Gestrandet auf Corona Island
The Art of Missing Out |
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Starring das Corona-Virus: Das Filmarchiv Austria zeigt in seinem Retroprogramm »Die Stunde Null« auch Wolfgang Liebeneiners 1. April 2000 | ||
(Foto: Filmarchiv Austria) |
Von Dunja Bialas
Fear of missing out. So nennt man die Angst, etwas zu verpassen. Früher, zu normalen Zeiten, gab es bisweilen zu viele sozio-kulturelle Angebote auf einmal: zwei Geburtstagseinladungen an einem Abend, das an dem Wochenende, an dem man eigentlich ein Festival besuchen wollte, dann noch die spannende Diskussionsrunde zu Gender und Kultur in den Kammerspielen und der historische eminent wichtige Film im Filmmuseum, angeblich von einer schwer zu bekommenden 35mm-Kopie. Alles an einem Abend! Wie soll man sich da nur entscheiden?
Beim Überangebot droht der Kollaps. Psychologen haben herausgefunden, dass in diesen Fällen oft eine Nichtentscheidung stattfindet, und man in einer Art antisozialer Trotzreaktion dann eben lieber gleich auf alles verzichtet. Besser allein auf dem Sofa als der Stress der vielen Hochzeiten. Prä-coronales Social Distancing.
Dieser Stress zumindest, so sollte man meinen, wurde uns mit der Kontaktsperre abgenommen. Tatsächlich aber erfahren wir jetzt, wie sehr sich der digitale Raum und das virtuelle Leben inzwischen als unser aller Second Life etabliert haben. Die Kultur hat relativ schnell reagiert und viele der Angebote ins Netz verlagert. Festivals halten digitale Ausgaben ab, bei denen sich auch ein Festivalfeeling mit Filmgesprächen und ausverkauften Vorstellungen ergeben soll – in einem bestimmten zeitlichen Slot kann man den Film dann online sehen, fast wie beim tatsächlichen Besuch im echten Kinosaal. Nur eben: mit Zugriff statt Zutritt.
Fear of missing out: Auch im digitalen Leben kann man was verpassen, das entsprechende Akronym »FOMO« entstammt dem Internet-Sprech. So ist nahezu unüberschaubar, wo überall online Filme angeboten werden, und welche. Auf unendlich muss mittlerweile die Zahl angewachsen sein, wie unsere wöchentlich aktualisierte artechock-Linksammlung #coronaabsagen zu Streaming-Angeboten jenseits der Big Player Netflix, Amazon, Disney Plus & Co. vermuten lässt. Dazu kommt: Viele der Angebote sind kostenlos. Das ist einerseits schön und erfreulich, andererseits, und jetzt kommt der filmpolitische Zeigefinger: Kultur darf es nicht zum Nulltarif geben. Schon gar nicht jetzt.
Im Hinblick auf all die von Corona ausgebremsten Verleiher und Kinobetreiber empfiehlt sich daher, eine Art Ausgleichszahlung zu tätigen, wenn man frei angebotene Filme streamt, ähnlich dem CO2-Ablasshandel. Möglichkeiten für die Solidaritätsbekundung gibt es viele: So könnte man der entsprechenden Anbieter-Plattform freiwillig einen Betrag spenden, oder man kauft einen Kinogutschein beim Lieblingskino. Wenn einem an den Berlinern Programmkinos gelegen ist, hat man die Möglichkeit, beim Crowdfunding »Fortsetzung folgt« mitzumachen. Oder man spendet direkt an ein Kino seiner Wahl, das geht auch bei gewerblichen Kinos.
Streamen kann die Chance sein, Filme zu gucken, die sonst unterrepräsentiert sind, im Kinoalltag schlichtweg nicht (mehr) vorkommen. Dazu zählen der Kurzfilm, den jüngst 3sat abgewickelt und aus seinem Programm gestrichen hat, und die Kinobetreiber viel zu selten im Vorprogramm zeigen, obwohl die FFA das mit Bargeld belohnt. Dazu zählt der Experimentalfilm, der zwar Meilensteine der Filmgeschichte hervorgebracht hat, aber dennoch weitgehend ignoriert wird, ist er einmal im Kino zu sehen. Und da sind dann noch die Retrospektiven, die bisweilen untergehen unter dem immer Neuen.
