17.08.2011

Wenn satte junge Mädchen träumen

Abrir puertas y ventanas
Locarno öffnet Türen:
Der Film des Argentiniers Milagros Mumenthaler

Die vielen Arme des Oktopus: Beim Filmfestival in Locarno zeigte der unabhängige Film seine Facetten

Von Rüdiger Suchsland

»Das indische Kino ist ein Oktopus«, sagt Kabir Bedi. Und während er dem Gesprächs­partner seinen Satz in weiteren schönen Wendungen erläutert, hängt man dieser poeti­schen Wendung noch nach und überlegt, was sich mit diesem irgendwie tollen, irgendwie schiefen Bild noch alles erfassen ließe. Bedi, der vor bald 35 Jahren mit der Titel­rolle in der Fern­seh­serie Sandokan Weltruhm erntete, von dem er sich seitdem nicht mehr erholt hat, ist eine eindrucks­volle Erschei­nung: Mit pech­schwarzem Haar­schopf, das gestraffte Gesicht dick geschminkt und mit viel Cajal um die rollenden Augen sieht er genauso aus, wie man sich in Hollywood seit den Zeiten von Douglas Fairbanks den »typischen Inder« vorstellt. Heute spielt er vor allem Theater, aufs Film­fes­tival nach Locarno hatte man den Wanderer zwischen zwei Welten einge­laden, um die dies­jäh­rige »Open Doors«-Sektion mit Star-Glamour aufzu­laden. Die Offene-Türen-Sektion mit wech­selndem Regio­nal­schwer­punkt gilt diesmal dem indischen Inde­pen­dent-Kino, also den sieben schwächeren Armen des Oktopus jenseits der großen Bollywood-Industrie, die für die Filme­ma­cher des Subkon­ti­nents eben­so­viel Schaden wie Segen bedeutet: Einer­seits haben die Musical-Kitsch­or­gien ja ihre unver­kenn­baren Qualitäten und verschaffen auch dem übrigen indischen Kino mehr Aufmerk­sam­keit. Ande­rer­seits saugen sie Publikum und damit Geld auf, geben Wertemuster und Drama­tur­gien vor und normieren die auslän­di­sche wie einhei­mi­sche Vorstel­lung dessen, was »Indien« eigent­lich bedeutet. Dabei gehe es doch gerade in diesem Land mit seinen unzäh­ligen Regionen, Reli­gionen, Kulturen und Sprachen und mindes­tens vier eigen­s­tän­digen Film­kul­turen jenseits der Studios von Bombay, um »Vielfalt«, wie der Dreh­buch­autor Shaker Rahman betont. Er stellte in den »Open Doors«-Meetings, die auch zur Produk­ti­ons­för­de­rung gedacht sind, sein erstes Regie-Projekt vor, und gewann damit einen der Haupt­preise. Sein Film soll von der indischen Verstri­ckung in den Bürger­krieg von Sri Lanka handeln, ein Thema, das in Bollywood allen­falls in affir­mativ-natio­na­lis­ti­scher Form behandelt werden könnte. Auch den anderen Filmen und Projekten, die – jenseits bekannter Klassiker von Satyajit Ray, Rash Kapur und Guru Dutt, die die große Tradition des indischen Films ins Gedächtnis riefen – vorge­stellt wurden, ist gemeinsam, dass sie die stilis­ti­sche Anlehnung ans westliche Kino mit dem Aufgreifen von Tabu­themen verbinden. Über­ra­schend für einen west­li­chen Beob­achter war, wie wenig vernetzt der indische Auto­ren­film ist: Viele der Regis­seure und Produ­zenten mussten ausge­rechnet in die Schweiz kommen, um sich persön­lich kennen­zu­lernen und auszu­tau­schen – jetzt wünschen sie sich Struk­turen, um das Treffen zu vertiefen.

Unge­achtet anderer Probleme wächst die Bedeutung von Festivals wie Locarno fürs Auto­ren­kino und unab­hän­gige Filme­ma­cher noch immer. Oft genug sind sie inzwi­schen der einzige Ort, an dem normale Zuschauer überhaupt neue Filme jenseits des in jeder Hinsicht begrenzten Indus­trie­kinos sehen können und sich innere Zusam­men­hänge und Tendenzen des Weltkinos erschließen. Das gilt für das Werk eines Hollywood-Auteurs wie Vincente Minnelli, dem eine komplette Retro­spek­tive gewidmet ist, ebenso, wie für die meisten Regis­seure, die in den beiden Locarno-Wett­be­werben vertreten sind. Ein großar­tiges Beispiel ist Abrir puertas y ventanas der argen­ti­nisch-schweizer Regis­seurin Milagros Mumenthaler. Es geht um drei Schwes­tern im Buenos Aires von heute. Sie leben gemeinsam in einer Villa mit Garten, vielen alten Möbeln und über­la­denem Dekors. Das Haus gehörte der Groß­mutter, bei der die Mädchen offenbar aufwuchsen und die kürzlich verstorben ist – aber so ganz genau weiß man vieles nicht. Abrir puertas ist ein Film in der Schwebe, der seine drei Figuren mit viel Anteil­nahme beob­achtet. Meist bleibt die Kamera im Haus, der Blick wagt sich allen­falls bis in den Garten oder an die Pforte der Nachbarn – eine Metapher für die Gemüts­lage der Schwes­tern, die in einer seeli­schen Klaus­tro­phobie erstarrt sind. Es passiert so viel, wie in Tsche­chows »Drei Schwes­tern«. Ähnlich wie dort entpuppt sich die Familie als Terror­zu­sam­men­hang der Selbst­zer­flei­schung, wie dort treiben der Ennui und unge­stillte Sehn­süchte selt­samste Blüten. Der Unter­schied liegt im femininen Blick auf die Welt – und in seiner reifen, satten Mädchen­haf­tig­keit wie in der überaus origi­nellen Musik­aus­wahl wirkt der Film wie ein fernes Echo auf Sofia Coppolas The Virgin Suicides. Zugleich muss man das Geschehen, die Gespräche um eine mögliche Adoption der einen Schwester und die Abwe­sen­heit der Eltern auch auf Argen­ti­niens jüngste Geschichte beziehen: Hunderte von Kindern von unter der Diktatur ermor­deten Eltern wurden dort einst anonym zur Adoption frei­ge­geben, andere wuchsen bei ihren Groß­el­tern auf. Die Regis­seurin weiß, wovon sie spricht, sie musste einst selbst mit ihren Eltern emigrieren.

