25. Filmfest München 2008
Frankreich schlägt Spanien |
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Mann trägt wieder Hund. Oder ist es ein Kalb? Bent Hamers O’Horten |
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(Foto: Pandora Film Medien) |
Von Thomas Willmann
Die Leinwand ist eckig. Und ein Film dauert (durchschnittlich) 90 Minuten.
Oder so ähnlich...
Die Defensivtaktik war klar vorgegeben: Von der EM lassen wir uns einfach nicht beeindrucken; das Münchner Filmfest tritt traditionell alle zwei Jahre gegen ein Fußball-Großereignis an und hat das – von dem einen Termin-Ausweicher bei der WM im eigenen Land – immer gut verkraftet.
Aber es hat sich halt doch etwas verändert in den letzten Jahren, das ist nicht mehr wie
in der Ära Ribbeck oder Völler: Fußballgucken ist (wieder) ungleich mehrheitsfähiger geworden, hat auch in Kreisen um sich gegriffen, die da früher vielleicht wirklich lieber zur Kultur geflohen wären.
Und das Münchner Filmfest muss sich ja auch noch gegen ein auch anderweitig äußerst reichhaltiges Angebot durchsetzen – und die ersten echten Sommertage.
Das hat es sich quasi auch selbst eingebrockt – ist’s doch inzwischen tatsächlich zum wirklichen
Publikumsfestival geworden, wo es früher mehr und mehr zur Branchenveranstaltung der deutschen Fernsehfilmmacher mit ein bisserl Kinoanhang degeneriert war.
Und so braucht’s nicht wundern, dass die Viertel- und Halbfinalspiele erwartungsgemäß deutliche Dellen in den Besucherzahlen der jeweiligen Abende hinterlassen haben. Was aber das Entscheidendere ist: Insgesamt haben Turnierdirektor Andreas Ströhl und sein deutlich verjüngter Kader an Spielleitern
– vielleicht mehr noch als in den bereits gelungenen letzten Jahren – eine Veranstaltung auf die Beine gestellt, die den Verlockungen der EM wie des Münchner Sommers durchaus Paroli bieten konnte.
Der Abgang zweier altgedienter Liberos unter den Programmgestaltern wurde gut verkraftet: Man hat das Gefühl, dass – ähnlich wie in der deutschen Mannschaft seit Klinsmanns segensreichem Wirken – das Team jetzt eine größere Bedeutung hat als die
Einzelleistung. Die einzelnen Reihen spielen sich nahtloser die Pässe zu, die meisten Filme wären auf mehreren Positionen einsetzbar gewesen.
Man kann darin schon auch einen gewissen Verlust einer profilierten Handschrift sehen. Aber es fällt schwer, diesem eher abstrakten Vorzug arg nachzutrauern, wenn dabei unterm Strich – so zumindest mein Eindruck – die Zahl an wirklich interessanten Filmen zugenommen hat. Denn: Wichtig is auffer Leinwand!
Immerhin konnte man
trotz freiwilligem Verzicht auf die Retrospektive (nix gegen unser liebes Herbertl – aber seine Filme sind nicht dazu gemacht, sie sich in geballterer Dosis als einen pro Woche zu verabreichen) und dennoch vollgestopftem Festivalprogramm noch immer mit dem Gefühl aus dem Turnier gehen, nicht nur viel Gutes gesehen, sondern auch noch einiges Gutes versäumt zu haben. Das war beim Münchner Filmfest nicht immer so.
DOPINGKONTROLLE
Bevor wir aber zu den Lobesreden kommen, gilt es aber, sich mit einem Thema zu beschäftigen, das – wo es nicht wie im Radsport unüberseh-, unübergehbar wird – nur zu oft totgeschwiegen wird. Doch wir wollen da weder Augen noch Mund verschließen. Sagen wir’s so: Abel Ferrara hatte vermutlich Glück, dass man vor Auftritten zum nachmittäglichen Publikumsgespräch im Gasteig nicht auf unerlaubte Substanzen getestet wird. Und wir hatten auch Glück. Denn grad' lustig war’s, wie er da schwitzend und gestikulierend vom Leder zog, gegen Produzenten, Gott, die Welt, und über Werner Herzog herzog (der ein Bad Lieutenant-Remake plant). Ein alternder Schwadroneur, der vielleicht auch gar nicht akut was eingeworfen hatte sondern bloß über die Jahre naturgedröhnt geworden ist. Nach allem, was man so über seine Semi-Doku über das Chelsea Hotel gehört hat, war es wohl kein Versäumnis, sich Chelsea on the Rocks zu ersparen und nur Ferraras Live-Auftritt anzuschauen. Zu den Leuten, die den Film nicht besonders schätzen, gehört bezeichnenderweise auch der Regisseur...
