22.08.2013

Der Locarno-Blog

Das Freiluftkino auf der Piazza Grande von Locarno
Das Freiluftkino auf der Piazza Grande
Foto: Christine Deriaz

Vom 9.-18. August hat Christine Deriaz auf dem Artechock-Blog vom Filmfestival in Locarno berichtet. Wir sammeln hier noch einmal ihre Festivalbesprechung in fünf Runden

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Locarno: 1 Wachstum und Freiheit
Posted on 9. August 2013 by chderiaz

Mit flam­menden Worten über die Freiheit der Kunst hat Festi­val­prä­si­dent Marco Solari die 66. Inter­na­tio­nalen Film­fest­spiele von Locarno eröffnet. Bei allem Wunsch nach Wachstum, auch um als Festival konkur­renz­fähig zu bleiben, darf diese Freiheit nicht Sach­zwängen geopfert werden. Möglich, dass diese Worte nicht ausschließ­lich die Identität des Festivals, als Ort, nicht nur künst­le­ri­schen, sondern auch intel­lek­tu­ellen Austauschs, betonen sollten, eventuell sollen sie erwar­teter Kritik schon im Vorfeld den Wind aus den Segeln nehmen. Immerhin beinhaltet die Auswahl des neuen künst­le­ri­schen Direktors Carlo Chatrian ein paar Filme, die Klein­geis­tern miss­fallen könnten.

Zur Eröffnung im schönsten Frei­luft­kino, der Piazza Grande, gab es zunächst einen Ehren­leo­parden für den grossen Chris­to­pher Lee, der das Publikum mit einer anek­do­ten­rei­chen Dankes­rede auf Italie­nisch und Englisch bezau­berte. Mit 2 Guns von Baltasar Kotmákur gab es sati­ri­sche Schüsse gegen die Allmacht der diversen ameri­ka­ni­schen Geheim­dienste; Drogen­fahnder gegen Geheim­dienst der Armee, gegen Drogen­baron, gegen CIA, irgend­wann jeder gegen jeden, die Betrüger betrügen sich gegen­seitig, und die Helden werden von ihren Dienst­herren abser­viert als billiges Bauern­opfer. Tempo­reich, witzig, nicht immer politisch korrekt, aber dennoch bleibt der Film an Ende konven­tio­neller als er sich selbst darstellt. Er bleibt ein gutes altes Buddy-Movie, und am Ende kann man sich »nur auf den Typen, der direkt neben dir kämpft« verlassen. Trotzdem, Spaß hat es gemacht, und trotz eines mächtigen Gewitters ab der Hälfte des Films, ein gelun­gener erster Abend in Locarno.

