Weich, rund und wunderschön |
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Alles, was ein guter Film braucht: A girl and a gun in Hashoter |
»Making a movie is like romancing a girl«, sagt der Hollywoodproduzent Jonathan Shields in Vincente Minnellis wunderbarer Hollywoodinsiderkomödie The Bad and the Beautiful. Auch Filmfestivals sind im Grunde ein hochromantisches Ereignis. Das gilt besonders dann, wenn sie an so malerischen Orten stattfinden, wie dem altehrwürdigen Tessiner Nobelkurort Locarno. Anfang August wurde dort zum 64. Mal das Filmfestival eröffnet – mit J.J. Abrams' Horrorfilm Super 8, der inzwischen auch im deutschen Kino gestartet ist.
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Wenn von Locarno die Rede ist, dann denkt man neben dem auffälligen gelbschwarzen Leoparden-Design vor allem an die historische Piazza Grande, wo während des Festivals allabendlich das größte Open-Air-Kino der Welt stattfindet. Vorausgesetzt, das Wetter hält durch, ist es ein wunderbares Erlebnis, unterm August-Sternenhimmel auf einer riesigen Breitwand Antonionis Zabriskie Point zu sehen, oder in diesem Jahr unter anderem An American in Paris von eben Vincente Minnelli, dem aus Anlaß seines 25. Todestags die Retrospektive gewidmet war.
Seit letztem Jahr darf man bei Locarno auch wieder an Filmkunst denken. Da übernahm der Franzose Olivier Père das Festival, das ähnlich viel Patina angesetzt hatte wie manche der Tessiner Urlaubsvillen. Schon in seinem ersten Jahr lieferte Père den Beweis, dass in der vermeintlich so kalten, durchorganisierten Filmwelt persönliche Qualitäten immer noch der Schlüssel zum Erfolg sind. In diesem Jahr gelang ihm, was seine Vorgänger – ähnlich wie auf höherem Niveau Dieter Kosslick bei der Berlinale – für unmöglich erklärten: Stars wie Harrison Ford, Daniel Craig und Isabelle Huppert und ein paar Hollywoodfilme wieder nach Locarno zu holen, die eine oder andere Zukunftshoffnung zu entdecken, und der Konkurrenz der übrigen A-Festivals ein paar gute Autorenfilmer abzuluchsen. Zu jenen gehörte im Wettbewerb die erst 30-jährige Mia Hansen-Løve, spätestens seit ihrem zweiten Spielfilm Der Vater meiner Kinder der Shootingstar unter Frankreichs Regisseuren. Oder die Libanesin Danielle Arbid, die einst in Cannes Furore machte, und deren neuer Film Beyrouth Hotel vor Jahren in Locarnos »Open Doors«-Sektion mit in die Wege geleitet wurde – im Wettbewerb dann allerdings aber stark enttäuschte. Zwar gefiel der melancholische Grundton und die stylischen Bilder, aber insgesamt war der ganze Film doch extrem lahm und unpräzis. Im Zentrum steht die von Anfang an diffuse Liason zwischen einer Sängerin, die offenbar leicht zu haben ist, und einem französischen Diplomaten. »If you think you understand Libanon, you have been missinformed.« Es kommt zu verwirrenden Intrigen und Verrat. Aber für die Welt der Yuppies von Beirut findet die Regisseurin nur unoriginelle, angegriffene Bilder.