Wen wir hingegen schon gern mal zum Dopingtest bitten würden, ist Francis Ford Coppola. Weil von Rotwein allein kann ein Film wie Youth Without Youth eigentlich nicht kommen. Freilich, er kommt auch zuerst mal von der literarischen Vorlage des politisch umstrittenen, rumänischen Religionsphilosophen Mircea Eliade. Aber die muss man ja auch erstmal so verfilmen.
Es
ist ein Film, der gleichzeitig voll von verrückten Überdrehtheiten ist und extrem gemächlich im Rhyhtmus; der ungeheure Ambitionen mit arg begrenzten Produktionsmitteln umzusetzen sucht; der von ganz großen, übergreifenden Themen handelt und in viele kleine Episoden zerfällt. Es ist ein Film, in dem Alexandra Maria Lara in einer Höhle hockt und Sanskrit spricht.
Da ist viel an der Grenze zur unfreiwilligen Komik, oder auch drüber hinaus – aber dann schleichen sich doch
wieder Zweifel ein, ob’s nicht doch ironisch gemeint sein könnte. Denn wenn Coppola wirklich zuviel Yoga gemacht hätte und das alles jetzt aus einer Warte der höheren Erleuchtung heraus mit Bierernst vortragen würde, warum würde er dann andererseits immer wieder so stark auf die Künstlichkeit, die Filmnatur des Ganzen hinweisen? Vom Vorspann im Stile von ‘50er-Jahre-Hollywoodmelodramen über klare Zitate des ‘40er-Jahre-B-Picture-Kinos und Film noir-Anspielungen bis
zu Bollywood-Beschwörungen hat der Film auch was von einer bewussten Summa des Kinomöglichen.
Nein, Youth Without Youth funktioniert nicht, wirklich nicht. Aber je länger man bereit ist, ihn offen und geduldig zu ertragen, um so mehr bekommt die Verwirrung, in der er einen zurücklässt, zumindest etwas Reizvolles. Keine Ahnung, was den einst fast gottgleichen Coppola da
geritten hat. Aber Mut hat er, so ein Ding hinzuklotzen, und trotz allem sind doch etliche Bilder hängen geblieben im Gedächtnis. Und das ist nicht wenig.
Und überhaupt: Selbst wenn da illegale Substanzen im Spiel gewesen sein sollten – na und? In der Kunst war das noch nie ein K.O.-Kriterium. Dass es im Sport eines ist, das sieht man aber auch differenzierter nach Bigger, stronger, faster von Chris Bell. Eine Doku über Anabolika – das klingt zunächst nicht sonderlich nach atemberaubendem, filmischen Power Play. Aber bei Bell geht es, daran aufgehängt, um viel mehr: Er war selber Bodybuilder, hat mit seinen beiden Brüdern von einer Wrestling-Karriere geträumt. Und so ist Bigger, stronger, faster auch eine Autobiographie über das Aufwachsen im Reagan-USA mit seinen Rambo-Idealen und über das Scheitern von Lebensträumen. Es ist ein Essay über den amerikanischen Zwang, immer Erster sein zu müssen, und eine Untersuchung, wie vertrackt die scheinbar klare Definition des »fairen Wettkampfs« in Wahrheit ist. Ohne die Erfolge von Michael Moore gäbe es diesen Film nicht in dieser Form, das ist offensichtlich, aber im Gegensatz zu Moore ist Bell kein Satiriker und Polemiker. Er hört sich alle Positionen gleichermaßen an, und auch wenn deutlich ist, wo er selbst steht, stellt er die anderen Meinungen nicht bloß. Vor allem aber weiß er nicht von Anfang an, wo sein Standpunkt ist: Auch wenn das den Film zerfasern, sich verfransen lässt, ist dies ein produktives, spannendes Fasern und Fransen. Es ist ein Doku, der man beim schwierigen Prozess der Erkenntnis wirklich zuschauen kann.
ALLEZ LES BLEUS!
Im Gegensatz zur Équipe Tricolore, die noch nicht gelernt hat, ohne Zidane auszukommen, liefen die Franzosen auf dem Münchner Filmfest mit einem starken Aufgebot auf, das nicht zuletzt durch ein begeisterndes Mittelfeld überzeugte.