Und dann beginnt der »Ernst« des Festival-Alltags: rein ins Kino, raus, nächstes Kino, schneller Kaffee, rein ins Kino…
Zum Beispiel in die Welt­pre­miere des perua­ni­schen Films El mudo (Der Stumme) von Daniel und Diego Vega. Ein Richter wird ange­schossen, und versucht, obwohl die Polizei alles nur für einen Zufall hält, den Täter ausfindig zu machen. Das ist die eine Seite der Geschichte, die andere ist eher eine Milieu­studie: Vater Richter, Mutter Richterin, die erschossen wurde, halb­wüch­sige Tochter, die nicht Jura studieren mag, poli­ti­sche Intrigen auf alltäg­li­chem Niveau, viel Schweigen und Lang­sam­keit; ein bisschen verwir­rend und doch fesselnd.
Reden und Geschrei, streiten und versöhnen dagegen in Le sens de l’humour (Sinn für Humor) von Marilyne Canto, die auch die Haupt­rolle spielt. Eine verwit­wete junge Mutter beginnt eine Beziehung, von der sie immer wieder, in recht dras­ti­schen Worten, behauptet, dass sie sie gar nicht will. Wegstoßen und zurück­holen bestimmen die Beziehung, mitten­drin ihr kleiner Sohn, der sich nicht sehn­li­cher wünscht, als eine Familie und einen kleinen Bruder. Klingt nach »Wohl­fühl­kino« hat aber sehr sympa­thi­sche Ecken und Kanten, die den Film aus der Masse heraus­heben. Eher ein Reinfall der thailän­di­sche Film Sai nam tid shoer (Am Fluss) von Nontawat Numben­ch­apol. In sehr schönen Bilder wird ein thailän­di­sches Dorf an einem Fluss gezeigt, statisch nicht nur die Bilder, sondern auch das Dorfleben, das eine Anein­an­der­rei­hung von trägen, zähen Stunden zu sein scheint. An sich will der Film ein Umwelt­pro­blem und seine Konse­quenzen zeigen, der Fluss ist seit Jahren durch Blei verseucht, es gibt kaum mehr Fische, die Bevöl­ke­rung wurde nie entschä­digt. Aber es fällt schwer, dem Thema zu folgen, irgendwie bleiben nur die schönen Bilder, es fehlt das filmische, erzäh­le­ri­sche Konzept.
Statt mit 8000 Zuschauern auf der Piazza Grande, auswei­chen, wegen Regen, ins »nur« 3000 Zuschauer fassende Fevi. Carlo Chatrian verteilt charmant weitere Ehren­leo­parden, diesmal an Anna Karina – die ihren Leoparden küsst! Also doch! – und an Sergio Castel­litto, bevor er Regie und Darsteller von Vijay and I von Sam Garbarski auf die Bühne holt. Diese belgisch-luxem­bur­gisch-deutsche Kopro­duk­tion ist ein Riesen­spaß, mit einem kleinen, nach­denk­lich stim­menden Einschlag und einem toll spie­lenden Moritz Bleibtreu, in der Rolle eines Schau­spie­lers, von dem Freunde und Familie glauben er sein tödlich verun­glückt, und der, verkleidet als indischer Freund des »Verstor­benen«, endlich zu dem wird, der er, bisher, nie geschafft hat zu sein. Tosender Beifall im Saal, trom­melnder Regen draussen.

