75. Berlinale 2025
Die Magie der Mädchen |
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Träumend Erzählungen generieren: Der Berlinale-Gewinner Drømmer | ||
(Foto: Berlinale | Motlys) |
Von Dunja Bialas
Erst dicke Schneeflocken, dann Eiseskälte auf der Berlinale. In der offenen Schreiblounge im Berlinale-Palast sackt die Kälte direkt auf die Köpfe der Schreibenden, viele sitzen mit Mütze oder tief über den Kopf gezogener Daunenkapuze da. Am Nachmittag wabern schwere Bässe vom roten Teppich ins Foyer hinab, ein dicker Klangteppich, der aber nicht wärmt. Die Eiseskälte hält sich hartnäckig für zehn Tage Berlinale.
Zu Beginn vermissen wir empfindlich die Programmierung von Carlo Chatrian, dem künstlerischen Leiter der letzten Berlinale, der das Handtuch warf, auch weil er geschäftsführend hätte tätig werden sollen. Vor allem die von ihm eingeführte Reihe »Encounters« und die Verlässlichkeit seiner experimentierfreudigen Handschrift, unter der (fast) jeder Film zu einer Entdeckung werden konnte, fehlen. Mit dieser Haltung sind wir ziemlich allein. Carlo Chatrian habe den Wettbewerb vernachlässigt, ist allenthalben unter den Tageszeitungs-Filmkritiker:innen zu hören. Was wiederum wundert. A Different Man, In Liebe, Eure Hilde, Sterben, Des Teufels Bad, Ein kleines Stück vom Kuchen: all diese Titel waren letztes Jahr im Wettbewerb zu sehen, mit einem Leben nach der Berlinale. Allesamt Filme, so ist anzunehmen, mit denen auch diejenigen etwas anfangen konnten, denen Bruno Dumonts Das Imperium oder – Chatrians Abschiedsgeschenk für die Cineasten – Pepe mit dem sprechenden Nilpferd nichts zu sagen wussten.
Derartig kraftvolle Filme waren dieses Jahr nicht zu sehen. Meist ging es, einschließlich des erwartbar gehassten Eröffnungsfilms Das Licht, mit dem sich Tom Tykwer nach neunjähriger Absenz auf der Kinoleinwand zurückmeldete, um Familienangelegenheiten. Die Besinnung auf die private Keimzelle der Gesellschaft also, nachdem die Berlinale seit Jahrzehnten den Nimbus hatte, das politischste aller A-Festivals zu sein. Und auch der ukrainische Timestamps, als obligatorischer Wettbewerbsdokumentarfilm, suchte in einer überwiegend weiblichen Care-Arbeit und im Blick auf die Schülerinnen und Schüler nach Antworten auf den männergeführten Krieg.
Dies lässt sich als weichere, wenn nicht gar weibliche Programmierung auslegen, ein programmatischer female gaze, der die Männerjahre der Berlinale – Alfred Bauer, Wolf Donner, Moritz de Hadeln, Dieter Kosslick, Carlo Chatrian – bewusst hinter sich lassen möchte. Kraftvolles Kino fehlte, so das ziemlich einmütige Urteil der Berichterstatter, einprägsam jedoch waren stilsichere Filme einer großen, bekannten Arthouse-Riege wie Radu Jude (Kontinental »25«), Hong Sang-soo (What Does that Nature Say to You), Richard Linklater (Blue Moon) oder Michel Franco (Dreams).
Nicht immer ganz gangsicher wirkten die ersten und zweiten Filme im Wettbewerb: Hot Milk, If I Had Legs Id Kick You, Living The Land, Was Marielle weiss und Yunan. Gut ein Viertel Newcomer-Filme im Berlinale Wettbewerb: Das mag die Antwort auf den immer schmaleren Weltpremieren-Korridor im Februar sein. Dazu gab es die neue Reihe »Perspectives«, die fünfzehn »Erstlingsfilme« (Berlinale) präsentierte. Die Berlinale, ein Debütantenball? Etwas ratlos blieb man dann doch zurück angesichts dieser »neuen« Impulse – war die Reihe »Perspekive Deutsches Kino« mit deutschen Newcomer-Filmen doch erst abgeschafft worden.
Debüt heißt aber nicht schlecht, wohlgemerkt. In Deutschland gibt es seit 1952 das internationale Filmfestival Mannheim-Heidelberg für den Newcomer-Film, das unter der Leitung von Sascha Keilholz zu einem starken kinematographischen Blick gefunden hat. Seit 1995 gibt es zudem, wenige Wochen vor der Berlinale, auf dem internationalen Filmfestival Rotterdam den renommierten Weltpremieren-»Tiger Award« für erste und zweite Filme zu sehen, dem Berlin jetzt ziemlich auf die Pelle rückt. Ist das der Horizont, an dem sich die Berlinale unter Tricia Tuttle sieht, und nun nicht mehr die anderen europäischen A-Festivals wie Cannes, Venedig, Locarno?
