72. Filmfestspiele Cannes 2019
Annäherungen an die Unfassbarkeit |
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Eine der interessantesten Regisseurinnen: Rebecca Zlotowski und Une fille facile | ||
(Foto: Wild Bunch / Alamode) |
»Es ist ein sehr gutes Zeichen, wenn die harmonisch Platten gar nicht wissen, wie sie diese stete Selbstparodie zu nehmen haben, den Scherz gerade für Ernst und den Ernst für Scherz halten.«
Friedrich Schlegel, »Über die Unverständlichkeit«
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»Es ist die Unfassbarkeit dieser Vorgänge, die mich fasziniert. Je mehr Fakten wir darüber wissen, um so weniger begreifen wir.« – also sprach Quentin Tarantino in Cannes, als er bei der Pressekonferenz gefragt wurde, was ihn denn an den Bluttaten der »Manson-Family« fasziniert habe. »Un-Knowingness« war sein englischer Ausdruck.
Die »Manson-Family« war verantwortlich für eine Serie von Verbrechen, die im August 1969 in das Massaker in der Hollywood-Villa des
Filmemachers Roman Polanski und die Ermordung von dessen hochschwangerer Frau, der Schauspielerin Sharon Tate, mündeten. Die Vorgeschichte der zum Mythos gewordenen Bluttat bildet einen Erzählstrang von Tarantinos neuem Film Once Upon a Time... in Hollywood, der zu den am meisten erwarteten Premieren in Cannes gehörte.
Vor 25 Jahren gewann Tarantino mit 31 die Goldene Palme, vor 15 Jahren präsidierte er in der Jury von Cannes und gab Michael Moores Fahrenheit 9/11 die Goldene Palme. Jetzt hat er einen weiteren Film gedreht, in dem er nach dem Muster von Inglourious Basterds (2009) – die wahre Geschichte einfach umschreibt, den bösen traurigen Fakten nicht ihr Recht belässt, sondern sie durch eine alternative fröhlichere Version ersetzt. Leonardo DiCaprio als fiktiver Hollywoodstar und Brad Pitt als dessen Stuntman spielen die Hauptrollen, in einem Film, in dem der Regisseur nicht zuletzt einen nostalgischen Kino-Liebesbrief an das Jahr 1969 verfasst, an eine verlorene libertäre Kultur, nach der nicht nur er sich zurücksehnt.
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Schon der Titel »Es war einmal...« macht klar: Dieser Film ist ein Märchen. Ein Märchen aus uralten Zeiten.
Eine wichtige Rolle spielt das Fernsehen der 1960er, Serien wie »Mannix«. Ein Regisseur redet über Zeitgeist-Frisuren im Western, er sagt zur Maskenbildnerin: »make it less Hippie, more Hells Angels«. Bei den Hells Angels denkt man dann natürlich an die Manson Family, man denkt aber auch an Easy Rider, den Film der vor genau 50 Jahren in Cannes einen eigens kreierten Hauptpreis gewann. So mäandern die Gedanken und Zitate. Bruce Lee kommt vor, es gibt Darsteller-Witze.
Der fast dreistündige Film hat viele Erzählstränge. Aber auch nach über einer Stunde Dauer fragt man sich: wie hängen sie zusammen? Was hat das eine mit dem anderen zu tun? Was soll das alles? Es macht nichts, denn man schaut dem Mäandern der verschiedenen Figuren und Handlungsstränge gerne zu – trotzdem...
Der Film braucht einen langen Vorlauf, bis er zum Eigentlichen kommt. Ganz leise nach einer Stunde nimmt der Film Fahrt auf, nach 2 Stunden und 5 Minuten fängt die eigentliche Geschichte an. Der Horror der Hippies trifft Musik von den Beach Boys. Die Girls der Manson-Gang sind extrem gut getroffen, oberflächlich hübscher White Trash, die auch wieder alle ausschauen wie Zombies.
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Sharon Tate wird nicht sterben in diesem Film. Das konnte man schon vorher ahnen. Und es gelingt Tarantino alles humorvoll und trotzdem auch würdevoll zu machen.
Der recht alt aussehende Brad Bitt und DiCaprio machen die Gang nach allen Regeln der Kunst und im Rahmen des Rechts auf Selbstverteidigung fertig. So muss man es sagen. Danach geht der Film noch ein bisschen weiter, es kommt eine ganz tolle Schlussmusik: träumerisch und melancholisch und sehr traurig.
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Wenn Tarantino einmal mehr Geschichte so erzählt, wie sie hätte sein können, ist das sehr schön, aber es ist auch sehr traurig, denn wir alle wissen ja, dass es nicht so gewesen ist. Filmkunst als stilistisch perfekte Utopie.
Zugleich ist dies eine bittere Abrechnung mit jenen Hippies, die statt Flower-Power Hass auf alles propagierten, was sich ihnen nicht fügen wollte.