Locarno: 2 Fami­li­en­bande
Posted on 12. August 2013 by chderiaz

Welt­pre­mieren und Weltstars auf der Piazza Grande: Faye Dunaway, Victoria Abril und Jacque­line Bisset, drei Abende, drei große Schau­spie­le­rinnen, die Ehren­leo­parden in ihre Arme schliessen dürfen. Eine Zeremonie, die jeden Abend den Anfang des oder der Piazza-Filme verzögert, bei zwei Filmen ergibt das schnell einen ziemlich langen Abend auf den unbe­quemen, und weiterhin mit einem lauten Scheppern zerbre­chenden Stühlen. Aber das ist Jammern auf hohem Niveau; zum Beispiel wenn man gleich zwei Welt­pre­mieren zu sehen bekommt: La variable umana von Bruno Oliviero. Älterer, grimmiger Mailänder Morder­mittler, allein­er­zie­hender Witwer, soll einen Mord an einem Unter­nehmer aufklären, der, allem Anschein nach, eine Schwäche für junge Mädchen hatte. Gleich­zeitig droht die Beziehung zu seiner Teenager-Tochter in Streit und Gefühl­lo­sig­keit zu verschwinden. Solide gemachter Thriller, erzählt im langsamen Tempo, das das Innen­leben seiner Haupt­figur wider­spie­gelt; nicht unspan­nend.
Wesent­lich rasanter der politisch völlig unkor­rekte, schräge, neue Film von Quentin Dupieux Wrong Cops, in dem vom Drogen dealenden Bullen, der seine Ware in toten Ratten versteckt, seinem busen­fi­xierten Kollegen, bis zum quer durch die Gegend und den Film geschleppten Schwer­ver­letzten, ist alles dabei, was man sich vorstellen kann; keine Geschmack­lo­sig­keit, die nicht auspro­biert wird, und schon hat man auch weit nach Mitter­nacht noch ein hell­wa­ches Publikum auf seiner Seite. Empfeh­lens­wert, aber nichts für Zart­be­sai­tete.
Humor der eher konven­tio­nellen, wenn auch grellen Sorte, am Abend darauf: We are the Millers von Rawson Marshall Thurber. Klein­dealer David lässt sich seine Drogen klauen, wird, um seinem Boss zu entschä­digen, auf eine Schmug­gel­tour nach Mexiko geschickt. Um dort nicht aufzu­fallen, schart er, seine strip­pende Nachbarin, einen Nach­bars­jungen und eine junge Obdach­lose, als »Familie« um sich, mietet einen Riesen­camper, und die Reise beginnt, und mit ihr jeder zu erwar­tende Ärger. Viele abstruse Situa­tionen werden mit klamauk­hafter Action und witzigen Dialogen gelöst, aber am Schluss ist es doch haupt­säch­lich eine typische roman­ti­sche Komödie. Ganz unro­man­tisch: The keeper of lost causes. Jussi Adler-Olsen von Mikkel Nørgaard, span­nender, gut gemachter Thriller, der die grosse Leinwand zwar füllt, aber seinen Platz doch eher im Fernsehen hat. Jedes weitere Wort würde die Spannung verderben.

