71. Berlinale 2021
Sommer-Berlinale 2021: Kurzkritiken-ABC |
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Silberner Bär für Herr Bachmann und seine Klasse von Maria Speth | ||
(Foto: 71. Berlinale Presseservice) |
Albatros (F 2021, R; Xavier Beauvois): Polizisten-Depression in der Normandie: 15 Jahre nach Le petit lieutenant liefert Xavier Beauvois ein diesem in narrativer Struktur und Tonalität frappierend ähnelndes Komplementärwerk ab. Auch atlantische Irrfahrt nebst Sirenengesang können nicht drüber hinwegtäuschen, dass man das schon mal besser gesehen hat. (Sedat Aslan)
Any day now (Ensilum, FIN 2020, R: Hamy Ramezan): Ramin, ein 13-jähriger iranischer Junge, lebt mit seinen liebevollen Eltern und der kleinen Schwester in einer Flüchtlingsunterkunft und macht in diesem Sommer ganz neue Erfahrungen, die durch die Abschiebung der Familie jäh unterbrochen werden. Ein unaufdringliches wie starkes Plädoyer für Menschlichkeit. (Christel Strobel) (-> Generation Kplus & 14plus-Überblick)
Bad Luck Banging or Loony Porn (RO 2021, R: Radu Jude): Filmgewordener Eklektizismus –mit einem Porno-Video als Vorspiel, bilden ein Stadtrundgang in Bukarest, ein bebildertes Wörterbuch und ein lächerliches Tribunal Radu Judes Triptychon, das mit zunehmender Dauer von verstörend über erhellend zu erhebend wird, und seinen Punkt doppelt und dreifach nach Hause fährt. Wer bitte traut sich an »unseren« State-of-the-Nation-Film? (Sedat Aslan) // Das Warten lohnt sich. Ein betont disparater Film mit etwas verfahrenen, aufgesetzten ersten Teil (allein die endlosen Kamerafahrten durch Bukarester Tristesse, bei denen man ständig sagen will: jetzt ist es aber gut, ich weiß schon, was du mir sagen willst), einem zu theoretisch-thetischem Mittelteil, aber einem versöhnenden, großartigen Finale, in dem so ziemlich alles gesagt wird, was man im Moment zum Dilemma der sozialen Medien und populistischer Politik sagen kann. Großes Theater und Goldener Bär. Über den man sich wie jedes Jahr natürlich streiten kann. (Axel Timo Purr) (-> Langkritik)
Ballad of a White Cow (IRN/F 2020, R: Behtash Sanaeeha, Maryam Moghaddam): Iranian New Wave auf der Berlinale, alle Jahre wieder, und alle Jahre ein ernsthafter Bärenkandidat. Langsam, konzentriert, mit einer sich unerbittlich zuspitzenden Spannung setzen sich eine zur Witwe gemachte Frau und ein zweifelnder Todesrichter still zur Wehr. Eine bitterböse Parabel über Schuld und die Unmöglichkeit, in einem menschenverachtenden System seinen Seelenfrieden zu bewahren. (Sedat Aslan)
Beans (CAN 2020, R: Tracey Deer): Für das zwölfjährige Mädchen Tekahentahkhwa, genannt „Beans“, deren Familie den Mohawk-First Nation People angehört, bricht die behütete Welt zusammen, als die Einwohner der Nachbargemeinde Oka deren Land beanspruchen. Tracey Deers Film basiert auf ihren eigenen Erfahrungen während der gewalttätigen „Oka-Krise“ 1990 in Québec und ist dementsprechend authentisch, engagiert und wichtig. (Christel Strobel) (-> Generation Kplus & 14plus-Überblick)
Brother’s Keeper (TR/RO 2021, R: Ferit Karahan): Alltags-Misshandlungen in einem ostanatolischen Internat. Ferit Karahan beobachtet und inszeniert seine Kinderdarsteller in diesem schneeverwehten, klaustrophobischen Drama wie einst Vigo und Truffaut. Nur der umpfzigste Doinel-Kamerablick hätte nicht sein müssen. (Sedat Aslan)