Zwar käme beispielsweise 99 Francs erst recht durch keine Dopingkontrolle – aber wo Frédéric Beigbeders Romanvorlage selbst immer noch ziemlich berauscht
von den Exzessen und der Eitelkeit seines Arschlochs von Werbetexter als Hauptfigur schien, da bekommt der einst so pubertäre Regisseur Jan Kounen die richtige Distanz hin, die perfekte Mischung aus Ekel und Faszination. Liegt natürlich auch daran, wie der großartige Jean Dujardin in der Hauptrolle hier aufspielt. Doch auch sonst ist der Film soviel weniger prahlerisch von seiner Attitüde her und dafür soviel klüger im Kern als das Buch. Er hat deutlich weniger Prätentionen und mehr
echte Spielfreude, aber wo Projekt und Weltsicht des Romans insgeheim noch sehr romantisch waren, ist der Film härter und zynischer in Blick und Analyse. Von Rousseauschen Paradiesvorstellungen ist hier wirklich nur noch das Werbespot-Abziehbild geblieben.
Die Franzosen hatten auch klar den »Man of the Match« am Start: Den großartigen Gilbert Melky. Ist zugegeben spätestens seit Lucas Belveauxs »Trilogie« (Un couple épatant, Après la vie, Cavale) nicht mehr
besonders originell, den zu seinen Lieblingsschauspielern zu zählen. Aber was will man machen, wenn einer bei einem Festival in zwei sehr unterschiedlichen Filmen in zwei sehr unterschiedlichen Rollen gleichermaßen wunderbar ist? In Alain Corneaus etwas überlangem, etwas überstilisiertem, aber dennoch packenden Remake des Melville-Klassikers Le deuxième souffle ist er ein
aalglatter, feig-brutaler Gangster, und da lauert etwas in seinen großen Augen, seinem kleinen Lächeln, da ist dieses liebe Gesicht die Maske einer Schlange. In Le tueur ist er das Opfer, ein Geschäftsmann, auf den ein Profikiller angesetzt ist. Und hier verbergen und offenbaren sich plötzlich ganz andere Dinge in den selben Augen, dem selben Lächeln, obwohl man die Nuancen des physisch greifbaren Unterschieds bestenfalls in Millimetern messen könnte.
Leider
kann man über Le tueur kaum mehr erzählen als die Grundkonstellation, ohne gleich zuviel zu verraten. Denn hier ist wenig so, wie es anfangs scheint – aber nicht im Sinne von »überraschenden« Plotwendungen, mit denen der Film einem lustvoll zwischen die Erwartungen grätscht, sondern im Sinne von unerwarteten, aber folgerichtigen Tiefen, die sich nach und nach, Schicht um Schicht enthüllen. Nur soviel: Was wie ein Thriller anfängt, ist am Ende zu einem
Film über die Einsamkeit mutiert.
Viel überraschender aber als das insgesamt starke Auftreten der Franzosen kam ein einzelner, cineastischer Sturmlauf der Italiener, die sich ja normal in Kinodingen doch schon seit einigen Jahren nicht mehr in Weltmeisterverfassung zeigen können: Il Divo ist sowas wie die italienische Antwort auf Oliver Stones NIXON – allerdings das Pathos durch ätzende
Schärfe ersetzt. Paolo Sorrentino rollt hier die Ära Andreotti auf und nimmt keine Gefangenen. Es ist ein wunderbarer Film über die Selbstinszenierung der Mächtigen, der seine Wut über die Korruptheit des Systems exzellent zu bündeln weiß, der sie nicht in einem kruden Pamphlet herausbrüllt, sondern sie in visuellen und erzählerischen Einfallsreichtum ummünzt. Sorrentino knackt nach und nach den Panzer, den Andreotti schon mit seiner Körpersprache, mit seinen hochgezogenen
Schultern, seinen stets angelegten Armen, verschränkten Händen, seinem Flüsterton um sich errichtete und zeichnet das Psychogramm eines Machtmenschen wie einer Nation, das vor allem deshalb so beängstigt, weil es sehr plausibel wirkt.
Wo ist der deutsche Filmemacher, der sich so virtuos des Kohlschen Zeitalters anzunehmen wüsste?
HEIMVORTEIL
Den klarsten Heimvorteil aller angetretenen Filme hatte zweifelsohne RÄUBER KNEISSL, der als Weltpremiere auflief. Schade, dass er ihn künstlerisch weitgehend verspielt hat: Da kann sich die Schauspiel-Mannschaft noch so reinhängen, da kann man noch soviel Sympathie entwickeln für das »Freizeitkick unter Freunden«-Feeling des Projekts – Spielführer Marcus Rosenmüller kennt leider keine anderen ästhetischen Taktik-Züge als das permanente Pressing. Er inszeniert
sich selbst ja gern als der große Naive des deutschen Kinos – was aber Wer früher stirbt, ist länger tot... noch einen gewissen Charme verlieh, hilft hier nicht weiter. Räuber Kneißl ist ein Genre-Film, und gute Genre-Filme brauchen (Selbst-)Reflexion. Hier hingegen gibt es Momente, in denen
es – wagen wir das vernichtende Wort zu sagen? – geradezu vilsmaiert. Es herrscht nur die vagste Ahnung davon, dass hier Heimatfilm, Western und Gangsterfilm aufeinandertreffen und dass das bei einem bewussten Umgang mit deren Ikonografien eine höchst spannende Geschichte sein könnte. Und der Film kann, will sich nie recht entscheiden, ob er jetzt vom Mann oder vom Mythos Kneissl erzählt, oder meinetwegen vom Zusammenhang zwischen beidem. Die Kamera ist immer zu
geschäftig, zu nah dran, die Musik ist immer zuviel und zu laut, und es ist wie meist, wenn ein Kunstwerk versucht, einen durch permanente, planlose Überwältigung zu packen: Man schaltet irgendwann eher auf Durchzug.