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Beste Absichten haben immer alle, mit dem Ergebnis muss das noch lange nichts zu tun haben. Beste Absichten ist der treffende Titel eines Films, der den Wahnsinn des Alltags ins Bild setzt. Der Rumäne Adrian Sitaru, der viel Vorschusslorbeeren verdiente, gerade deshalb, weil sich dessen Debüt Pescuit Sportiv 2007 jenseits der Üblichkeiten von Rumäniens »neuer Welle« bewegte, erhielt für ihn jetzt zum Abschluss des Wettbewerbs der Filmfestspiele in Locarno den Regiepreis (und den Darstellerpreis für Bogdan Dumutrache). Es beginnt mit einem langen Kameraschwenk durch ein Wohnzimmer. Man sieht einen Mann, Ende dreißig, bei sich zuhause. Er zankt über ein paar Kleinigkeiten mit seiner Freundin, dabei arbeitet er am Laptop und telefoniert mit einer Kollegin, die ihm offenbar eine wichtige Information noch nicht gemailt hat, er bucht einen Flug – ein junger Angestellter im Stress. Das rumänische Kino, das derzeit zu den interessantesten Kinematographien Europas gehört, liebt solche Alltagssituationen, wie wir sie alle kennen, und entwickelt seine Charaktere und seine Geschichten fast immer am Rande zum scheinbar Banalen. Schnell kommt Bewegung in die Ausgangslage: Der Mann erhält einen Anruf von seinem Vater, die Mutter habe einen Schlaganfall erlitten. Nun fährt der Sohn ins Krankenhaus, und kümmert sich um die Behandlung. Sitaru spielt seine Szenen lang aus, zu Beginn etwa wird nur einmal innerhalb von gut zehn Minuten geschnitten. Das stellt erhöhte Anforderungen an Schauspieler und Choreographie, zugleich intensiviert sich die Szene im Sekundentakt; man kann der Spannung beim Wachsen zusehen. Solche Inszenierungen sind das Markenzeichen rumänischer Filme, und Sitaru gelingt es, durch genaue Beobachtungsgabe die vielen Facetten des Chaos zu zeigen: im Innenleben eines Krankenhauses, dessen Zustände keineswegs mehr durch postkommunistische Miserabilität geprägt sind. Aber von zwei Ärzten bekommt man drei Meinungen, die Zimmer sind überfüllt, das Personal überfordert – derlei passiert einem auch hierzulande. Nähe zum Menschlichen prägt die Zeichnung auch unwichtigerer Nebenfiguren.
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Vor allem im Portrait des überbesorgten wie gegen seine Umwelt aggressiven Sohnes entfaltet der Film auch das Psychogramm eines Muttersöhnchens. Sitarus rumänischer Mann ähnelt dem Polizisten im Zentrum von Hashoter vom Israeli Nadav Lapid (Spezialpreis der Jury). Beide Filme sind nicht vordergründig politisch, aber sie erzählen viel über das Leben in ihren Gesellschaften, in denen die Familien stärker sind, als anderenorts, und die Söhne offenbar gezwungen, immer den »starken Mann« zu geben.
Der Preis war verdient, denn Hashoter, übersetzt »Polizist«, ist ein überaus reifer, konzentrierter, vom ersten bis zum letzten Moment spannender Film. Er ist stilistisch konsequent und souverän inszeniert, seine Handlung ist aktuell und in vieler Hinsicht provokativ. Dabei wirkt alles zunächst wie eine private Story aus dem israelischen Mittelstand. Anfangs sieht man eine Gruppe von Männern auf einer Fahrradtour, irgendwo in den Bergen um Jerusalem. Als sie den Gipfel erreicht haben, jubeln sie, blicken so erschöpft wie stolz hinunter ins Tal und rufen: »Dies ist das schönste Land der Welt!« Der Ausruf wird noch einen sarkastischen Beigeschmack bekommen. Zunächst aber lernt man einen der Männer, Yaron (Yiftach Klein) näher kennen. Seine Frau ist schwanger, ein naher Freund und Arbeitskollege hat Krebs. Irgendwann begreift man, dass Yaron Angehöriger einer Spezial-Einheit zur Terroristenbekämpfung ist. Man sieht seinen Alltag, zu dem gehört, dass das ganz normale Zivilleben immer wieder von Gewaltakten unterbrochen wird. Ein Mann, von dem wir nicht mehr erfahren, wird getötet. Dafür lernen wir Yaron und seine Kollegen kennen – eine verschworene, kameradschaftliche Truppe, mit den Macho-Ritualen eines Männerbundes, der sich in Todesgefahr aufeinander verlassen muss. Sie sind auch privat Kumpel, manchmal Freunde und teilen auch viel Freizeit und Familienleben. Nebenbei sehen wir, wie die Einheit mit Schwierigkeiten umgeht: Im schmutzigen Krieg gegen den Terrorismus wurden mehrere Zivilisten getötet, es gibt eine juristische Untersuchung, doch die Wahrheit, die man nur ahnen kann, wird gemeinsam verschleiert. Nach etwa der Hälfte des Films wechselt die Perspektive: Nun porträtiert der Film Shira (Yaara Pelzig), Bürgertochter und eine Aktivistin der radikalen Linken. Gemeinsam mit einigen Freunden plant sie eine Revolution. Der Regisseur zeigt uns, wie sie Manifeste auswendig lernt: »Der jüdische Staat ist ein Staat geworden, der aus Herren und Sklaven besteht. Ein böser Staat, in dem die Mehrheit von Hass getrieben ist, die Minderheit sich für frei hält, und von Individualismus und Sex besessen ist. Wir sind die Töchter und Söhne des hässlichen Israel, geboren in einem grausamen, rassistischen, gewalttätigen und ignoranten Staat.