Aber Locarno, das sind nicht nur die großen, lauten Filme der Piazza, das sind auch die kleinen Filme, die es zu entdecken gibt, zum Beispiel Kurzfilme junger Regis­seure in der Reihe »Leoparden von Morgen«.
Mit einem ernsten Thema einen wunderbar witzigen Anima­ti­ons­film zu machen gelingt mit Vigia von Marcel Barelli. Die Geschichte der Biene, die genug von Umwelt­giften und Verschmut­zung hat, und sich eine saubere Blumen­welt suchen will. Strich­männ­chen­hafte Bienen, mit grotesk grossen Zähnen, kotzen und verenden an Pesti­ziden, und selbst die Flucht in die Berge bringt keine Rettung, sieht aus wie ein lustiger Kinder­film, ist aber traurige Realität.
Doku­men­ta­risch: Zima (Winter) von Cristina Picchi, eine Winter­reise durch Nordruss­land und Sibirien. Wunder­schöne Bilder von Land­schaften, Schnee­ge­stöber, Orten, unterlegt mit kurzen Off-Texten von Menschen, die diese Land­schaften und Orte bewohnen, so entsteht ein span­nendes Gesamt­bild einer spröde-schönen Gegend.
Sehens­wert: Zinneke von Rémi Allier; ein kleiner Junge treibt sich auf dem Flohmarkt rum, geht einem Brüder­paar zur Hand, und läuft, einem jungen Hund gleich,den beiden hinterher, bis sie einwil­ligen ihn auf eine nächt­liche Raubtour mitzu­nehmen. Was an dem Film berührt, ist die Beharr­lich­keit mit der das Kind versucht sich Wärme zu holen, wo man eigent­lich keine vermuten würde.
Mit Spannung und großem »Bahnhof« wurde die Welt­pre­miere von Feucht­ge­biete erwartet, RTL hatte tatsäch­li­chen einen Ü-Wagen vor dem Kino, jede Menge Kameras schwirrten herum, eine riesige Warte­schlange vor dem Kino, Zuschau­er­be­fra­gung vorher und nachher…. Wie der Film im Verhältnis zum Buch ist, müssen die beur­teilen, die es gelesen haben. Aber er ist weder ein Skandal, noch wirklich jugend­ge­fähr­dend und Sex wurde in vielen Filmen schon deutlich expli­ziter gezeigt. Eine verzogene, sexuell expe­ri­men­tier­freu­dige Teenagerin mit über­bor­dender Phantasie und, wie es am Schluss aussieht, einem großen Bedürfnis nach Liebe und Gebor­gen­heit, räkelt, flucht, fummelt und albert sich durch den Film, das ist manchmal sauko­misch, manchmal eher blöd, selten peinlich, und in der heutigen Zeit wahr­schein­lich für Jugend­liche ein »alter Hut«. Tolle Schau­spieler, allen voran Carla Juri und Meret Becker, schöne Kamera und einige recht lustige Anima­tionen.
Der bisher schönste Film des Festivals kommt aus Mexiko, Los insólitos peces gato (Die unglaub­li­chen Katzen­fi­sche) von Claudia Sainte-Luce. Der Film ist lustig, traurig, grell, warm­herzig und wunderbar gespielt, und, er schafft das, was hier in den letzten Tagen immer wieder beschworen wird, er hat die Magie, die es braucht, damit all diese Emotionen von der Leinwand zum Publikum über­springen. Es geht um eine an HIV sterbende Mutter mit ihren vier Kindern von vier verschie­denen, abwe­senden Vätern, und um eine jungen Frau, die plötzlich mitten­drin ist, in dieser manchmal entner­vend lauten, chao­ti­schen Familie, die im Lauf des Films zu ihrer Familie wird. Aber es ist nicht so sehr die Geschichte an sich, die berührt, sondern die Gesamt­heit der Darsteller, der Kamera, des Rhythmus in dem man ganz selbst­ver­s­tänd­lich mitschwimmt. Am Ende gab es minu­ten­langen Applaus von einem Publikum, das glücklich und mit etwas verweinten Augen aus dem Kino in den Sommer­nach­mittag schwebte.

