Wenn satte junge Mädchen träumen |
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Locarno öffnet Türen: Der Film des Argentiniers Milagros Mumenthaler |
»Das indische Kino ist ein Oktopus«, sagt Kabir Bedi. Und während er dem Gesprächspartner seinen Satz in weiteren schönen Wendungen erläutert, hängt man dieser poetischen Wendung noch nach und überlegt, was sich mit diesem irgendwie tollen, irgendwie schiefen Bild noch alles erfassen ließe. Bedi, der vor bald 35 Jahren mit der Titelrolle in der Fernsehserie Sandokan Weltruhm erntete, von dem er sich seitdem nicht mehr erholt hat, ist eine eindrucksvolle Erscheinung: Mit pechschwarzem Haarschopf, das gestraffte Gesicht dick geschminkt und mit viel Cajal um die rollenden Augen sieht er genauso aus, wie man sich in Hollywood seit den Zeiten von Douglas Fairbanks den »typischen Inder« vorstellt. Heute spielt er vor allem Theater, aufs Filmfestival nach Locarno hatte man den Wanderer zwischen zwei Welten eingeladen, um die diesjährige »Open Doors«-Sektion mit Star-Glamour aufzuladen. Die Offene-Türen-Sektion mit wechselndem Regionalschwerpunkt gilt diesmal dem indischen Independent-Kino, also den sieben schwächeren Armen des Oktopus jenseits der großen Bollywood-Industrie, die für die Filmemacher des Subkontinents ebensoviel Schaden wie Segen bedeutet: Einerseits haben die Musical-Kitschorgien ja ihre unverkennbaren Qualitäten und verschaffen auch dem übrigen indischen Kino mehr Aufmerksamkeit. Andererseits saugen sie Publikum und damit Geld auf, geben Wertemuster und Dramaturgien vor und normieren die ausländische wie einheimische Vorstellung dessen, was »Indien« eigentlich bedeutet. Dabei gehe es doch gerade in diesem Land mit seinen unzähligen Regionen, Religionen, Kulturen und Sprachen und mindestens vier eigenständigen Filmkulturen jenseits der Studios von Bombay, um »Vielfalt«, wie der Drehbuchautor Shaker Rahman betont. Er stellte in den »Open Doors«-Meetings, die auch zur Produktionsförderung gedacht sind, sein erstes Regie-Projekt vor, und gewann damit einen der Hauptpreise. Sein Film soll von der indischen Verstrickung in den Bürgerkrieg von Sri Lanka handeln, ein Thema, das in Bollywood allenfalls in affirmativ-nationalistischer Form behandelt werden könnte. Auch den anderen Filmen und Projekten, die – jenseits bekannter Klassiker von Satyajit Ray, Rash Kapur und Guru Dutt, die die große Tradition des indischen Films ins Gedächtnis riefen – vorgestellt wurden, ist gemeinsam, dass sie die stilistische Anlehnung ans westliche Kino mit dem Aufgreifen von Tabuthemen verbinden. Überraschend für einen westlichen Beobachter war, wie wenig vernetzt der indische Autorenfilm ist: Viele der Regisseure und Produzenten mussten ausgerechnet in die Schweiz kommen, um sich persönlich kennenzulernen und auszutauschen – jetzt wünschen sie sich Strukturen, um das Treffen zu vertiefen.
Ungeachtet anderer Probleme wächst die Bedeutung von Festivals wie Locarno fürs Autorenkino und unabhängige Filmemacher noch immer. Oft genug sind sie inzwischen der einzige Ort, an dem normale Zuschauer überhaupt neue Filme jenseits des in jeder Hinsicht begrenzten Industriekinos sehen können und sich innere Zusammenhänge und Tendenzen des Weltkinos erschließen. Das gilt für das Werk eines Hollywood-Auteurs wie Vincente Minnelli, dem eine komplette Retrospektive gewidmet ist, ebenso, wie für die meisten Regisseure, die in den beiden Locarno-Wettbewerben vertreten sind. Ein großartiges Beispiel ist Abrir puertas y ventanas der argentinisch-schweizer Regisseurin Milagros Mumenthaler. Es geht um drei Schwestern im Buenos Aires von heute. Sie leben gemeinsam in einer Villa mit Garten, vielen alten Möbeln und überladenem Dekors. Das Haus gehörte der Großmutter, bei der die Mädchen offenbar aufwuchsen und die kürzlich verstorben ist – aber so ganz genau weiß man vieles nicht. Abrir puertas ist ein Film in der Schwebe, der seine drei Figuren mit viel Anteilnahme beobachtet. Meist bleibt die Kamera im Haus, der Blick wagt sich allenfalls bis in den Garten oder an die Pforte der Nachbarn – eine Metapher für die Gemütslage der Schwestern, die in einer seelischen Klaustrophobie erstarrt sind. Es passiert so viel, wie in Tschechows »Drei Schwestern«. Ähnlich wie dort entpuppt sich die Familie als Terrorzusammenhang der Selbstzerfleischung, wie dort treiben der Ennui und ungestillte Sehnsüchte seltsamste Blüten. Der Unterschied liegt im femininen Blick auf die Welt – und in seiner reifen, satten Mädchenhaftigkeit wie in der überaus originellen Musikauswahl wirkt der Film wie ein fernes Echo auf Sofia Coppolas The Virgin Suicides. Zugleich muss man das Geschehen, die Gespräche um eine mögliche Adoption der einen Schwester und die Abwesenheit der Eltern auch auf Argentiniens jüngste Geschichte beziehen: Hunderte von Kindern von unter der Diktatur ermordeten Eltern wurden dort einst anonym zur Adoption freigegeben, andere wuchsen bei ihren Großeltern auf. Die Regisseurin weiß, wovon sie spricht, sie musste einst selbst mit ihren Eltern emigrieren.