Schade um das Thema, sehr schade um das großteils hinreißende Ensemble – sie hätten einen Film verdient, der mehr Chancen auch beim Auswärtsspiel versprochen hätte.
GELBE KARTEN
Es gibt filigrane Techniker, denen ab und zu mal der Fuß zum Foul ausrutscht. Und es gibt das stete, destruktive Spiel am schmalen Grat zum Regelverstoß.
Gegen Brian DePalmas Fake-Doku Redacted lässt sich grundsätzlich nicht viel sagen, außer dass sich der Erkenntnisgewinn für aufgeklärte Mitteleuropäre in Grenzen hält. Mag sein, dass man in den USA an der medialen Heimatfront wirklich noch Bedarf hat an einer solchen Bündelung von Gegen-Bildern zur
offiziellen Version. Aber dass in diesem – wie in jedem – Krieg gar garstige Sachen passieren, das weiß man ja nun. Und das ist auch nicht der Punkt – die besten Gründe gegen Bushs Feldzug sind ja ganz anderer und vor allem ganz rationaler Natur. Umso schlimmer, dass dann DePalma dagegen am Ende auch nur pure Emotion zu setzen versucht. Was vielleicht noch ginge, wenn er sich dabei nicht so dermaßen im Tonfall vergriffe. Eine veritabler Kopfstoß, wie er am Schluss, wo er
reale Fotos von Kriegsgreul einblendet, deren Wirkung nicht vertraut. Sondern allen Ernstes auf der Tonspur darüber Puccinis »Tosca« orgeln und schluchzen lässt. Grobe Geschmacklosigkeit, das – eigentlich schon rotwürdig.
Auch Ole Bornedal verdirbt sich’s in den letzten Minuten der Partie. Sein Kærlighed på film – international Just Another Love Story betitelt, aber wörtlich übersetzt deutlich prätentiöser »Liebe auf Film« benamst – lässt sich so schön an: Mit verschachtelten Erzählebenen, großer Kunst-Geste und der Frage, wie es wäre, wenn man aus einem Leben, das nur noch verhasste Routine geworden ist, zu einem selbstgestalteten Neuanfang aufbrechen könnte. Aber dann läuft alles nur auf ein banales Genrefilm-Ende hinaus, weil Bornedal offensichtlich keine Lust hat, den psychologisch glaubwürdigen, komplexeren Abgründen in und zwischen seinen Figuren nachzuspüren. Statt dessen zieht er einen total am Reißbrett konstruierten Pappkameraden aus der Mottenkiste, den er plötzlich als Antagonisten auf die anderen loslassen kann und der sich dann ebenso rituell wie langweilig mit Gewalt entsorgen lässt. Das ist so enttäuschend, als hätten die Spanier im EM-Finale nur die erste Hälfte gespielt, um sich dann in der zweiten von den rumpeligen Engländern vertreten zu lassen.
Johnny 316 hingegen hat seine Probleme nicht am Ende, sondern von Grund auf. Denn der Film hat ein Konzept. Gar kein schlechtes, das nicht. »Salome« (speziell Oscar Wildes Ausformung der biblischen Legende), verlegt ins heutige Hollywood. Nicht ins Glamour-Hollywood der Filmindustrie, sondern in den realen Stadtteil von Los Angeles, in die heruntergekommene, von Junkies, Prostituierten und Verrückten bevölkerte Gegend um den Hollywood Boulevard. Und der Film hat Vincent Gallo als die moderne Variante von Johannes, dem Täufer, einen Wanderprediger. So weit, so gut. Was der Film aber nicht hat, das ist eine rechte Idee, was er damit dann anfangen soll. Außer beides, das Konzept und Vincent Gallo, immer wieder aufdringlich und stolz zur Schau zu stellen. Aber dabei kommt letztlich, außer ein paar hübsch delirierenden Momenten, nicht viel mehr rum bei als bei einem Stürmer, der in der Halbzeitpause auf dem Platz bleibt, um seine Dribblingskünste zur Schau zu stellen.