Locarno: 3 Charme­of­fen­sive
Posted on 14. August 2013 by chderiaz

Soviele Dinge könnte man in Locarno tun, schwimmen im Lago Maggiore, durch die Altstadt­gassen bummeln, in Ruhe Espresso trinken oder einfach nur in den Himmel schauen, alles, wirklich alles hätte mehr Spass gemacht als Mana­k­a­mana von Stephanie Spray und Pacho Velez anzusehen. Eine Stunde lang sieht man Menschen, mal zwei, mal drei, mal redend, mal schwei­gend, in einer Gondel in Nepal den Berg zum Mana­k­a­mana-Tempel hoch­fahren, abwech­selnd in und gegen die Fahrt­rich­tung, danach eine knappe Stunde das gleiche Spektakel bergab. Weder sieht man je den Tempel, noch die Land­schaft, über die einige Pilger unter­ein­ander reden, die Kamera steht und bleibt unbe­weg­lich auf ihrer Position. Schwer zu sagen was das soll, eine Medi­ta­ti­ons­übung, eine Studie über das Verhalten von Menschen, die auf engem Raum beob­achtet werden, eine Metapher für den Kreislauf des Lebens? Zwei lange Stunden, aber auch das muss es wohl geben auf einem Festival, dessen Unab­hän­gig­keit in den vergangen Tagen immer wieder gelobt und hervor­ge­hoben wurde.
Sicher­lich auch nicht für jeden Zuschauer verträg­lich, aber ein wahres Film­kunst­werk : L’étrange couleur des larmes de ton corps (Die seltsame Farbe der Tränen deines Körpers) von Hélène Cattet und Bruno Forzani. Ein laby­rin­thi­scher Film voller Getrie­bener, Obses­sionen, Horro­r­ele­menten, Sex und Gewalt. Die Geschichte ist nicht erzählbar, spielt mit Asso­zia­tionen, Dinge, die mögli­cher­weise statt­ge­funden haben, oder auch nicht, oder erst noch statt­finden werden, alles in einem Brüssler Jugend­stil­haus voller Schnörkel, Buntglas und geheimer Ecken. Die Kamera, mal so nah, dass man fast nicht erfasst, was sie abbildet, mal in schwin­del­erre­genden Fahrten, Verzer­rungen und Farb-und Schock­ef­fekte, und alles verwebt mit einer Tonebene, die zum Teil an die Schmerz­grenze geht. Mit ange­hal­tenem Atem sucht man mit den Figuren nach der Lösung des Rätsels, und kann doch nicht sicher sein, sie am Ende gefunden zu haben. Atem­be­rau­bend gut.
Auf der Piazza Grande dann ein Film, der, dem grossen Jubel nach zu urteilen, gute Chancen auf den Publi­kums­preis hat: Gabrielle von Louise Archam­bault. Wieder eine Geschichte, die mit Charme und Witz direkt ins Herz geht. Zwei junge Menschen mit Behin­de­rung, aber beson­deren künst­le­ri­schen Fähig­keiten, setzen mit fast kind­li­chem Trotz, aber auch Mut, ihr Recht auf Liebe und Gefühle durch, ohne dass die Mitleids­keule geschwungen wird.Die Haupt­dar­stel­lerin Gabrielle Marion-Rivard – mit Williams-Beuren-Syndrom – versprüht anste­ckende Lebens­freude, ist aber auch in den stillen, schweren Momenten des Films absolute Klasse.