Dem Spaß am Kino konnte das wenig anhaben. Erleichterung gab es, als die Preise verkündet wurden und ohne nennenswerten Politskandal über die Bühne gingen, anders als letztes Jahr. Nur Radu Jude tanzte aus der Reihe. Für Kontinental »25« (artechock-Kritiken) erhielt er den Silbernen Bären für das beste Drehbuch – obgleich er nach eigenem Beteuern mit dem Drehbuchschreiben kaum etwas am Hut hat – und widmete seinen Preis dem Bourgeoisie-Kritiker Luis Buñuel, der am Tag der Preisverleihung seinen 125. Geburtstag feierte. Er hoffe, so sagte Jude vielsagend auf der Bühne, dass der Internationale Gerichtshof in Den Haag seine Arbeit machen möge »gegen all diese mordenden Bastarde« und, mit Blick auf die deutschen Bundestagswahlen, dass die nächste Berlinale nicht mit Triumph des Willens von Leni Riefenstahl eröffnet werde.
Wie als Wiedergutmachung des letztjährigen Aufregers, als der Preis für den besten Dokumentarfilm an den israelisch-palästinensischen Aktivistenfilm No Other Land ging, wurde dieses Jahr Holding Liat des Amerikaners Brandon Kramer ausgezeichnet. Der Film nimmt die Perspektive einer Familie ein, deren Sohn Liat am 7. Oktober 2023 von Mitgliedern der Hamas gewaltsam aus dem Kibbuz entführt wird, kurz darauf beginnt Kramer mit den Aufnahmen. Es gab auch ein Gedenken auf dem roten Teppich an den von der Hamas entführten und immer noch in Geiselhaft befindlichen israelischen Schauspieler David Cunio, was letztes Jahr schlichtweg unterlassen worden war – auch dies brachte Chatrian einen finalen Kritikpunkt ein. Und es gab Tilda Swinton, die den Ehrenpreis der Berlinale bekam und sich als Bewunderin des BDS outete, weshalb wiederum Tuttle für ihre Wahl gerügt wurde.
Den Silbernen Bären für die Beste Regie ging an Huo Mengs Living The Land, einem schön anzuschauenden, in den kommunistischen 90er-Jahren auf dem Land spielenden Epos. In der Retrospektive tauchen wir ein in das Landleben einer von großer Armut geprägten Familie, der Zugriff des Staates mit einer mittelalterlich anmutenden Weizenabgabe und Geburtenkontrolle (Ein-Kind-Politik) ist brutal. Dafür aber sind die Traditionen noch intakt, das Landleben von Handarbeit geprägt, die Wanderarbeit und die Landflucht stehen erst am Anfang. Gerade die allerorts hochgelobten »schönen Bilder« und die traditionsreiche Ausstattung aber ergaben den seltsamen Eindruck, einer Aufführung in einem Freilicht-Bauernmuseum beizuwohnen. So war der Blick des Films, geframet vom Label der chinesischen Filmförderung, nostalgisch, und auch ein wenig propagandistisch, da es sich in der Rückschau selbst für einen staatlich geförderten Film beschaulich-kritisch von der Misere erzählen lässt – ohne dass es der Gegenwart weh tut.
Überraschend war der Silberne Bär (Preis der Jury) für El Mensaje des Argentiniers Iván Fund, der aus dem Programm herausstach. In Schwarzweiß erzählt er von einer familia rodante, die auf dem argentinischen Hinterland ihre Dienste anbietet. Anika ist eine Tierflüsterin, die die Gedanken von Haustieren lesen kann. Sie überbringt die tröstenden Botschaften den hilfesuchenden Haustierbesitzern, den Anfang machen eine Schildkröte und ihr Herrchen. Die stille, mit nur wenigen Dialogen auskommende Schaustellergeschichte spielt in einer Landschaft der Nichtorte, an den Rändern der Autobahnen. Hier ist viel Platz für das eigene Sehen, der Film mit dem generischen Titel »Botschaft« selbst ein großer Gedankenraum. Ein fast meditativer Ausnahmefilm in einem oft sehr geschwätzigen Berlinale-Wettbewerb (so zum Beispiel Richard Linklaters Blue Moon).
Ganz im Gegenteil zu dem fast die Narration verweigernden Mensaje entfaltet sich der Gewinnerfilm des Goldenen Bären erst durch das Wort. Drømmer (Dreams (Sex Love)) des norwegischen »Bibliothekars« (Google) Dag Johan Haugerud erzählt von der Autofiktionalisierung der ersten Liebe. Johanne verliebt sich in ihre Französischlehrerin Johanna, versucht erst, ihr Gefühlsleben überhaupt zu verstehen, dann ihr nahe zu kommen, erzählt schließlich von Nähe und Eifersucht, und vom Bruch. Alles in strikter Ich-Erzählsituation, überwiegend aus dem Off. Die Figur hat über die Liebeswerdung einen sehr erlebnisnahen Text verfasst, der über den Bildern liegt, während wir sehen, was passiert, im performativen Realitätsbeweis sozusagen. Andere Möglichkeiten stünden hier offen. Die unabschließbare »Rashomon«-Multi-Perspektivik zum Beispiel (zuerst das Mädchen, dann die Lehrerin, dann die beste Freundin…) oder auch die abgeklärte Rückschau / die Confession. Haugerud vertraut lieber auf die sich beim Schreiben / Sprechen entfaltende selbstreflexive Sicht des pubertierenden Mädchens, das die Geschehnisse permanent hinterfragt und an ihrem Begehren zweifelt und verzweifelt. Als große Metapher für das Erzählen dient das Stricken, das Masche für Masche das Text-Gewebe erstellt, das sich in langen Nachmittagen bei der strickenden Lehrerin ins Zentrum setzt.