Censor (UK 2021, R: Prano Bailey-Bond): Filmzensorin wird Protagonistin in ihrem eigenen Horrorfilm: Prano Bailey-Bonds in Sundance vielbeachteter Debütfilm ist eine Hommage an die „Video Naughties“der 80er Jahre, der stellenweise an Polanski und Cronenberg erinnert. Hauptdarstellerin Niamh Algar trägt den Film, und DOP Annika Summerson kadriert messerscharf. Schade nur um den Meltdown im 3. Akt. (Sedat Aslan)
Cryptozoo (USA 2021, R: Dash Shaw): Ein Animationsfilm, der nicht nur durch seine umwerfenden Zeichnungen und Montagen überrascht, sondern auch durch seine Handlung –ein psychedelischer Trip in und für das Anderssein, in dem Albträume abgesaugt werden, Tarot, Mother Earth und ein sehr gegenwärtiger militanter Kapitalismus aufeinandertreffen und bei aller Ambiguität niemand wirklich den Sieg davonträgt. Ein Drogenrausch, der auch Kopfzerbrechen bereitet. Lobende Erwähnung im Wettbewerb Generation 14plus. (Axel Timo Purr) (-> Generation Kplus & 14plus-Überblick)
Fabian oder Der Gang vor die Hunde (D 2021, R. Dominik Graf): Graf macht aus Kästners »besonnenem«, stilistisch »konservativen« Roman eine Dos Passos meets Döblin-Verfilmung. Das nervt bisweilen so sehr, dass man sich wünscht, Stanley Kubrick möge wiederauferstehen und sich des Stoffes annehmen, so wie er sich kongenial Barry Lyndon oder Clockwork Orange angenommen hat. Ein Film, der sich gegen das Erzählen wehrt wie Muhammad Ali am Ende seiner Karriere gegen das Boxen. (Axel Timo Purr) (-> Langkritik)
Fighter (KOR 2020, R: Jéro Yun): Das Rocky-Genre ganz neu variiert. Die junge von Nord- nach Südkorea geflohene Jina boxt nicht nur gegen die Traumata von Flucht und prekären Familienverhältnissen, sondern auch gegen Diskriminierung und für die Liebe. Ein Film, der durch Stille mehr erklärt als jede laute Politik und allein schon wegen der dunklen Stimme der Hauptdarstellerin unbedingt sehenswert ist. (Axel Timo Purr) (-> Generation Kplus & 14plus-Überblick)
From the Wild Sea (DK 2021, R: Robin Petré): Ein bisschen Greenpeace-Film, dann aber auch ruhig besonnene, manchmal fast lyrische Bestandsaufnahme, die so dokumentarisch wie eindringlich zeigt, was der Klimawandel von unseren Meeren und ihren Bewohnern fordert, und dass es leider nicht immer hilft, zu helfen. Im Hintergrund pulsiert die beunruhigende Frage: wer soll nur den Menschen helfen, wenn sie in naher Zukunft selbst stranden? (Axel Timo Purr) (-> Generation Kplus & 14plus-Überblick)
Guzen to sozo –Wheel of Fortune and Fantasy (JP 2021, R: Ryusuke Hamaguchi): Drei Kurzgeschichten über die Liebe, die sich von einem schwachen, skandalhungrigen Fernsehniveau bis zu einem überraschenden, berührenden Finale hocharbeiten. So lässt der Film ein leichtes und zartes Gefühl zurück, das die holprigen ersten zwei Episoden gar nicht verdient haben. Silberner Bär Großer Preis der Jury. (Anna Edelmann)