Für Short Term 12 von Destin Cretton muss viel Mund­pro­pa­ganda gemacht worden sein, um zehn Uhr morgens bildet sich vor dem Kino bereits eine lange Schlange, als der Film um elf beginnt, ist das Kino ausver­kauft, und sicher haben viele draußen bleiben müssen.
Erzählt wird von Grace, einer Aufse­herin in einem Aufnah­me­heim für schwer­erzieh­bare Jugend­liche, wie sie mit Enga­ge­ment und Einfüh­lungs­ver­mögen, aber auch Durch­set­zungs­kraft um das Vertrauen der Jugend­li­chen kämpft. Bis eine Jugend­liche einge­wiesen wird, die ihre eigene, nicht verar­beitet Kindheit mit Schlägen und Miss­brauch, an die Ober­fläche bringt. Starke Szenen mit nervöser Kamera, wenn es die Geschichte erfordert, und Szenen, in denen Kamera und Figuren zur Ruhe kommen, ergeben einen – auch dank der Schau­spieler – glaub­wür­digen und span­nenden Film.
Sehr schräg der kata­la­ni­sche Film Historia de meva mort (Die Geschichte meines Todes) von Albert Serra. Casanovas letzte Reise, bei der er in den Südkar­paten auf Dracula stößt. Extrem stili­sierte Bilder, düster wie Gemälde hollän­di­scher Meister, jede Szene mit viel Zeit gespielt, viel Zeit auch zum Erfassen der üppigen Deko­ra­tion, der absurd anmu­tenden Dialoge. Casanovas Freude über einen gelun­genen Stuhlgang, mit anschlies­sender Beschnup­pe­rung seiner Finger, sein Spass an barocken Exzessen erinnert kurz an Feucht­ge­biete. Sehr eigen, inter­es­sant und auch befremd­lich.
Und noch ein Skandal, der ausblieb: Vor der Welt­pre­miere des Films L’expé­ri­ence Blocher (Das Expe­ri­ment Blocher) von Jean-Stéphane Bron hatte es in der Schweiz jede Menge Diskus­sionen gegeben, obwohl niemand den Film gesehen hatte, von möglichen Krawallen der Blocher-Freunde, oder -Gegner war im Vorfeld die Rede, mindes­tens Ausbuhen würde man den zur Premiere erschei­nenden SVP-Mann, aber nichts geschah. Blocher selbst kam unauf­fällig auf die sehr volle Piazza Grande, der Film lief ungestört. Und gut ist das, denn es ist eine sehr gut und mit Finger­spit­zen­ge­fühl gemachte Doku­men­ta­tion über einen umstrit­tenen Politiker. Der Kommentar ist in Ich-Form gehalten, und stellt gleich zu Anfang klar, dass der Regisseur nichts mit Blochers Partei und Gedan­kengut gemeinsam hat. So wahrt er sachliche Distanz, schaut zu und lässt agieren, fasst zusammen, was es an Fakten zu vermit­telt gibt, aber wertet nie, stellt keine Fallen sondern beob­achtet einen, ihm unver­s­tänd­li­chen, Politiker mit wissen­schaft­li­cher Neugier; ein geglücktes Expe­ri­ment, ein starker Doku­men­tar­film.
Festival Direktor Carlo Chatrian verliert mehr und mehr seine anfäng­liche Nervo­sität, und punktet mit Kompetenz und buben­haftem Charme. Der von den Zuschauern seit dem ersten Tag ausge­pfif­fene neue Festi­val­trailer, aus Tonkol­lagen und Regis­seur­namen aber ohne Film­bilder, wurde übrigens seit mindes­tens zwei Tage nicht mehr gezeigt! Locarno, das sind die Filme, die Filme­ma­cher, aber auch das Publikum.