Mutter und Oma nehmen in diesem fast männerlosen Film die Rollen weiterer Reflexionsmedien ein; mit ihnen gerät der Film in eine performative Dauerselbstreflexion. Die Oma, eine Schriftstellerin, darf den Text von Johanne lesen. Sie gibt ihn an die Mutter weiter, eine Veröffentlichung wird erwogen. Dabei wird ständig auch der Wahrheitsgehalt des Gelesenen verhandelt, der fiktionale Status des Autobiografischen im Land von Karl Ove Knausgård mit Verve diskutiert. Der sehr unterhaltsame und sehr zugängliche Film feiert das Erzählen – weniger das Erzählkino – und zelebriert, wie eine Geschichte sich entfaltet und immer wieder von neuem ansetzt (die Montage ist beachtlich), ohne dass sie jemals wirklich zum Abschluss käme. Drømmer ist der zweite Teil einer Trilogie, deren andere Teile (nicht der Reihenfolge nach) alle auf der Berlinale liefen und die in wenigen Wochen in die deutschen Kinos kommt.
Auch das Kino selbst ließ sich mit dem Berlinale-Wettbewerb 2025 als Maschine der Fiktionen und natürlich Träume erleben (gleich zwei Filme hießen so, neben Drømmer auch noch Michel Francos Dreams). La Tour de Glace bekam den Silbernen Bären für die Herausragende Künstlerische Leistung (artechock-Kritik). Der Film ist der Traum von einem Märchen: Im Zentrum steht ein Film-im-Film, in dem Hans Christian Andersens »Die Schneekönigin« inszeniert wird. Marion Cotillard spielt sie mit bebenden Wimpern, Giallo-mäßig beleuchtet, mit schweren Samtkleidern, hohen Krägen und reich verziertem Eisköniginnen-Gewand. In den Kulissen des Sets hat sich ein Mädchen versteckt, Jeanne nennt sich Bianca, sie ist eine Waise, einem Kinderheim hoch in den Bergen entkommen, wo sie einem kleinen Mädchen immer das Schneeköniginnen-Märchen vorgelesen hatte. Der Film spielt in den 70er-Jahren in Frankreich, die Bevölkerung in der abgelegenen Region ist von Armut geprägt, es ist immer noch das Frankreich der Nachkriegszeit.
Das arme Waisenmädchen gerät also aus einem realen Hintergrund in die Kulissen des Märchenfilms. Die Ebenen vermischen sich zunehmend, in den Träumen, aber auch dadurch, dass Bianca aus einer Statistenrolle der angebeteten Schneekönigin immer näher kommt. Lucile Hadžihalilović inszeniert diese Übergänge zwischen dem Realen, Imaginären und dem Film-im-Film fließend und als Vexierbilder, bei denen wir oft nicht mehr wissen, woran wir sind: Das ist dann auch die reale Grundierung des Märchens und die märchenhafte Grundierung des Realen. Und wie immer im Märchen, verkehrt sich das Faszinosum auch ins Abgründige.
La Tour de Glace ist Genre, feiert den französischen Märchenfilm und macht ihn gleichzeitig plausibel als Fluchtpunkt des Realen. Horrorelemente und Giallo mischen hinein, der Film erliegt lustvoll dem Fetisch des Kostüms. Hadžihalilović, Partnerin von Gaspard Noé (der den Regisseur im Film spielt), ist eine Besessene des Genres; hier huldigt sie dem Märchenfilm in seiner ganz und gar abgründigen Unheimlichkeit.
Außerhalb des Wettbewerbs schließt sich hier The Ugly Stepsister (artechock-Kritik) an, der das Grimm'sche Aschenputtel-Märchen als abjekten Body-Horror inszenierte. So entwerfen die Filme der Tuttle-Berlinale mit den »magischen Mädchen« unverfrorene Blicke, kinematographischen Ernst und narrative Lebendigkeit, meist auf sicherem Erzählboden, und deshalb überwiegend jenseits großer Formenerneuerungen. Die Berlinale 2025 zeigte ein Kino, das Spaß macht und sich auch immer wieder, fast l’art pour l’art, selbst genügt. Das nur selten wie Hong Sang-soos What Does that Nature Say to You an die formgefassten Ränder drängt, um sie zu sprengen (artechock-Kritik), sondern viel Erzählkino bereithielt.
Ob sich das als branchenkonservative Restauration gegen die Formenfreudigkeit der letzten Jahre hält, wird sich zeigen.