Han Nan Xia Ri (Sommerflirren, CN 2020, R: Han Shuai): Im Mittelpunkt des filmsprachlich anspruchsvollen Kinderfilms steht die schwierige Phase vom Kind zum Teenager, die das Mädchen Guo in den Sommerferien fern der Mutter erlebt. – Kplus-Preisträger der Internationalen Jury / Generation. (Christel Strobel) // Ein düsterer, visuell starker Blick auf den Preis, den die chinesische Gesellschaft für den protegierten Turbokapitalismus zahlt: so emotional verwahrlost die Eltern sind, so sind es die Kinder. Kinder und Jugendliche, die so einsam sind, dass sie ihre Einsamkeit nicht einmal wahrzunehmen scheinen und Freundschaften nur neue Traumata erzeugen. Die 13-jährige Guo ist dabei fast so etwas wie die Schwester der Königin von Niendorf und dann sind da noch die geweckten Erinnerungen an Wang Xiaoshuaia Meisterwerk Bis dann, mein Sohn. (Axel Timo Purr) (-> Generation Kplus & 14plus-Überblick)
Herr Bachmann und seine Klasse (D 2021, R: Maria Speth): Maria Speths epischer Dokumentarfilm zeigt, dass Bildungsarbeit wie Entwicklungshilfe im eigenen Land sein kann. Außer einer kurzen Klassenfahrts-Episode findet alles im Klassenzimmer statt und streift Themen von Migrationsaspekten, Religion, Sexualität und natürlich Sozialverhalten, und führt die Kinder dabei an keiner Stelle vor. Vor allem sind einem nach 215 schnell vergangenen Minuten die Schüler der 6B der Georg-Büchner-Gesamtschule Stadtallendorf und ihr Lehrer, der an Robin Williams in Der Club der toten Dichter denken lässt, ans Herz gewachsen wie die Protagonisten einer guten Serie, und so wie Herr Bachmann verdrückt man selbst beim Abschied eine Träne. Schön, dass die Jury das auch so gesehen hat (Silberner Bär Preis der Jury). (Sedat Aslan)
Ich bin dein Mensch (D 2021, R: Maria Schrader): Maria Schraders Near-Future-Lustspiel nähert sich übers Zwerchfell den ganz großen Fragen unserer Existenz. Eine gefällige, aber nicht beliebige Komödie, die im Schaufenster der internationalen Filmkunst je nach Standpunkt für einen willkommenen Farbtupfer sorgt oder fehl am Platz ist. (Sedat Aslan) // Nach einer schlimmen ersten viertel Stunde, mit so steifen wie banalen Dialogen, fängt sich Schraders Film (oder gewöhnt sich der Betrachter einfach nur daran?) und wird zu der soliden TV-Produktion als die er auch gedacht war und die nie an die Intensität von Klassikern des KI- bzw. Android-Genres (siehe Blade Runner/Do Androids dream of electric sheep) heranreicht. Wie auch schon in Schraders Serie Unorthodox ist Schraders »Berlin« ein Hipster-Berlin, eins ohne Ecken und Kanten. Silberner Bär für die Beste Schauspielerische Leistung in einer Hauptrolle für Maren Eggert. (Axel Timo Purr) (-> Langkritik)
Ich und die Anderen (D 2021, R: David Schalko): Feuer frei für einen vierstündigen Achterbahnritt ohne Gurt und Exit-Strategie in dieser Groteske über einen gläsernen Mann ohne Eigenschaften mit den schrägsten Figuren, wahnwitzigsten Dialogen und absurdesten Ideen, die es im gesamten TV-Jahr 2021 geben wird. Von Schauspielern, Ausstattung, Bildgestaltung, Montage wollen wir gar nicht erst anfangen. OMFG! (Sedat Aslan)
Introduction (KOR 2020, R: Hong-Sangsoo): Hong-Sangsoo macht mal wieder Hong-Sangsoo-Sachen in diesem einstündigen slice-of-life in Schwarz-Weiß, conversation with family & friends, auch wieder mit Digital-Zooms, diesmal aber ohne Katze. Überfällig, dass jemand Berlin wie eine stinknormale ostasiatische Großstadt filmt, und das direkt neben dem Berlinale-Palast! Silberner Bär für das Beste Drehbuch. (Sedat Aslan)