Bei dem von Mumenthaler ins Zentrum gerückten Typus der verträumten, dabei bis zum Zynismus pragmatischen und bis zur Absurdität ernsten, trotzdem vage romantischen jungen Mädchen scheint es sich aber um ein universelles Gegenwarts-Phänomen zu handeln. Ihm begegnete man in Locarno jedenfalls in mehreren Filmen, so auch in Mia Hansen-Løves drittem Spielfilm Un amour de jeunesse. Sehr französisch erzählt die Französin von Männern, die die Liebe nicht verdienen, und Frauen, für die sie so heilig ist, dass sie noch nach jeder Sünde so rein und unschuldig dastehen wie am ersten Tag. Das gilt vor allem für die Hauptfigur Camille (Lola Créton). Zu Beginn des Films ist sie fünfzehn, und liebt Sullivan (gespielt vom Deutschen Sebastian Urzendowsky). Der verlässt sie aber bald für eine Südamerikareise. Camille bleibt zurück, leidet, wird Architektin, verliebt sich neu und trifft acht Jahre später Sullivan wieder. Hansen-Løve betritt das brachliegende Terrain von Rohmer, wenn sie Menschen zeigt, die Sätze sagen wie: »Wenn du dir die Haare scheidest, verlass ich dich« – »Wenn du mich verlässt, dann töte ich mich.« Das Leben und die Liebe sind schön und klar – wie der Windstoß, der im Schlussbild jenen Hut, der Camille über die Jahre begleitete, entschlossen in einen Fluss weht...
Die etwa gleichalten Mumenthaler und Hansen-Løve sind Vertreterinnen jener neuen Generation junger Regisseure, die sich wieder etwas unbefangener dem Erzählkino zuwenden, dabei doch ans klassische Autorenkino anknüpfen, ohne dessen Manierismen zu verfallen. Es ist dies eine Seite des Kinos, wie es Locarno-Direktor Olivier Père liebt, und auf dieses Festival zurückgeholt hat. Neben das konsequente, souveräne Kunstkino tritt der nicht weniger entschlossene Genrefilm: Für ihn stehen die zwei Beiträge, mit denen das deutsche Kino diesmal im prachtvollen, 8000 Zuschauer fassenden Freiluftkino der mittelalterlichen Piazza Grande vertreten war: Während Achim von Borries in Vier Tage im Mai ein historisches, in seinen Details wahnwitziges Ereignis aus den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs nacherzählt – mit viel Sensibilität, und Gespür für jugendliche Darsteller –, gelingt dem Münchner Filmstudenten Tim Fehlbaum in seinem Debüt eine kleine Sensation: Der Titel Hell steht gleichermaßen für die Hölle und das gleißende Licht, in das er seine im Jahr 2016 nach vollendetem Klimawandel spielende Science-Fiction-Dystopie getaucht hat. Vielleicht ist kaum etwas wirklich neu an diesem postapokalyptischen Drama zwischen I Am Legend, The Road und Invasion der Körperfresser. Trotzdem ist der Film packend und macht Spaß. Das liegt auch an der Besetzung: Wer hätte nicht Angela Winkler immer schon mal als Kannibalenmutter sehen wollen, Lars Eidinger als Nerd, den es in den Weltuntergang verschlagen hat, und Hannah Herzsprung als das, was die Amerikaner »final girl« nennen: Eine ungewollte Amazone, die es mit allen Monstern aufnimmt, und jede Herausforderung überlebt. Souverän beherrscht Fehlbaum seine Mittel, hält sich mit nichts zu lang auf – so einen Film hat man seit Fleisch nicht aus Deutschland gesehen. Auch solche Autorengenrefilme sind eine Facette, die man im Kino nicht missen möchte – denn nicht nur das indische Kino ist erst mit vielen Armen schön.