« Ähnlich wie zunächst der Polizeieinheit, folgt der Film nun eine Weile dieser zweiten Gruppe. Man sieht sie im normalen Alltag und dann wieder bei der Vorbereitung einer »Aktion«, und ahnt, dass die zweite Gruppe irgendwann auf die erste treffen muss. Lapid zeigt das Innenleben der Einheit, wie das der Terroristen. Er zeigt beide Gruppen beim Essen, mit ihren Familien, beim Flirten und beim Sex, beim Ausgehen. Er ist voller kleiner schöner Szenen, von denen jede sehr durchdacht ist, und nur ganz selten wirkt alles etwas konstruiert. Dafür gibt es viele kleine feine, sehr präzise Verweise auf die wirtschaftliche Lage Israels oder auf den juristisch umstrittenen Fall von Mordechai Vanunu, des israelischen Atom-Whistleblowers. Der brutale Showdown des Films ist dann die Geiselnahme dreier Multimillionäre. Yarons Einheit muss die Geiseln befreien, und am Ende erschießt Yaron Shira – der Zuschauer bleibt mit vielen widersprüchlichen Gedanken zurück.
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Vor allem aber wurde die Preisverleihung zu einem Triumph für das junge argentinische Kino. Mit Milagros Mumenthalers Abrir puertas y ventanas (über den wir bereits letzte Woche geschrieben hatten) ging der Goldene Leopard an den Film im Wettbewerb, der bei aller konkreten Beobachtung auch ein Geheimnis besitzt und in den Gedanken des Zuschauers lange nachhängt: Ein klaustrophobisches Beziehungsdreieck im Geist Tschechows zwischen drei Schwestern in Buenos Aires. Mumenthaler erzählt offen, vieles bleibt angedeutet, ist dabei aber nie unpräzise. Die Auszeichnung für die »Beste Schauspielerin« ging mit Maria Canale für ihre erste Filmrolle gleichfalls an diesen Film, ebenso wie einige Preise der unabhängigen Jurys.
Mit El estudiante gewann ein weiterer argentinischer Film auch einen der Hauptpreise im zweiten, dem Nachwuchs vorbehaltenen Wettbewerb, dem der »Cineasti del Presente«: Santiago erzählt darin vom Desillusionierungsprozess eines Studenten, der in der Universitätspolitik Karriere macht, und hier bald mit Lüge und Intrigen konfrontiert ist. Beide Preisträger stehen zusammen für einen neuen frischen Schwung des argentinischen Kinos, der sich in der Tendenz zeigt, das die Sujets urbaner sind, der Stil weniger hermetisch, als noch vor einigen Jahren.
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Das war auch in Gaston Solnickis Papirosen erkennbar, der leider ohne Auszeichnung blieb. Solnickis origineller Dokumentarfilm, der am BAL, dem Filmlabor des Buenos Aires Filmfestival (bafici) entwickelt wurde und vor allem sehr inspiriert mit Jahrzehnte altem Filmmaterial umgeht, erzählt von den drei Generationen seiner Familie und mittelbar vom Milieu der europäisch geprägten Emigranten des 20. Jahrhunderts, und von Traditionen, die in einem Leben zwischen alter Bürgerlichkeit und neureichem Lifestyle zunehmend verblassen. Ursprünglich wollte Gastón Solnicki einfach die ersten Lebensjahre seines 2000 geborenen Neffen erzählen. Doch bald wurde daraus ein vielschichtiges, auf mehreren Ebenen miteinander verwobenes Familienportrait, dessen Grundlage 180 Stunden Filmmaterial bilden, sowie mehrere Stunden alte Super-8-Filme, die zwischen den 50er und den 90er Jahren entstanden. Die eine Hauptfigur ist die 1927 geborene Großmutter Pola, die 1948 aus Polen emigrierte. Der Schatten der Shoah lag über ihrem Leben, zunächst waren sie – im Gegensatz zu flüchtigen Nazis – Unerwünschte ohne Staatsbürgerschaft; 1979 erhängte sich ihr Mann im Badezimmer – weil er die Angst vor der Militärdiktatur und ihren »Gestapo-Methoden« nicht aushielt. Die zweite Hauptfigur ist Polas ältester Sohn, Gastóns Vater Victor, der ein wohlhabender Geschäftsmann wurde, aber infolge der Krise von 2001 verarmte. Rührend kümmert sich der 1945 geborene um die alte Mutter, hängt den Erinnerungen an seine früheste Kindheit in der CSSR nach. Daneben lernt man die ganze Familie Solnicki kennen. Immer wieder überschreitet Solnickis origineller Dokumentarfilm die private Ebene. Indem er eine Familie zeigt, die sich streitet und versöhnt, liebt und hasst, wird er zu einer Erzählung über sehr spezielle Schicksale – und universaler Gefühle, der Liebe und des Zusammenhalts innerhalb einer Familie. Intim, subtil, sehr offen, aber nie voyeuristisch enthüllt Solnicki die Gespenster, die seine Familie jagen und quälen – so mündet Papirosen in eine repräsentative Darstellung jüdischer Identität im 20. Jahrhundert.