UNITED AGAINST RACISM
Die besten Dokus – oder die besten Filme allgemein – sind oft die, die mit ihrem wahren Thema nicht gleich ins Haus fallen. Die sich einer Sache annehmen, um über sie auf eine andere Sache zu kommen. Margaret Browns The Order Of Myths ist so ein Film: Eine Dokumentation über den Karneval in Mobile, Alabama. Die aber sehr schnell zu einem Film darüber wird, wie schwer sich die USA noch immer mit »Rasse« tun, wie sehr sich schwarz und weiß zu
Parallellkulturen entwickelt haben.
An der Oberfläche ist der Film trügerisch simpel und geradlinig gehalten – doch dahinter steckt eine erstaunliche Intelligenz. So zeigt er am Anfang beispielsweise »die« Mardi Gras-Königin von 2007 – eine weiße Frau – und dann »den« Mardi Gras-König – einen schwarzen Mann. Um ganz bewusst erst nach dieser Irritation zu erklären, dass es ZWEI Königspaare gibt, so wie es strikt getrennte Karnevalsgesellschaften für
schwarz und weiß gibt.
Eine der größten Qualitäten des Films aber ist, dass er zwar sehr schonungslos in die unschönsten Ecken der Geschichte leuchtet und die noch heute schwärenden, gärenden Vorurteile und Barrieren auf beiden Seiten offenlegt. Dass er aber am Ende zu einer sehr realistischen, sehr humanen, sehr pragmatischen Utopie findet: Das schwarze Königspaar besucht erstmals, auf eigene Initiative, die Krönungszeremonie des weißen Paars. (Und auch da wieder ein
produktives Spiel des Films mit den Erwartungen, den eigenen Vorurteilen des Publikums: Es gibt nachher einen kurzen Hinweis darauf, dass von weißer Seite möglicherweise schon lange die Einladung zu solch einem Besuch angeboten war und sie nur stets von einem schwarzen Funktionär eigenmächtig totgeschwiegen wurde.) Das ist ein kleiner Schritt, und nicht ohne Probleme. Und in den Interviews danach bleibt deutlich, dass damit nicht plötzlich alles anders geworden ist. Aber es zeigt sich
dabei auch, dass die einzelnen Menschen viel bereitwilliger und offener sind als das System, als die Gewohnheit, in dem sie stecken. Und es lässt die Hoffnung aufscheinen, dass man mit vielen kleinen, banalen Schritten doch erstaunlich weit kommen könnte, wenn nur jemand sich mal aufrafft, diese Schritte zu wagen. Kästners Satz ist nicht weniger war, nur weil er so abgenutzt ist: Es gibt nichts Gutes, außer man tut es.
PLATZVERWEISE
Es ist eine Sache, wenn ein Pogatetz vom Platz fliegt. Das liegt im Rahmen des zu Erwartenden. Aber was war das ein Schock, als sich Zidane damals zu dieser brutalen Tätlichkeit hinreißen ließ!
Und so ist es auch zwar immer bitter genug, Lebenszeit an einen überflüssigen oder ärgerlichen Film verschwendet zu haben – wenn einem aber ein eigentlich geschätzter Regisseur ganz unvorbereitet mit so einer cineastischen Blutgrätsche reinfährt, da schmerzt das doppelt.
Man
muss jetzt nicht alles von àlex de la Iglesia toll finden, grade sein Frühwerk ist teils schon sehr unerquicklich pubertär. Aber La Communidad war doch hinreißend, und an Crimen ferpecto konnte man so seinen Spaß haben. Und so oder so hätte man von ihm alles mögliche erwartet – aber gewiss kein so elend dröges Hörspiel mit Bebilderung wie The
Oxford Murders. Dessen einziger Vorzug war, dass man, festivalübernächtigt, nicht gezwungen war, die Augen aufzuhalten – kurz zum establishing shot aufgeblinzelt reichte, weil der Rest jeder Szene dann doch eh nur schwatzende Köpfe waren. Und was sie schwatzten!
Man hatte die Wahl: Entweder man nahm den Film da beim Wort (oder: seinen vielen Wörtern) und versuchte, es ernst zu nehmen. Dann aber blieb nur das Urteil: Das ist alles pseudo-philosophischer, halbgarer,
falschverstandener, in sich widersprüchlicher, großspuriger und kleinhirniger Unsinn, der keiner Diskussion länger als zwei Argumenten standhielte.
Oder aber, man ließ die Leute reden und nahm das alles nur als ein bisschen prätentiöse Draperie um einen mageren Krimi-Plot. Dann aber blieb die Frage: Warum, bitte, soll ich mir dass dann geschlagene zwei Stunden anhören?
