Nachworte |
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Quiet is the new loud: Old Joy von Kelly Reichardt |
Da für einen gewissenhaften, differenzierten, vollständigen Jahresrückblick dieses Mal leider die Zeit fehlt, ich das Kinojahr 2008 aber nicht ganz kommentarlos vorbeiziehen lassen möchte, wollte ich nur kurz anmerken,
... dass ein Filmjahr, in dem There Will Be Blood (der durch die David Lean-Retrospektive im Filmmuseum noch weitere, interessante Facette gewonnen hat) und No Country for Old Men zu sehen sind, grundsätzlich schon mal ein gutes ist, egal was sonst noch lief;
... dass man bei Gomorra und Waltz With Bashir angesichts ihrer inhaltlichen Brisanz nicht übersehen sollte, dass sie auch formal herausragend waren und dabei in bester Weise die gesamte Bandbreite der Kunstform Film – vom direkten Realismus bis zur abstrakten Verfremdung – repräsentierten;
... dass aus dem Stoff von La Zona in US-Amerika ein Paranoia-Terror-Science Fiction-Film gemacht worden wäre, den man dann als interessante (aber fiktive) Parabel auf den herrschenden Angst- und Sicherheitswahn betrachtet hätte, während die vorliegende Verfilmung aus Latein-Amerika durch die Schilderung eines möglichen wenn sich sogar tatsächlichen Alltags-Horrors erschüttert;
... dass das Motto »quiet is the new loud«, das die Popmusik schon vor ein paar Jahren geprägt hat, nun auch im amerikanischen Kino angekommen ist und der gemeinsame Nenner so unterschiedlicher (aber durchgehend guter) Filme wie Dan – Mitten im Leben, Die Geschwister Savage (dessen deutscher
Titel sehr bezeichnend unkorrekt ist, da der Originaltitel The Savages eben auch den dementen Vater der beiden Geschwister beinhaltet), G Grace is Gone und Old Joy war.
In die Reihe passt theoretisch auch Paranoid Park von Gus van Sant, nur ist der weniger im Rahmen eines Trends oder einer allgemeinen Stimmungslage, als vielmehr in einem der eigenständigsten und vielschichtigsten Oeuvres des aktuellen (amerikanischen) Kinos zu sehen;
... dass die Verfilmung von Schmetterling und Taucherglocke all das richtig macht, was die Verfilmung von 39,90 falsch macht;
.... dass So viele Jahre liebe ich dich ein ganz ausgezeichnetes Drama ist, dessen versöhnliches Ende nicht deshalb so ärgerlich ist, weil ein Drama zwangsläufig hoffnungslos und deprimierend ausgehen muss, sondern weil hier der positive Schluss durch die Erklärung, Rechtfertigung und damit letztlich auch Entschuldigung aller den Film tragenden, unklaren Motivationen erkauft wird;
... dass mir von den beiden großen Musikerbiographien Control besser als I’m Not There gefallen hat, obwohl der zweite vermutlich der »bessere« Film war, ich dort aber (zu) vieles nicht bzw. nicht richtig verstanden habe, weil ich mich nicht seit Jahren intensivst(!) mit Leben und Werk von Bob Dylan auseinandersetze;
... dass Falco – Verdammt, wir leben noch! zwischen unübersehbaren Qualitäten und massiven Schwächen, zwischen groß angelegtem Weltkino und österreichischer Provenienz bzw. Provinzialität hin und her schaukelte, was den Film ein wenig uneinheitlich machte, was aber eine adäquate Art war, vom ähnlich wechselhaften Leben des Hansi Hölzels zu erzählen;
... dass man die Vielfalt von Musik und Musikfilmen schön auch an Once und Die Band von nebenan bewundern konnte, wobei mich bei letzterem die abgedroschene Geschichte vom wortkarg abweisenden, alten Mann und der unbeirrbar zutraulichen, schönen Frau genervt hat;
... dass ich irgendwo gelesen habe, dass Happy-Go-Lucky der »heiterste« Film von Mike Leigh sei, was ein sehr relatives Urteil ist, weil hier unter der heiteren Schale ein äußerst ernster und (gewohnt) desillusionierender Film steckt und weil Leighs wenig bekannter Topsy Turvy mindestens genau so »heiter« ist;
... dass der politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Unsinn, der sich in der sogenannten Bush-Ära in Amerika abgespielt hat, immerhin zu einigen ganz guten (»Protest«-)Filmen führte, in die mit großer Wahrscheinlichkeit George Clooney verwickelt war. 2008 waren dies Michael Clayton und Burn After Reading, der streckenweise leider etwas zu klamottenhaft war.