Besonders hervorheben für den Experimentalfilm möchte ich die schier unendliche Streaming-Datenbank UbuWeb, die von verschiedenen amerikanischen Universitäten initiiert wurde. UbuWeb versammelt weit über 1000 Filmtitel aus der Filmgeschichte der historischen und zeitgenössischen Avantgarde. Die »Not for Profit Organisation« trägt dafür digitale Kopien schwer zugänglicher Avantgarde-Filme zusammen, die nicht mehr im Umlauf sind. Darunter finden sich eine Masse an Experimentalfilmen (z.B. von Michael Snow oder Hollis Frampton), Musikfilme (z.B. von Sonic Youth), Künstlerfilme wie Johan Grimonprez’ DIAL H-I-S-T-O-R-Y (1997), oder Raritäten wie Ulrike Meinhofs Bambule (1970), Luc Moullets Schwarzfahrerfilm Barres (1973) oder Filme von Susan Sontag. Und dann noch etliche Filme von Jean-Luc Godard. Und, und, und!
Kurzfilme kommen jetzt auch zu ihrem Recht. Bevor die Kurzfilmtage Oberhausen eine online-Edition abhalten, kann man sich schon mal bei der Kurzfilmagentur Hamburg, beim Collectif Jeune Cinéma oder bei Talking Shorts, dem Dresdener Kurzfilmmagazin, umsehen. Wer es etwas glamouröser will, findet beim amerikanischen Filmmagazin IndieWire 15 Short Films by Great Directors, darunter Andrea Arnolds großartiger Wasp, Doodlebug von Christopher Nolan oder Martin Scorseses The Big Shave.
Für alle, die Filmgeschichte vermissen, gibt es die seit 1996 kontinuierlich aufgebaute Digital Library »Internet Archive« mit Sitz in San Francisco, oder die Berliner OxDB, die einen theoretischen Ansatz zugrunde legt: »It is intended to help us rethink the future of cinema on the Internet, just as it tries to push the boundaries of what we understand as 'web applications'«. Aber auch einige Filmmuseen haben ein kleines online-Programm im Angebot. So hat das Filmarchiv Austria seine Retrospektive kurzerhand ins Netz verlagert und zeigt passenderweise Filme zur »Stunde Null«. Das Filmmuseum Wien hält auf seiner Website Dziga Vertovs Wochenschauen bereit, oder Video-Essays, die erhellende Querbezüge innerhalb der Filmgeschichte erstellen (darunter auch ein Essay zu John Cooks bahnbrechendem Langsamer Sommer). Das Arsenal Insitut in Berlin hat seinen virtuellen Kinosaal arsenal3 für die Corona-Zeit für alle frei zugänglich gemacht. Hier können in wechselnden Wochenprogrammen dokumentarische und experimentelle Filme entdeckt werden. Diese Woche – es ist übrigens erst Woche 2 – empfehle ich besonders: Philip Scheffners Revision, Joshua Bonnetta & J.P. Sniadeckis El mar la mar oder Alex Gerbaulets Die Schläferin.
Mit diesem kurzen Schlaglicht auf all das, was es jenseits des ohnehin Bekannten und leicht Auffindbaren noch so gibt, können wir alle die kinoferne Zeit hoffentlich besser überstehen, ohne in den allzu ungesteuerten Filmkonsum zu verfallen. Filmfreunde hatten mir geschrieben: »Ich bin jedenfalls überfordert von den vielen Streamingangeboten und freue mich schon auf klar strukturierte Kinoprogramme;«, oder: »ooooh ja ich bin auch überfordert und freue mich auf das Programm der Kurator*innen meines Vertrauens!!!« Ein paar zwingende Anlaufstellen gibt es also, neben dem, worüber wir bei »artechock« bereits berichtet haben (siehe zum Kino-Solistreaming von Grandfilm und Eksystent, zu Filmen von Nicolas Winding Refn und Kinderfilmen für Erwachsene bei Mubi oder zu versteckten Filmen auf Netflix).
Wenn jeder etwas anderes sieht, droht natürlich die kulturelle Vereinzelung, eine Explosion der medialen Diskurse, anders als im Kinoalltag, wo sich alle auf die wenigen besten Filme der Woche einigen können. Das einsame Abdriften in der Sofaecke ist, solange es sich um das Streamen von Avantgardefilmen handelt, auch gar nicht anders zu erwarten. Streamen von Disney Plus wäre womöglich die Antithese dazu.
In diesem Sinne: Enjoy the art of missing out!