Je suis Karl (D/CZ 2021, R: Christian Schwochow): Blöde Frage, aber: Was will dieser Film? Den immer radikaler werdenden Zeitgeist einfangen? Zeigen, dass junge Menschen auch im Westen durch traumatische Erfahrungen zu Tätern werden können, so wie es in Nahost minütlich geschieht? Oder dass man sich der hohlen Propaganda, wir könnten uns nur durch innere Aufrüstung behaupten, widersetzen muss? Ein knallbunter Einfaltspinsel von einem Film, in dem die Beschäftigung mit dem Thema sowie die Figuren und deren Beziehungen durchgängig Schablone bleiben, und die Ästhetik nie einen eigenen Zugang zum Grauen jenseits von Banalitäten findet. (Sedat Aslan) // Je suis Karl bringt die Gefahr gegenwärtiger radikaler Populismuspolitik auf den Punkt und zeigt wie gefährlich, unangreifbar und sexy die junge Rechte sein kann. Schwochow zeigt dabei nicht nur überzeugend, wie leicht es ist, sich in diesem moralischen Dickicht zu verlaufen, sondern auch wie schwer es ist, die Sprache des „richtigen“Widerstandes zu dechiffrieren. Ein Film zur „rechten“Zeit. (Axel Timo Purr) // Ein Film, der wachrüttelt! Weil der Blutdruck selbst nachts um zwei in die Höhe schnellt darüber, wieviel Murks man in 126 Minuten packen kann. Immer wenn man glaubt, man hätte den untersten Höllenkreis erreicht, bittet der Film: »Folgen Sie mir durch diese Tür...« Entweder ist das Cointelpro von den Neonazis, die einen in ihre Arme treiben wollen, einfach aus Trotz, dass man nicht zur Seite gehört, die vermeintlich solche Filme macht. Oder es ist bewusst dazu da, dass man lachend und kopfschüttelnd drauf zeigen kann, wann immer Neurechte behaupten, man müsse stolz sein auf die deutsche Kultur. (Anna Edelmann) (-> Langkritik)
Jong chak yeok (Bis ans Ende der Welt, KOR 2021, R und B: KWON Min-pyo, SEO Hansol): Vier Schülerinnen erhalten im Fotografiekurs die Aufgabe, in den Sommerferien mit altmodischen analogen Kameras „das Ende der Welt“ zu erkunden. Die originelle Idee geht allerdings im permanenten Geplauder der Teenager unter. (Christel Strobel) (-> Generation Kplus & 14plus-Überblick)
Kelti (SRB 2021, R: Milica Tomovic): Belgrad, 1993: Eine ausufernde Feier, getrennt in zwei sich spiegelnde Welten. Im Wohnzimmer tragen die Kinder im Zuckerrausch ihre Pausenhofreibereien aus; in der zugequalmten Küche streiten die Eltern im Alkoholrausch über Politik. Der Debütfilm der serbischen Regisseurin Milica Tomovic sieht aus, als hätte Mike Leigh seine Farbpalette erweitert und amüsiert mit groben und feinen Pinselstrichen einen Kindergeburtstag gemalt. (Anna Edelmann)
Letzte Tage am Meer (Last Days at Sea, PHL/TWN 2021, R: Venice Atienza): Für ihren Debütfilm begleitet Venice Atienza den zwölfjährigen Reyboy in seinen letzten Ferien in dem malerischen Fischerdorf, wo er zu Hause ist, vor dem Schulwechsel in die Stadt. Paradiesische Momente am und im glasklaren Meer –durchzogen von leiser Melancholie. (Christel Strobel) (-> Generation Kplus & 14plus-Überblick)
Das Mädchen und die Spinne (CH 2021, R: Ramon & Silvan Zürcher): Nach Das merkwürdige Kätzchen bohrt Ramon Zürcher, diesmal mit seinem Zwillingsbruder Silvan, erneut in ein unheimliches Vier-Wände-Wespennest menschlicher Beziehungen, macht Schauspieler zu Akteuren, und das, anders als Max Linz und Julian Radlmaier, größtenteils ironiebefreit. Für Formalismus-Fans vortrefflich. (Sedat Aslan)