Und doch war Oxford Murders noch das geringere Übel. Das größere blieb einem eigentlich auch ungleich bedeutenderen Regisseur (aber immerhin Landsmann) vorbehalten.
Noch unverständlicher, als dass die deutsche Mannschaft kurz hintereinander das unsägliche, verklemmte Match gegen Kroatien hinlegen konnte und dann die grandiose Partie gegen Portugal, ist es, wie ein Regisseur wie Julio Medem, der so unendlich schöne, große Filme wie Tierra, Los amantes del Círculo Polar und Lucía y el sexo vorgelegt hat, sich jetzt zu so einem unsäglichen – pardon für das klare Wort: – Scheißdreck wie Chaotic Ana verstolpern kann.
Der war noch papierner und pseudophilosophischer als Oxford Murders – und seine von allegorischen Kartonfiguren bedeutungsschwanger aufgesagten Thesen noch hahnebüchener: Eine gequirlte, gequaste Eso-Pampfe über die Frau als ewige Hure und ewige Göttin, die ewig den Mann, den ewigen Vergewaltiger und ewigen Kriegstreiber gebiert. Angerührt mit säftelndem Altherrengeifer
– wo ist der Medem, der die Liebesszene aus TIERRA gedreht hat? Verziert mit naiver Kunst und Indianerweisheit, mit Seelenwanderungsschmonz, gegen den sich Coppolas Exzess plötzlich ganz überzeugend und vernünftig ausnahm. Ein bisserl Ödipus dazu – und aber auch aktuelle afrikanische Flüchtlingsschicksale, ganz wichtig!
Eigentlich ein klarer Fall für einen vorzeitigen Spielabbruch. Aber wenn Caótica Ana etwas hat, dann doch immerhin die Fähigkeit, einen mit Vorstößen in immer noch größere, gar nicht mehr für möglich gehaltene Bodenlosigkeiten zu verblüffen. Wer das Kino verständlicherweise früher verlässt, betrügt sich um ein Finale, das auch noch die schlimmsten Befürchtungen, die man zu dem Zeitpunkt haben kann, noch bei weitem übertrifft. Da tritt dann nämlich der Typ in Erscheinung, der für den Irak-Krieg verantwortlich ist
– jawoll, genau der, der eine. (Um fairerweise genauer zu zitieren: »He’s one of the men who invented this war.«) Und dem wird dann von Ana ein Blutklumpen auf die Stirn geschissen oder menstruiert (macht’s einen Unterschied, wenn dies letzte Detail unklar ist?). Das hat er dann davon! Der Böse!
Liebe Spanier: Das mit dem EM-Sieg ging vollkommen in Ordnung, der war hochverdient. Aber, bitte: Ruft doch mal Eure Filmemacher zur Räson! Zwei solche Granaten auf einem Festival, das geht doch auf keine Kuhhaut...
HALBFINALE
Es waren rückblickend vier Filme, die für mich von diesem Festival übriggeblieben sind – vielleicht nicht für die Ewigkeit, aber doch so über’s Jahr gewiss.
Und wäre Kunst eine Sportdisziplin, wo am Ende doch nur ein Sieger stehen kann, dann würden für mich zunächst zwei Halbfinalisten rausfallen, die vermutlich bei den Buchmachern die deutlich höheren Quoten haben.
Da wäre zum einen Andreas Dresens Sex-im-Alter-Drama Wolke Neun. Das
hat alles, was Dresen ausmacht – seine Grundanständigkeit, seine Schauspielerführung, seinen unverhüllten Blick auf jene Dinge bundesrepublikanischer Realität, die dem Kino normal peinlich sind (ich sage nur: Rentnerinnenchor). Und er wagt sich daran, Bilder zu schaffen für etwas, das noch keine rechte Ikonographie kennt; das zwar zunehmend ins Bewusstsein unserer alternden Gesellschaft drängt, ihr aber buchstäblich noch nicht ins Bild passt.
Daran ist
besonders schön und mutig, dass es in WOLKE NEUN zunächst eben nicht um Liebe geht, sondern um Begehren, körperliches Begehren. Dass er wirklich eine Geschichte über Leiber daraus macht – die sich dann zur Geschichte über einen ganz späten Schritt zu einem eigenen, selbstbestimmten Leben, zu einem radikalen Stück ebenso gesunden wie gefährlichen Egoismus' auswächst.
Und doch, und doch... Es gibt diese winzigen Momente, wo der Blick des Films ins Denunziatorische kippt
gegenüber dem gehörnten Ehemann. (Dass er z.B. abends begeistert Schallplatten mit Lokomotivgeräuschen anhört bringt eine zusehr sketchhafte, billige Note.) Es gibt diese winzigen Momente, wo einmal zu viel, einmal zu betont der nackte Körper ins Bild gerückt wird. Es gibt dieses Ende, das zusehr nach Drehbuch statt nach Leben schmeckt.