Wie immer zeigt sich Tarantino als ein Regisseur, der viel Humor hat, dessen Filme zum Bersten voll sind mit Anspielungen, Zitaten, Referenzen. Tarantino macht Unterhaltungskino, aber mit tieferer Bedeutung. Denn dieser Film ist auch ein Kommentar zu »#MeToo«. Tarantino zeigt Frauen, die zu Opfern werden, aber er zeigt auch Täterinnen: Fanatisierte, bis an die Zähne bewaffnete Jüngerinnen des schwarzen Messias Manson. Schießlich ist dies eine überfällige Erinnerung daran, dass auch Roman Polanski vor allem ein Opfer ist – vor den Manson-Morden an Frau und Kind wurde seine Familie in deutschen KZ’s ermordet. Polanski überlebte unter falscher Identität bei einer polnischen Familie. Als Jüngling wurde er vergewaltigt.
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Direkt nachdem ich aus dem Kino kam, bin ich fast von einem Fernseh-Team überrannt worden. Der Kameramann ging rückwärts. Was hat er aufgenommen? Es war Tilda Swinton, mit fast weiß gefärbten Haaren, weiß gepuderter Haut, in einem cremefarbenen Abendkleid – eine Erscheinung wie aus einer anderen Welt. Heute ist auch einem Jury-Mitglied schlecht geworden, weil ihr Kleid zu eng geschnürt war – so viel zum Dresscode in Cannes und den armen Frauen. Man muss nicht alles mitmachen.
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Ein zweites Highlight im Cannes-Wettbewerb kommt aus Korea. Parasite von Bong Joon-ho ist eine Hochstapler-Geschichte und eine sehr witzige Gesellschaftssatire. Sie handelt von einer armen Unterklassen-Familie, die sich in eine Familie aus der Oberklasse hineinschleicht, sie durch Tricks regelrecht infiltriert. Das hat allerlei absurde Konsequenzen, besticht aber vor allem als Film über die Ängste des Mittelstandes und bürgerliche Besorgnisse in der Komfortzone – mehr als einmal kann man an Deutschland denken. Und endlich einmal eine echte Komödie im Wettbewerb von Cannes, ein Film, bei dem man lauthals lachen kann und das Publikum applaudierte leidenschaftlich. Zugleich ist dies ein Film, der nicht nur mit den Reichen böse und streng umgeht. Im Keller haust das von beiden Seiten Verdrängte.
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Auch Cannes ist vom Klimawandel betroffen. Vom Klimawandel in der Filmbranche, wie vom Klimawandel des Wetters. Früher konnte man immer an den Strand gehen und baden, wenn ich auch zugeben muss, dass ich zum letzten Mal während des Filmfestivals etwa im Jahr 2007 gebadet habe. Und an genau zweimal kann ich mich erinnern, an denen ich den Nachmittag mit deutschen Filmemacherinnen am Strand verbracht habe.
Seit etwa fünf Jahren wäre das nur noch an wenigen Tagen überhaupt
möglich. Trotzdem muss uns niemand bedauern, wir sind ja eh dauernd im Kino, und heute saßen wir drei Stunden auf der Festival-Terrasse im dritten Stock des Palais in der Sonne zum Schreiben. Wir brauchten einen Sonnenschirm und Schatten, wir Armen, uns geht es wirklich schlecht.
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Auf Erden nicht zu helfen ist der Hauptfigur im neuen Film der belgischen Brüder-Dardennes, die schon zweimal die Goldene Palme gewonnen haben. Le jeune Ahmed bietet weder inhaltlich noch formal etwas Neues: Dies ist die von A bis Z konsequent erzählte Geschichte einer Figur auf ihrer Reise in den Tod. Es ist ein selbstgewählter Tod, denn Ahmed ist ein 13-jähriger Islamist, der unbedingt Märtyrer werden will. Sein Objekt ist »die Apostatin« (so »der Imam«),
seine Lehrerin, die Arabischstunden geben möchte, aber nicht mit dem Koran, sondern ägyptischen Popsongs.
Ein Messerattentat schlägt fehl, aber Ahmed probiert es immer wieder, ist nicht durch nette belgische Erzieher, nicht durch Tiere auf einem Streichelbauernhof und nicht durch die Knutschattacken einer blonden Maid zu kurieren, die in diesem Film auch nur vorkommt, weil die Dardennes sie reingeschrieben haben. Bei Berührungen durch Frauen und Tiere denkt Ahmed sowieso nur
ans Händewaschen.
Ein Problem dieses in vieler Hinsicht problematischen Films ist, dass die Hauptfigur nie wirklich sympathisch ist. Dass sie uns auch nicht interessiert. Ahmed blickt fast ständig zu Boden, er scheint alles in sich hineinzufressen und ist von einem Reinheits- und Reinigungszwang besessen. Da erklären Dokumentarfilme weitaus mehr. Die Brüder müssen sich hingegen vorwerfen lassen, dass sie auf einen Zug aufspringen und der Mode des Augenblicks folgen.
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0800 Dardennes – wenn etwas falsch läuft: Rufen Sie die Dardennes! Sie kommentieren die ganze Welt. Es gibt nichts Schlechtes in der Welt, gegen das die Brüder Dardennes nicht ankämpfen. Wenn Sie ein Problem haben, können Sie sich an sie wenden. Denn sie werden dann ganz bestimmt einen Film darüber machen. Es gibt kein Problem, das die Dardennes-Brüder nicht kommentieren, und über das sie dann nicht ihre Methode drüberstülpen.