Memory Box (F/LBN/CAN/QAT 2021, R: Joana Hadjithomas & Khalil Joreige): Was der Tochter im heutigen Kanada ihr social media, war der Mutter im Beirut der ‘80er einst ihr multimediales Tagebuch. Text, Fotos – und Musik-Kassetten mit exakt den New Wave-Songs, die auch die Jugend im Westen prägten. Manches davon stellt der Film zu offensichtlich nur nach. Aber es bleibt die Kino-Hoffnung, dass Bilder die Wahrheit hinter erzählter Erinnerung bewahren, über Generationen enthüllen. (Anna Edelmann)
La Mif (F 2021, R: Fred Baillif): Pflicht oder Wahrheit oder auf der Suche nach einem moralischen Kompass: Ein französisches Mädchenheim als ernüchternder Spiegel unserer zerrissenen Gesellschaft, der nicht davor zurückschreckt, über semi-dokumentarische Spielelemente Ernst zu machen. Großer Preis der Internationalen Jury für den Besten Film im Wettbewerb 14plus. (Axel Timo Purr) (-> Generation Kplus & 14plus-Überblick)
Mission Ulja Funk (D/LUX/PL 2021, R: Barbara Kronenberg): Ein total schräges Roadmovie –mit Ecken und Kanten –nach einem Originalstoff (Initiative »Der besondere Kinderfilm«) über eine 12-jährige Asteroiden-Forscherin, die nicht nur ihre russlanddeutsche Familie aufwirbelt. (Christel Strobel) (-> Generation Kplus & 14plus-Überblick)
Nebenan (D 2021, R: Daniel Brühl): Daniel inszeniert Daniel spielt Daniel: ein Kneipenkammervexierspiel. Interessante Idee, mäßige Ausführung, man bleibt merkwürdig ungerührt zurück. Insbesonders die unterschiedlichen Schauspielstile und das fahle Finale sorgen für Stirnrunzeln. Übrigens, der Autor heißt auch Daniel. Das ist aber der von der Vermessung. (Sedat Aslan)
Nelly Rapp –Monster Agent (Nelly Rapp –Monsteragentin, SWE 2021, R: Amanda Adolfsson): Vordergründig ist dies ein unterhaltsamer Monsterfilm mit einem Arsenal an undurchsichtigen Figuren, hintergründig geht es auch um Freundschaft. Aber vor allem bleibt Matilda Gross als beherzte Nelly im Gedächtnis. (Christel Strobel) (-> Generation Kplus & 14plus-Überblick)
Ninjababy (NOR 2021, R: Yngvild Sve Flikke): Eine Perle in der Generation 14plus-Sektion, die man sich unbedingt im Double-Feature mit Eliza Hittmans Niemals Selten Manchmal Immer ansehen sollte. Denn in »Ninjababy« ist alles anders, auch wenn hier ebenfalls eine junge Frau überraschend schwanger ist und es nicht sein will. Doch die Frauen in Flikkes Film sind selbstbewusst und handeln auch so. Ein Liebesfilm, der endlich einmal überzeugend klarstellt, dass nicht nur Familie, sondern auch Liebe immer Patchwork ist. (Axel Timo Purr) (-> Generation Kplus & 14plus-Überblick)
Petite Maman (F 2021, R: Céline Sciamma): Die Sciamma plötzlich wieder in Berlin statt in Cannes, und nur 70 min.? Das muss wohl ein Zwischenwerk sein…Wenn das ein »Zwischenwerk« ist, müssten sich viele Regisseure ein Stück davon für ihre Hauptwerke wünschen. Ein kleiner, intimer, zärtlicher und in vielerlei Sinn zeitloser Film. Wer kann, der kann eben. (Sedat Aslan) // Erst ist es nur ein Fleck alte Tapete hinter einem Küchenschrank, im Haus der verstorbenen Oma. Dann tut sich, ganz selbstverständlich, ein Tor zur Vergangenheit auf. Ein Spiel um Mutter-Tochter-Beziehungen, frühe Trauer: Niemand verbindet meisterhafter haargenaue filmische Präzision mit hautnahem, feinem Blick ins Innere der Figuren als Sciamma. Gefühlt: Der einzig wahre Goldene Bär! (Anna Edelmann)
Rock Bottom Riser (USA 2021, R: Fern Silva)