Bei dem von Mumenthaler ins Zentrum gerückten Typus der verträumten, dabei bis zum Zynismus prag­ma­ti­schen und bis zur Absur­dität ernsten, trotzdem vage roman­ti­schen jungen Mädchen scheint es sich aber um ein univer­selles Gegen­warts-Phänomen zu handeln. Ihm begegnete man in Locarno jeden­falls in mehreren Filmen, so auch in Mia Hansen-Løves drittem Spielfilm Un amour de jeunesse. Sehr fran­zö­sisch erzählt die Französin von Männern, die die Liebe nicht verdienen, und Frauen, für die sie so heilig ist, dass sie noch nach jeder Sünde so rein und unschuldig dastehen wie am ersten Tag. Das gilt vor allem für die Haupt­figur Camille (Lola Créton). Zu Beginn des Films ist sie fünfzehn, und liebt Sullivan (gespielt vom Deutschen Sebastian Urzen­dowsky). Der verlässt sie aber bald für eine Südame­ri­ka­reise. Camille bleibt zurück, leidet, wird Archi­tektin, verliebt sich neu und trifft acht Jahre später Sullivan wieder. Hansen-Løve betritt das brach­lie­gende Terrain von Rohmer, wenn sie Menschen zeigt, die Sätze sagen wie: »Wenn du dir die Haare scheidest, verlass ich dich« – »Wenn du mich verlässt, dann töte ich mich.« Das Leben und die Liebe sind schön und klar – wie der Windstoß, der im Schluss­bild jenen Hut, der Camille über die Jahre beglei­tete, entschlossen in einen Fluss weht...

Die etwa gleich­alten Mumenthaler und Hansen-Løve sind Vertre­te­rinnen jener neuen Gene­ra­tion junger Regis­seure, die sich wieder etwas unbe­fan­gener dem Erzähl­kino zuwenden, dabei doch ans klas­si­sche Auto­ren­kino anknüpfen, ohne dessen Manie­rismen zu verfallen. Es ist dies eine Seite des Kinos, wie es Locarno-Direktor Olivier Père liebt, und auf dieses Festival zurück­ge­holt hat. Neben das konse­quente, souveräne Kunstkino tritt der nicht weniger entschlos­sene Genrefilm: Für ihn stehen die zwei Beiträge, mit denen das deutsche Kino diesmal im pracht­vollen, 8000 Zuschauer fassenden Frei­luft­kino der mittel­al­ter­li­chen Piazza Grande vertreten war: Während Achim von Borries in Vier Tage im Mai ein histo­ri­sches, in seinen Details wahn­wit­ziges Ereignis aus den letzten Tagen des Zweiten Welt­kriegs nach­er­zählt – mit viel Sensi­bi­lität, und Gespür für jugend­liche Darsteller –, gelingt dem Münchner Film­stu­denten Tim Fehlbaum in seinem Debüt eine kleine Sensation: Der Titel Hell steht glei­cher­maßen für die Hölle und das gleißende Licht, in das er seine im Jahr 2016 nach voll­endetem Klima­wandel spielende Science-Fiction-Dystopie getaucht hat. Viel­leicht ist kaum etwas wirklich neu an diesem posta­po­ka­lyp­ti­schen Drama zwischen I Am Legend, The Road und Invasion der Körper­fresser. Trotzdem ist der Film packend und macht Spaß. Das liegt auch an der Besetzung: Wer hätte nicht Angela Winkler immer schon mal als Kanni­ba­len­mutter sehen wollen, Lars Eidinger als Nerd, den es in den Welt­un­ter­gang verschlagen hat, und Hannah Herz­sprung als das, was die Ameri­kaner »final girl« nennen: Eine unge­wollte Amazone, die es mit allen Monstern aufnimmt, und jede Heraus­for­de­rung überlebt. Souverän beherrscht Fehlbaum seine Mittel, hält sich mit nichts zu lang auf – so einen Film hat man seit Fleisch nicht aus Deutsch­land gesehen. Auch solche Auto­ren­gen­re­filme sind eine Facette, die man im Kino nicht missen möchte – denn nicht nur das indische Kino ist erst mit vielen Armen schön.