Locarno: 4 Grosse Fische und andere Monster
Posted on 16. August 2013 by chderiaz

Auch wenn bei den dies­jäh­rigen »Leoparden von Morgen« manches nicht über­zeugen kann, tauchen doch immer wieder Perlen auf. So zum Beispiel 6 stora fiskar (6 grosse Fische) von Stefan Constan­ti­nescu. Ein schwe­di­sche Künst­ler­paar in Bukarest bekommt uner­wartet eine Tüte voller lebender Karpfen geschenkt, und schwankt in Folge zwischen meucheln und in die Freiheit entlassen. Ihre Versuche die Fische zu töten, ohne sich die »Finger schmutzig« zu machen scheitern kläglich, die Karpfen erweisen sich als erstaun­lich zäh.Während sie alles mit ihrer Video­ka­mera doku­men­tiert, versucht er einen Ort zu finden, an dem die Tiere zurück ins Wasser können. Absurde Momente, fest­ge­halten mit der Kamera, Diskus­sionen darüber, ob das Töten oder eher das Frei­lassen der Fische als Kunst gilt, alles in flottem Tempo und -häufig – subjek­tiver Kamera gedreht: schön. Im selben Programm Z1 von Gabriel Gauchet. Eine subtile Geschichte, die zunächst klein anfängt. Ein Schei­dungs­kind, das sich dem Streit seiner Eltern durch obses­sives Video­spielen oder Fernsehen entzieht, entpuppt sich im Verlauf der Geschichte als Zombie, der zunächst den Fami­li­en­hund, dann den Liebhaber der Mutter beißt und »ansteckt«. Der Film ist so geschickt konstru­iert, dass man keine der Wendungen wirklich kommen sieht und das bis zum aller­letzten Bild. Ok, das ist nicht nett die Geschichte zu verraten, aber, nachdem Kurzfilme, leider, so selten ins Kino kommen, hoffent­lich verzeih­lich
Horror- und Science­fic­tion­film der ganz anderen Art Real von Kiyoshi Kurosawa, weil seine Freundin im Koma in einem Hightech Kran­ken­haus liegt wird ihr Freund an eine Maschine geschlossen, über die er, in ihrem Unter­be­wusst­sein, Kontakt mit ihr aufnehmen kann. Und so werden selbst die klaren Linien japa­ni­scher Räume zu Laby­rin­then, in denen Uner­war­tetes auftaucht, und für reichlich Schrecken sorgt. Aber immer mehr verwi­schen die Ebenen, bis niemand mehr weiss, welcher Raum, welche Figur zur »echten« Welt gehört, und welche nicht. Ziemlich spannend, schöne und auch origi­nelle visuelle Effekte, Drehungen und Haken in der Geschichte, bis zu etwa zwei Drittel des Films, dann taucht neben einem Urzeit­monster, auch plötzlich der große Kitsch auf, und steuert, gnadenlos, auf ein enttäu­schend süßliches Ende zu.
Apropos visuelle Effekte, der Ehren­leo­pard des Abends geht an Douglas Trumbull, dem zu Ehren auch einige seiner Filme laufen.
Außer Konkur­renz, in der Reihe Appel­la­tion Suisse ein Doku­men­tar­film über den phan­tas­ti­schen Harry Dean Stanton Harry Dean Stanton: Partly fiction von Sophie Huber. Inter­views mit Stanton und Wegge­fährten in kontrast­rei­chem Schwarz-Weiß, Stanton unterwegs, Nachts in Los Angeles, in verwa­schenen, zerflies­senden Farben, und viele Film­aus­schnitte, zeigen den Facet­ten­reichtum dieses Schau­spie­lers, der, selbst wenn er nur auf einem Stuhl sitzt und nichts sagt, jeden Film sehens­wert macht.
Erstaun­lich viele Filme dieses Jahres haben Liebe, von roman­tisch über komö­di­an­tisch bis drama­tisch, und Familie, biolo­gi­sche, erwei­terte, fehlende, zum Thema, die meisten schaffen auf dieser Basis inter­es­sante, bewegende, starke Filme, aber manchmal gelingt das irgendwie nicht ganz so gut. Forty years from now yesterday (Gestern in 40 Jahren) von Robert Machoian und Rodrigo Ojeda-Beck zählt leider eher zur Rubrik »nicht ganz so gut«. Die Idee an sich ist nicht schlecht, eine, Familie, alles Laien, spielt die Situation unmit­telbar nach dem plötz­li­chen Tod der Frau und Mutter. Der Schock beim Finden der Leiche, die Verzweif­lung, das Gelähmt­sein. Leider spielt eine – glück­li­cher­weise – lebende Darstel­lerin, ihr totes Alter Ego, und das bis hin zum Waschen, anziehen und für den Sarg fertig­ma­chen, und das funk­tio­niert dann gar nicht mehr, und auch wenn die gesamte Situation wirk­lich­keitsnah wieder­ge­geben wird, wirkt alles falsch und unecht.
Auf der Piazza dann wieder ein Abend mit Doppel­vor­stel­lung, dafür ohne Ehren­leo­pard. Erster Film Mr. Morgan’s Last Love von Sandra Nettel­beck. Familie, Liebe, Tod, Paris und ein tolles Darsteller-Ensemble, Michael Caine, Clémence Poésy, Justin Kirk und Gillian Anderson, 116 Minuten, die einem nie lang werden, Dialoge, die auch dann nicht lähmen oder in Zucker­guss fest­kleben, wenn es um Gefühle geht. Rabiater mit Gefühlen und Familie geht es im zweiten Film des Abends zu. Blue Ruin von Jeremy Saulnier ist eine wüste Geschichte um Rache, eigent­lich schon fast Blutrache. Anfangs bringt ein relativ verwahr­loster Mann den, gerade aus dem Knast entlas­senen, Mörder seiner Eltern um, dieser Mord wiederum bringt dessen Familie auf den Plan, und so stolpert der etwas naive, verwirrte Antiheld durch eine wahre Blutorgie, bei der es keine Gewinner geben kann.
Gewinner in Locarno gibt es dann am Samstag Abend auf der Piazza Grande.