Und grade weil Wolke Neun in all seinen anderen Momenten so präzise und wahrhaftig sein kann, irritieren diese Querschläger
um so mehr.
Beim anderen Halbfinalisten würde ich nicht den geringsten Widerspruch einlegen, wenn man ihn zum Film des Festivals erklären würde. Es ist halt nur nicht MEIN Film des Festivals. Über Waltz With Bashir wird ja seit Cannes allerorten geschwärmt, und das völlig zurecht. Das ist Ari Folmans vollständig animierte Doku (angeblich die erste der Filmgeschichte) über seine Beteiligung an einem
Massaker im Libanonkrieg. Es geht um Verdrängung und wie sich das Gedächtnis durch die Ritzen des Nachtbewusstseins in Träumen dann doch wieder Raum verschafft, und allein schon deswegen geht das ästhetische Wagnis des Zeichentrickstils à la Linklaters Waking Life und A Scanner Darkly voll auf: Bilder, Erinnerungen und wie sie sich transformieren, wie sie
ineinanderfließen, wie sehr unser Gedächtnis eine nachträglich gemachte und übertünchte Angelegenheit ist – das alles sind zentrale Themen des Films. Und im Gegensatz zu DePalmas Redacted passiert hier – emotional wie intellektuell – wirklich enorm viel, wenn am Ende plötzlich Videobilder des realen Massakers hereinbrechen. Da bekommt der Film nochmal eine ganz andere Wucht und eine ganz andere Komplexität.
Das Erstaunlichste aber an
Waltz With Bashir ist, dass ein israelischer Filmemacher, dessen Eltern im KZ waren, ganz explizit seine Kriegserlebnisse in einem palästinensischen Flüchtlingslager in einen Kontext bringt mit der Ikonografie und der Tradition der Vernichtungslager. Selbstverständlich ist das keine simple Gleichsetzung, es ist eine Konfrontation. Aber es macht den Film vollends zu einem sehr
aktuellen, sehr komplexen, sehr mutigen und sehr berührenden Beitrag zur Diskussion um die »Psychologie der Täter«: Ari Folman ist als offenbar aufgeklärter, intelligenter, sensibler (wenngleich damals sehr junger) Mann in eine Situation geraten, wo er Mitläufer wurde, wo er zugeschaut und gedeckt hat, wie andere Unschuldige umbringen. Und er konnte letztlich damit zuerst nicht anders umgehen, als dass er das Erlebnis in seinem Innersten versenkt und eingemauert hat wie in einem
Giftmüllendlager. Es verdient hohen Respekt, wie schonungslos er diesen Betonsarg des Schweigens jetzt öffentlich aufbricht.
MEISTER DES HERZENS
Keine Frage also, dass Waltz With Bashir der Film ist, der »wichtiger« ist, der der Welt mehr zu geben hat. Aber Schiedsrichter ist ganz zuletzt halt doch das Herz – und ganz persönlich schlug meines bei zwei anderen Filmen höher.
Es wird viele Menschen geben, die O’Horten von Bent Hamer
(Kitchen Stories) einfach als verschrobene Komödie ansehen und sich darüber königlich amüsieren. Was schon okay ist. Doch man sollte sich von der humorvollen Distanz im Blick des Films nicht darüber blenden lassen, dass es sich im Grunde um die ziemlich heftige Geschichte einer wirklich radikalen Einsamkeit geht. Auch der Titelheld dieses Films betreibt, wie der Ehemann aus WOLKE NEUN,
Zuggeräuscheraten als Hobby. Aber hier ist das mehr als ein pitoreskes Detail, hier ist das einer von vielen Ausdrücken für die totale Leere, die sonst im Leben dieses eben pensionierten Lokführers herrscht. Seine Mutter sitzt dement im Pflegeheim, sein Stammlokal, wo er allein sein Bier trinkt, muss dicht machen, aus Versehen wird er von seiner eigenen Pensionierungs-Party ausgesperrt. Alle neuen Freunde, die er findet, werden ihm binnen kürzester Frist wieder genommen. Und wenn er
einmal, ein einziges Mal, einen echten Vorteil von der Einsamkeit hätte – als er nachts im Schwimmbad eingeschlossen wird und er das Becken für sich allein zu haben glaubt, er nackt und befreit darin eintaucht –, da wird ihm prompt auch die Einsamkeit genommen, da drängen sich dann plötzlich andere Menschen herein und zwingen ihn zum Rückzug.