Auch kosmische Wahrheitssuche braucht irdisches Heim –und da kann Wissenschaft zum Kolonialismus werden. Silva montiert Lavaströme, SETI-Observatorien auf den Polynesiern heiligen Bergen Hawaiis, Paul Simons I am a rock und Dwayne The Rock Johnson hintereinander. Zwischen Experimental und Keine Lust, dem
Material zwingendere Form zu geben. Magma, oder magma nicht. (Anna Edelmann)
A River Runs, Turns, Erases, Replaces (USA 2021, R: Shengze Zhu): Lange dokumentarische Einstellungen à la Tsai Ming-liang, nur mit mehr Wasser, weil man in Wuhan am Jangtse ist. Eingeblendete Briefe an Hinterbliebende. Der Fluss als Heraklit’sche Metapher für eine Pandemie und ihre Auswirkungen transportiert eine tiefere Wahrheit als jede Zeitchronik, wenn man sich denn hineinfallen lässt. (Sedat Aslan)
The Scary of Sixty-First (USA 2020, R: Dasha Nekrasova): Hauntology in New York: Durch die Ästhetik hallen Echos von Argentos Inferno, Fulcis New York Ripper & Giallo co. Doch was hier durchs Apartment spukt, ist Jeffrey Epsteins Vermächtnis. Nekrasova, als Sailor Socialism zu Internet-Meme-Ruhm gekommen, schließt Okkultismus-Kino mit Verschwörungstheorie kurz, polt den male gaze um. Das bleibt letztlich flacher als erhofft – ist vom Ansatz aber vielleicht der modernste Film des Festivals. (Anna Edelmann)
Eine Schule in Cerro Hueso (Una Escuela en Cerro Hueso, ARG 2021, R: Betania Cappato): Dieser Film in der Sektion Generation Kplus über ein sechsjähriges autistisches Mädchen, das nicht spricht, und dessen grenzenlos bemühte Eltern, die endlich eine Schule für ihre Tochter gefunden haben, ist eine echte Herausforderung, aber eher eine für Erwachsene. (Christel Strobel) (-> Generation Kplus & 14plus-Überblick)
Stop-Zemlia (UKR 2021, R: Kateryna Gornostai): Warten auf das Leben, Poesie in Trabantenstädten, Leiden am Leben, so widersprüchlich wie komplexe Ethnografien eines Jugendalltags. Ein Regiedebüt, das vor allem eindrucksvoll zeigt, dass Jugend immer universell und Identität nicht angeboren ist. (Axel Timo Purr) (-> Generation Kplus & 14plus-Überblick)
Tabija (CAN/BIH 2021, R: Igor Drljaca): Der »Unort« Sarajewo erzählerisch endlich neu besetzt: klug und karg, politisch und poetisch mit immer wieder überraschenden Assoziationen –Europa ganz anders und als dichtes Drama um Liebe und Tod. (Axel Timo Purr) (-> Generation Kplus & 14plus-Überblick)
Tides (D/CH 2021, R: Tim Fehlbaum): Endzeit-Action im Wattenmeer. Tim Fehlbaums Bewerbungsschreiben an Hollywood ist nicht Fisch, nicht Fleisch, belegt dennoch eindrucksvoll, wie sehr seine Crew und er es draufhaben, »großes Kino« zu machen. (Sedat Aslan)
What Do We See When We Look at the Sky? (D/GE 2021, Alexandre Koberidze): Eine Ode an die Macht des Erzählens, hier werden die kleinen Dinge groß, die großen Dinge klein, und alles ist beseelt. Der erste Film der diesjährigen Online-Edition, bei dem ich es zutiefst bedauere, ihn nicht zuerst in einem vollen Berlinale-Kinosaal gesehen zu haben. (Sedat Aslan) (-> Langkritik)
Wood and Water (D/F 2021, R: Jonas Bak): In einer Mischform aus dokumentarischer und fiktionaler Erzählung verfolgt Jonas Bak die Rentnerin Anke (auch Bak) vom Schwarzwald ins krisengeschüttelte Hongkong. Dieses stilsichere Debüt ist lupenreines »slow cinema« und ein starker, eigenwilliger Auftakt der diesjährigen Perspektive. (Sedat Aslan)