Die geht dann so: Man nehme einen Charakter,
möglichst einen jungen Menschen oder ein Kind, man folge diesem Menschen auf Schritt und Tritt durch seinen ganzen Tag, sein ganzes Leben mit ständigen Nahaufnahmen, hautnaher Kamera, man schaue ihm dabei möglichst nah zu, möglichst ungeschminkt möglichst undistanziert. Natürlich ist das nicht sooo einfach. Eine Masche ist es trotzdem.
Und wenn man das alles lang genug macht, so die Dardennes-Brüder, dann entdecken wir in jedem Menschen – den Menschen.
Ist das jetzt eine Banalität? Die Dardennes-Brüder würden natürlich sagen: Nein, denn jeder Mensch ist wertvoll, selbst der komplette Nichtsnutz, selbst der Terrorist, selbst der Selbstmordattentäter; jeder Mensch ist in sich wertvoll, selbst wenn er irgendwann andere Menschen in die Luft sprengt oder wenn es ein dummes Kind ist, das seiner Lehrerin ein Messer in den Bauch rammen möchte. Aber gibt es überhaupt dumme Kinder im Kosmos der Dardennes?
Ich habe da meine Zweifel, würde
eher sagen: Das alles ist sehr wohl nicht nur eine Banalität, sondern es ist ein cheesy Humanismus.
In manchen Fällen haben es die Dardennes geschafft, ihren cheesy Humanismus zu überwinden, über ihn hinaus zu gehen, und ihm eine Poesie zu geben. Sie haben es geschafft, dem Banalen Würde zu verleihen. Aber nicht in diesem Fall.
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Interessant ist hier der sich aufdrängende Vergleich mit Terrence Malicks Film: Beide erzählen von einem Fundamentalisten, der in Haft und isoliert seinen Überzeugungen, (oder Ideologien?) treu bleibt, bis in den Tod, der die Welt und Gesellschaft und Kompromisse ablehnt.
Eine aktuelle Figur? Diese Gedanken müssen wir ein andermal vertiefen.
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Sie wissen nicht, was sie tun, aber sie wissen, was sie wert sind. Wer sie sind, davon werden sie ein bisschen mehr erfahren in diesem Film. Es geht um Werte, sagt Phillippe, die Figur von Benoit Magimel, am Ende. Naima wisse, was sie wert sei – auch das sagt ihr der um vieles ältere Phillippe, und das schätze er an ihr.
Es ist ein Sommer, der letzte Sommer der Jugend, von dem Une fille
facile erzählt. Es geht um den Abschied von der Kindheit, von der Unschuld, aber auch um den Sommer an sich, darum, was das ist, Leichtigkeit.
Die 16-jährige Naima ist noch unschuldig, erst recht im Vergleich zu Sofia, ihrer entfernten Cousine und Sommer-Freundin. Erst im Juni haben sie sich wiedergetroffen und richtig kennengelernt, jetzt verbringen beide zusammen in Cannes die Sommerferien. Sofia ist eine Wahnsinns-Nummer. Sofia bringt Naima auf Ideen, auf einige gute und auf
viel Quatsch. Sie bringt ihr bei, wie man Katzenaugen a la Sophia Loren bekommt, und wie man bei einem gesetzten Essen über die Romane von Marguerite Duras redet, ohne auch nur einen von ihnen gelesen zu haben. Sie bringt ihr bei, selbstbewusst zu sein, und sich zu nehmen, was vor einem liegt. Wie es die Männer tun, auch in diesem Film.
Der Film zeigt die Welt der Reichen, und er zeigt, wie mans richtig macht: Essen, Bootsfahren, Kunst kaufen, Geld ausgeben. Das Boot heißt nicht zufällig »Winning Streak«. Die Winner-Typen, das sind die Männer. Sie haben Geld und sind alt, die Frauen sind jung und haben Schönheit. Win win. Dieser Film ist ein feministischer Film, also einer, der das nicht alles schlimm findet, der überhaupt nicht jammert, sondern besser den Hedonismus verteidigt.
Rebecca Zlotowski ist und bleibt damit eine der interessantesten Regisseurinnen, wenn nicht die interessanteste ihrer Generation. Eine ganz eigene Stimme, eine Frau, die immer persönliche Filme macht. Ihre Filme sind ungefügt, haben immer etwas Eigenes, sie sind nicht so akademisch wie der neueste von Celine Sciamma. Rebecca Zlotowski erinnert eher an Olivier Assayas: Einer, der auch nie ganz reinpasst, nie ganz rein gehört in die Kategorien des Setzkastens, den es auch im französischen Kino gibt. Ihre Frauenfiguren sind immer spröde und oft traurige Charaktere, wild und ungefügt, es sind Mädchen, die ihren Platz noch nicht gefunden haben, die suchen; Outsiderinnen, Lonerinnen, Einzelgängerinnen.
(to be continued)