Genau das aber macht O’Horten groß:
Dass er sich an der Oberfläche kaum je anmerken lässt, wie tieftraurig seine Geschichte ist. Dass sein Held das Schicksal mit Fassung und Würde trägt, er sich zu keinen Ausbrüchen hinreißen lässt. »The mass of men lead lives of quiet desperation,« hat Thoreau berühmterweise in »Walden« geschrieben, und O’Hortens Leben ist eines dieser Leben von stiller Verzweiflung. Aber der Film – auch wieder ähnlich wie WOLKE NEUN, nur ungleich undramatischer – lässt auch nicht
ganz die Hoffnung fahren, dass, und sei’s im letzten Moment, und sei’s so einsam, unbemerkt und still wie alles andere in jenem Leben, noch immer die Befreiung möglich ist.
Ob sie O’Horten freilich wirklich noch im Diesseits vergönnt ist, das bleibt Ansichtssache.
Es handelt auch J'ai Toujours Rêvé D’être Un Gangster, mein persönlicher »Turniersieger«, von Verlierern des Lebens. Und er tut es noch lakonischer, noch beiläufiger als O’Horten. Es ist noch weniger Pathos im Hadern dieser erfolglosen, herzallerliebsten Klein- und Altgangster mit ihrem Schicksal, mit dem Lauf der Zeit, mit ihrer eigenen Inkompetenz.
Das sind Leute, die von Anfang an mit nichts anderem zu rechnen scheinen als ihrem Scheitern. Die’s aber immer wieder versuchen, weil sie sonst gar nichts mit sich anzufangen wüssten.
Samuel Benchetrits schwarz-weißer Episodenfilm macht keinerlei Hehl aus seinem Idol – er will das französische Gegenstück zu Jim Jarmusch sein, das ist offensichtlich. Vielleicht ist’s grade diese Offenheit, die zum Gelingen beiträgt.
Es ist ein Film der vielen kleinen Freuden,
die sich zum beglückenden Ganzen addieren: Die unglaublich sexy Stimme von Anna Mouglalis; die stilsichere Musikauswahl auf dem Soundtrack; das punktgenaue Timing, dass den Film aber nicht davon abhält, auch mal wunderbar ziellos ins unsinnige Plaudern zu driften; die Gastauftritte von Jean Rochefort und den im franko-belgischen Raum legendären Schlagersängern »Arno« und Alain Bashung; der geklaute Plüschtiger; die Hollywood-Starfotos an der Wand; und, und, und.
Es hat wohl
»bessere« Filme, konsequentere, konsistentere, bedeutsamere auf dem Festival gegeben. Aber schönere? Das ziemlich sicher nicht. Ich jedenfalls bin aus keinem einzigen auch nur annähernd so beglückt geschwebt.
Und J'ai toujours rêvé d’être un gangster fängt zwar, ähnlich wie Jarmuschs C Coffee and Cigarettes, scheinbar als lediglich lustige, kauzige
Vignetten-Sammlung am. Aber am Ende ist er dann auch noch ganz wo anders, an einem größeren, tieferen Punkt angelangt. Da handelt er dann auch verblüffend reif von der Vergänglichkeit, da haucht plötzlich eine berührende, erhebende, profunde Weltentrückung durch ihn hindurch. J'ai Toujours Rêvé D’être Un Gangster ist ein Film, der sich Schubert auf der Tonspur traut – und es funktioniert! Es ist kein Missverständnis, keine Verkitschung,
keine Verniedlichung, die Musik bläst die Bilder nicht einfach weg. Ich glaube, ein größeres Kompliment kann ich einem Film eh nicht machen...
Wenn der Ärger über Oxford Murders und Caótica Ana, wenn die Verwirrung angesichts von Coppolas Youth Without Youth ein wirklich Gutes hatte, dann, dass es nicht die erwarteten Favoriten waren, die punkten konnten. Sondern eben solch vermeintliche Außenseiter wie
J'Ai Toujours Rêvé D’Être Un Gangster – bei dem nur der wunderbar Titel größere Hoffnungen aufkommen ließ, dass der Film dahinter sich seiner würdig erweisen würde.
Und das ist doch das Schönste an Festivals: Wenn sie einem noch wirklich zu Überraschungen und Entdeckungen verhelfen, die man ohne sie womöglich nie erfahren, gemacht hätte.
Doch, das Münchner Filmfest scheint sich inzwischen wirklich zu einer Veranstaltung gemausert zu haben, der
man sich insgesamt gerne anvertraut (und nicht nur wie früher sehr wenigen, einzelnen Reihen). Und wo nicht Trost oder Warnung sondern freudige Zuversicht in der alten Weisheit liegt: Nach dem Film ist vor dem nächsten.
Thomas Willmann