet ist, gegen den Typus des Adabei, des Wort-Funktionärs, des sozialdemokratischen Rechthabers. Diese Vereinigung ist auch keine Dönerbude statt der Bratwurstbude.
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Das Wahre wird auch nicht dadurch falsch, dass man es »Westsplaining« nennt.
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Das »Filmfest München« hat sein Programm bekannt gegeben. Wird uns inhaltlich dann in der kommenden Woche beschäftigen. Endlich ist jedenfalls das Filmfest wieder halbwegs normal, nach Filmfest-Maßstäben natürlich, deshalb kann sich jeder, der nach München kommt, jetzt auch davon überzeugen, dass das Cannes-Programm stärker war, als in der deutschen Berichterstattung der Eindruck erweckt wurde.
Wirklich neu ist in München auch wie immer vor allem der deutsche Wettbewerb um den »Förderpreis«. Irritieren tun daran dann eher wieder mal die Verlautbarungen des Filmfests, wo der Dokumentarfilm leider wieder unter ferner liefen läuft, und man Sätze lesen kann wie »komplettiert wird das Programm von zwei ... Dokumentarfilmen«.
Gleich danach
etikettiert das Filmfest dann einen Film in seinem eigenen Programm als »Versuch« – nur ein Versuch? Echt? Oder vielleicht doch wenigstens »ein geglückter Versuch«? Richtig wohlwollend klingt das jedenfalls nicht. Wo doch das Filmfest Kino in allen Varianten feiern will. Aber richtig überraschend ist so etwas beim Filmfest auch nicht.
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Letzte Woche habe ich auf den Tod von Fassbinder vor 40 Jahren hingewiesen. Ergänzend möchte ich noch darauf aufmerksam machen, dass jetzt für »La Cinetek›, einem von der französischen Regisseursvereinigung getragenen Streaming-Portal, 32 angesehene Regisseure einen oder mehrere Filme aus dem bis heute nachhallenden imposanten Werk dieses kompromisslosen Filmemachers empfehlen. Manche der Teilnehmer leben allerdings schon länger nicht mehr, was zeigt, dass die Umfrage älter ist. So oder so: 10 seiner wichtigsten Spielfilme, sowie die komplette Staffel seiner Serie »Berlin Alexanderplatz« kann man jetzt dort ansehen.‹«
Das ist im Einzelnen nicht uninteressant: Die Deutsche Maren Ade empfiehlt Warum läuft Herr R. Amok? (1970), Jutta Brückner und Wim Wenders, aber auch Martin Scorsese empfehlen Händler der vier Jahreszeiten (1971), Thomas Arslan wie Chantal Akerman und Atom Egoyan In einem Jahr mit 13 Monden (1978), Die bitteren Tränen der Petra von Kant (1972) ist der Favorit von u.a. Ira Sachs und Abel Ferrara, Angst essen Seele auf (1974) von Nadav Lapid, François Ozon, Robert Guédiguian; Faustrecht der Freiheit (1974) von Alain Guiraudie, Die Ehe der Maria Braun (1978) von Agnès Varda, Marjane Satrapi und Elia Suleiman; Lola (1981) von Todd Haynes und Die Sehnsucht der Veronika Voss (1982) von Bertrand Bonello.
Deutsche TV-Sender, aber auch ARTE haben sich leider zu nichts auch nur annähernd Vergleichbarem entschlossen. Mal wieder typisch.
Dann sollen sie sich nicht wundern, wenn sie mit ihrem Publikum aussterben.
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Auch Regisseure lieben übrigens Listen: Auf LaCinetek kann man auch die Listen der 50 Lieblingsfilme von mehr als 100 Regisseuren nachlesen.
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Wann haben wir ihn verlernt, den »Gleichmut gegenüber den Ideen«, von dem Roland Barthes spricht? Wann ist unsere Sensibilität gegenüber den Anderen durch die Empfindlichkeit gegenüber dem Ich, dem Ego, durch den Narzissmus ersetzt worden?
(to be continued)