Locarno: 5 Letzte Runde
Posted on 18. August 2013 by chderiaz

Kurz vor Schluss noch einmal Filme, die thema­tisch Familie, Freund­schaft und Mitgefühl, als zentralen Antrieb ihrer Figuren haben. Ein gutes, span­nendes Drehbuch hat Roxanne von Valentin Hotea. Aus Neugierde beantragt Tavi Einsicht in seine Secu­ri­tate Akten, und entdeckt dabei nicht nur, dass er, anschei­nend aus seinem engsten Kreis, bespit­zelt wurde, sondern auch, dass er vermut­lich Vater eines 20-jährigen Sohns ist. Sohn seiner Ex-Freundin und jetzt Ehefrau seines besten Freundes. Aus dieser Grund­kon­stel­la­tion ergeben sich ein Reihe inter­es­santer Fragen über Loyalität, Freund­schaft, aber auch Eltern­schaft; leider besteht die Umsetzung im Wesent­li­chen aus Dialogen in unori­gi­nellen Schnitt- Gegen­schnitt Sequenzen, sauber gemacht, aber visuell völlig unin­spi­riert. Die Geschichte hätte mehr verdient. The special need von Carlo Zoratti, Kopro­du­ziert vom ZDF – Das kleine Fern­seh­spiel, hat visuell deutlich mehr Witz und Origi­na­lität, auch wenn viele Szenen den häss­li­chen Gelbstich einer falsch einge­stellten Kamera haben. Ein Roadmovie, das eine Gruppe von Freunden, unter ihnen der Regisseur selbst,losziehen lässt auf der Suchen nach einer Frau, die mit ihrem autis­ti­schen Kumpel ins Bett gehen will. Nach erfolg­losen Versuchen mit Huren in Udine fährt die Gruppe erst nach Graz in ein Bordell und schließ­lich nach Nord­deutsch­land in ein psycho­lo­gisch betreutes »Bordell« für Menschen mit spezi­ellen Bedürf­nissen. Zum Sex kommt es aller­dings auch dort nicht, weil eigent­lich sucht Enea eine Freundin fürs Leben, und keinen schnellen Sex. Ein warm­her­ziger, witziger Film.
Der letzte Ehren­leo­pard wurde an Werner Herzog vergeben, der mit zwei seiner Kame­ramänner auf die Bühne kam, und diesen Leoparden explizit allen seinen Kammer­leuten widmet, ohne die seine Filme nie möglich gewesen wären. Dass Werner Herzog immer noch ein Publikum anzieht konnte man an der langen Schlange Wartender sehen, die gekommen waren nach Mitter­nacht Fitz­car­raldo auf der Piazza anzusehen.

Im Wesent­li­chen preis­würdig
An den Entschei­dungen von Carlo Chatrians Jurys ist nicht viel auszu­setzen, ihre Begrü­nungen sind filmisch fundiert, auch da, wo sie nicht jeder­manns Geschmack treffen, wie zum Beispiel beim Goldnen Leoparden der Reihe »Cineasti del presente« wo sie sich für Mana­k­a­mana entschieden.
Der goldene Leopard für Albert Serra Historia de meva mort ist glei­cher­massen mutig wie berech­tigt, der Film ist weder einfach noch Main­stream, sondern intel­lek­tuell fordern, märchen­haft und optisch sowohl fordernd als auch in seiner barocken Üppigkeit außer­ge­wöhn­lich. Wie zu erwarten war wählte das Publikum der Piazza Grande Gabrielle zum besten Film.
Bei den »Leoparden von Morgen« ist die Entschei­dung für den Goldenen Pardino sowohl national, A iucata (Die Wette), als auch inter­na­tional La strada di Rafael, nicht ganz nach­voll­ziehbar, wohin­gegen die jeweils silbernen Pardinos für: Zima und Vigia (Biene) mehr als verdient sind.
Alle weiteren Preise sind auf der Homepage des Festivals nach­zu­lesen.
In seinem ersten Jahr hat Carlo Chatrian mit seiner Ausstrah­lung nicht nur sehr schnell die Zuschauer für sich einge­nommen, er hat mit seiner Auswahl auch eine persön­liche und schöne Note gesetzt und eine rundum gute Stimmung verbreitet. Eloquent und viel­spra­chig hat er, gemeinsam mit Sandra Sain, den Präsen­ta­tionen auf der Piazza Grande wieder Spaß und Leich­tig­keit zurück­ge­bracht.
Wenn er in dieser Art weiter­macht, wünscht man ihm und allen Besuchern und Film­schaf­fenden viele weitere Jahre als künst­le­ri­scher Direktor von Locarno.