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In Erinnerung bleiben auch noch der Nachtfilm Low Life von Elisabeth Perceval und Nicolas Klotz. Ein sperriges, abstraktes, sehr artifizielles und trotzdem gegenwärtiges Kinowerk, das direkt an Bressons L’argent erinnert, wie an die jungen Engel der Filme Philippe Garrels. Sie sind rein, kunstinteressiert und politisch engagiert. Ihre Taten und Worte sind absolut. Sie kämpfen mit der Polizei, werfen schweigend Molotowcocktails – schöne Politisierte. Erzählt wird von der prekären Liebe zwischen einer französischen Studentin und einem Asylwerber aus Afghanistan, dem Abschiebung droht.
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Insgesamt war Locarno 2011 in beiden Wettbewerben ein guter Jahrgang. Man sah ein spannendes Programm, auch einige sperrige und »schwierige« Filme, die formal wenig Kompromisse machten. Ein Beleg dafür, dass der gute Eindruck des Vorjahres, in dem der neu berufene künstlerische Leiter Olivier Père vieles umgekrempelt hatte, kein Zufall war. Qualitativ schwer nachzuvollziehen bleiben für den Besucher aber nach wie vor die Unterschiede zwischen den beiden Wettbewerben um den Goldenen Leopard bzw. der »Cineasti del Presente«. Zudem war der Hauptwettbewerb stilistisch wie thematisch im Vergleich zu dem des Vorjahres insgesamt weniger abwechslungsreich und extrem, ohne größere Wagnisse. Die eine oder andere ästhetische Provokation hätte fraglos gut getan. Stattdessen überwogen »kleinere« Varianten des Autorenkino-Mainstreams, wie man er, finanziell besser ausgestattet, auch in Berlin, Venedig und Cannes zu sehen ist. Wer unter »Autorenkino« aber auch originellen Umgang mit Genres versteht, produktive Zumutungen, und ungekannte Seherfahrungen, oder Humor jenseits des Schmunzelns unter Kino-Kennern, musste sich eher an die Nebensektionen halten.
Wer sich dann noch das Vergnügen machte, die Retrospektive zu besuchen, die Vincente Minnelli galt, und daran erinnerte, dass dieser noch ganz andere Filme gemacht hat, als jene Musicals, für die er bekannt ist, der begnete dort auch einer Fallhöhe, der nur wenige Gegenwartsfilme in Locarno gewachsen waren. Wer könnte ein Minnelli der Zukunft sein? Oder ist das, unter Produktionsbedingungen mit einer Mischfinanzierung aus EU-Fonds, nationalem Fördergeld und aufgezwungener Fernsehbeteiligung, einfach eine falsche Frage? Denn zumindest für die Kunst beste Absichten oft der größte Gegner.
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Weil das Festival am Lago Maggiore aber immer auch von einem Hauch von Sommerferien durchtränkt ist, und Père es versteht, Filmkunst mit Unterhaltung zu verknüpfen, konnte man sich auch über anderes freuen: Der phänomenale deutsche Genredreiklang Dreileben von Christian Petzold, Dominik Graf und Christoph Hochhäusler erlebte seine internationale Premiere; endlich einmal wiederzusehen ist Maurice Pialats wohl bester Film, das unterschätzte Genre-Juwel Police von 1985. Gerard Dépardieu ist da auf dem Gipfel seines Könnens, die Schau stiehlt ihm allerdings Sophie Marceau – ganz und gar La Boum! erwachsen, weich, rund und wunderschön. Eine Flaschenpost aus jenen Jahren, als auch das Kino noch romantisches Ereignis war.