Mit
Barak Obama werden diese Filme sicher nicht schlagartig verschwinden, da sich viele Missstände auch von ihm nicht von heute auf morgen abstellen lassen und die (jüngere) Geschichte Amerikas noch genügend Stoff für zahlreiche solcher Werke bereit hält, was dieses Jahr der äußerst gelungene Der Krieg des Charlie Wilson bewies;
... dass ich aus You Kill Me und Unter Kontrolle nicht wirklich schlau wurde, ich nur schwer festmachen kann, was mir daran gefallen bzw. nicht gefallen hat, was insgesamt gesehen aber ein gutes Zeichen ist, da ich mich im Kino lieber nachhaltig verwirren und verunsichern als eindeutig langweilen lasse;
... dass man bei Sweeney Todd, dem neuesten Tim Burton- / Johnny Depp-Gruselstück nicht den Fehler machen sollte, ihn als Selbstverständlichkeit (zu) gering zu schätzen, sondern man sich immer wieder klar machen muss, wie wunderbar jedes einzelne dieser Werke ist;
... dass ich I Am Legend erstaunlich gut fand, obwohl er inhaltlich nahezu identisch mit dem hochgeschätzten 2 28 Weeks Later ist und auch die Erlöser-Thematik am Ende ein bisserl arg dick aufgetragen war;
... dass Iron Man in diesem Jahr mein liebster Blockbuster-Film war, weil hier (Selbst)Ironie, Timing und kulturelle Referenzen und nicht (Bier-)Ernst, Hektik und aufgeblähte Realitätsbezüge vorherrschten;
... dass ich bei keinem Film so gelacht habe wie bei Tropic Thunder, der für eine Film von und mit Ben Stiller überraschenderweise immer im rechten Moment (vor dem totalen Klamauk) die Kurve kriegt und dass ich unter den durchgehend tollen Schauspielerleistungen die von Robert Downey Jr. besonders erfreulich fand, weil dieser zwar regelmäßig gute Vorstellungen liefert (siehe u.a. auch Iron Man), langsam aber Gefahr lief, in der immer ähnlichen Rolle des leicht lästerlichen Dandys ein wenig eindimensional zu werden;
... dass mich dagegen die Rolle von Tom Cruise in Tropic Thunder in einen der schwersten moralischen Konflikte des Jahres gestürzt hat. Angesichts seiner mehr als obszönen Performance dachte ich erst: »Darf DER das überhaupt?« Als ich dann doch darüber lachen musste, dachte ich entsetzt: »Darf ICH das überhaupt?«
Als ob die Frage »Darf man über Hitler lachen?« nicht schon schwer genug wäre,
musste ich mich hier plötzlich mit der Frage »Darf man über die Vorstellung von jemanden lachen, dem es nicht zusteht, einen Hitler-Attentäter zu spielen?« auseinandersetzen
... dass Die Girls von St. Trinian und Der Sohn von Rambow genügend schöne Momente und nette Ideen hatten, um mich gut zu unterhalten, sie letztlich aber dann doch zu sehr den Vorgaben des Jugendfilms folgten, um ein uneingeschränktes (sarkastisches) Vergnügen zu sein;
... dass Standard Operating Procedure einer der ganz wenigen Dokumentarfilme war, die mich dieses Jahr uneingeschränkt beeindruckt haben und dass dieser zudem das beste Antidot für die schwer zu ertragende Moralsauce in The Dark Knight war;
... dass die Doku Jimmy Carter: Man From Plains von Jonathan Demme, die mir ähnlich gut gefallen hat, leider nicht regulär im Kino, sondern nur auf dem Filmfest München lief;
... dass die ebenfalls sehenswerte Doku Der große Navigator über Missionare in Ostdeutschland leider auch keinen offiziellen Kinostart hatte;
... dass dafür wieder eine unglaubliche Zahl belangloser Dokus in die Kinos kamen, was sich nur dadurch erklären lässt, dass sie geringe Herstellungskosten und (aufgrund ihres jeweiligen Themas) eine praktisch garantierte Zuschauerzahl haben, womit sie eigentlich die Voraussetzungen eines Exploitation-Films erfüllen;
... dass ich dieses Jahr von erstaunlich vielen Filmen (mit und ohne hoher Erwartung) enttäuscht war und auffällig viele davon mit Verbrechen in England bzw. englischen Verbrechern bzw. englischen Verbrechensbekämpfern zu tun hatten;
... dass das Kinojahr 2008 besser war als das Börsenjahr 2008 und man sich wohl auch 2009 sinnvollerweise mehr mit Filmbesuchen als mit Aktienspekulationen beschäftigen sollte.
Michael Haberlander