04.01.2018

Geister, Lieder und Verführte

Valerian - Die Stadt der tausend Planeten
Rüdiger Suchslands bester Film des Jahres: Luc Bessons Valerian – Die Stadt der tausend Planeten

Quantität und Qualität: Ein subjektiv-objektiver Rückblick auf das Kinojahr 2017

Von Rüdiger Suchsland

Allen unseren Lesern wünschen auch wir von »artechock« alles Gute. Viel Glück und Gesund­heit, natürlich auch viele großar­tige Erleb­nisse um Kino und drumherum.
Jetzt, wo 2017 vorbei ist, ist es Zeit, Bilanz zu ziehen. Und wie immer hat eine solche Bilanz sehr viele Aspekte – und ganz grob lassen sich mindes­tens zwei Seiten unter­scheiden: Die quali­ta­tive und die quan­ti­ta­tive.

Quan­ti­tativ ist die Situation der Kinos unver­än­dert ange­spannt. Die Zahl der Filme, die 2017 starteten, hat sich noch einmal erhöht, und beläuft sich nunmehr auf insgesamt 668, also auf im Durch­schnitt 13,2 Film­starts pro Woche. Die in dieser Hinsicht stärksten Monate waren der November (mit 80 Starts) und der März (67), die schwächsten der Juli (44), und der Dezember (46). Ohne Fußball-WM starteten im Juni mit 57 Filmen gar nicht so wenige Filme.

Die Start­ter­mine mit den meisten Filmen waren der 6. April 2017, der 12. Oktober und der 7. Dezember 2017 mit jeweils unsäg­li­chen 19 Starts, dahinter der 9. November 2017 mit 18. Der 28. Dezember war mit immer noch 7 Wochen­start der nied­rigste Starttag, danach kommt der 20. Juli 2017 mit 8.

Unter den 668 Starts waren 11 (Wieder-)Auffüh­rungen von Klas­si­kern. Drei liefen in dieser Film noch nie im Kino: Battle Royale von Kinji Fukasaku, sowie die beiden King Hu-Filme Die Herberge zum Drachentor und A Touch of Zen.
Außerdem konnte man wieder­sehen: Grease, Belle de Jour von Luis Buñuel, La Boum – Die Fete von Claude Pinoteau, Die Reife­prü­fung, Das fünfte Element, Termi­nator 2, Unheim­liche Begegnung der dritten Art, Blood Simple.

Was sonst so für wichtig gehalten wird

Will man nun das Revue passieren lassen, was sonst so für wichtig gehalten wird, so haben wir dem eigent­lich nichts hinzu­zu­fügen, was nicht schon geschrieben wurde. Also nur zur Erin­ne­rung: Bei der von der Weinstein-Affaire ausgelösten Me-Too-Welle sind sich alle einig, obwohl man da über vieles produktiv streiten könnte. Uneinig und kontro­vers reagiert die deutsche »Film­branche«, die eher eine Brache ist, auf etwas, worin sich eigent­lich alle einig sein müssten: Dass ein Festi­val­leiter nach achtzehn Jahren mal einem Neuen Platz machen sollte: Dieter Kosslick musste der Stuhl
schon sehr unsanft aus dem Balkon­fenster seines Berlinale-Palastes geworfen werden, bis er es endlich auch begriff.
Die Berlinale, das deutsche Film­fes­tival mit inter­na­tio­naler Ausstrah­lung, ist auch sonst ins Gerede gekommen. Schon Anfang des Jahres sorgte eine Studie für Aufsehen, nach der es mit der Förderung des deutschen Films auf den Berliner Film­fest­spielen gar nicht so weit her ist, wie die dortige Marke­ting­ab­tei­lung behauptet. Mit der Reprä­sen­tanz weib­li­cher Filme­ma­cher auch nicht.
Debat­tiert wurde auch wie gewohnt über die deutsche Film­för­de­rung. Im Sommer griff die Kultur­staats­mi­nis­terin Monika Grütters in unge­wöhn­li­cher Form die FFA, die bundes­weite Film­för­der­an­stalt an – für die sie selbst ja politisch verant­wort­lich ist. Für manche war das ein Fall von poli­ti­scher Schi­zo­phrenie.

Dann stritt man 2017 über Strea­m­ing­dienste und das Kino, vor allem über Netflix, die dumm oder dreist genug waren, ihre Feind­schaft zum Kino in Cannes ganz unver­blümt zu formu­lieren.

Dem deutschen Film geht es wieder wie immer, daran konnte auch Toni Erdmann nix ändern, der wie erwartet keinen Oscar gewann, und so war der kurze Boom des deutschen Kinos, der eigent­lich nur aus diesem Sensa­ti­ons­er­folg bestand, schnell wieder zuende. Auch der berü­ckende Western von Valeska Grisebach oder Irene von Albertis Der lange Sommer der Theorie halfen nicht genug. Immerhin waren es wie 2016 wieder die Frauen, die die besten deutschen Filme gedreht haben.
Sensa­tionen und neue Besu­cher­re­korde gab es im Kinojahr 2017 auch sonst nicht. Es war kein aufre­gendes Kinojahr, eher business as usual, insgesamt ein Jahr mit vielen milden Enttäu­schungen und ohne große positive Über­ra­schungen oder mindes­tens frucht­bare Irri­ta­tionen.

Die besten Filme, die schlech­testen Filme, Guilty Pleasures, Über­ra­schendes, Ärger­li­ches und der Rest

Ein Film kann hier natürlich nicht unerwähnt bleiben, muss aber »außer Konkur­renz« laufen, auch wenn er für mich der wich­tigste und unter bestimmten Gesichts­punkten der inter­es­san­teste und schönste des letzten Jahres war: Hitlers Hollywood. Wer ihn verpasst hat: es gibt ihn auf DVD und bei diversen guten Film­fes­ti­vals im gerade begin­nenden Jahr.

Ansonsten sind die »Top Ten« für mich diesmal ziemlich klar (Wieder­auf­füh­rungen habe ich außen vor gelassen):

1. Valerian – Die Stadt der tausend Planeten von Luc Besson

2. Nocturama von Bertrand Bonello

3. Elle von Paul Verhoeven

4. Personal Shopper von Olivier Assayas

5. Die Taschen­diebin von Park Chan-Wook

6. Song to Song von Terrence Malick

7. Siebzehn von Monja Art

8. Der lange Sommer der Theorie von Irene von Alberti

9. Die Verführten von Sofia Coppola

10. Hell or High Water von David Mackenzie

Da ich über alle diese Filme etwas geschrieben habe, muss ich dieses Urteil hier nicht näher begründen.

11. Die Lebenden repa­rieren von Katell Quil­lévéré

Danach wird es schwierig:
Auf Platz 12 könnte ich je nach stündlich wech­selnder Einschät­zung folgende Filme setzen:

12. The Square von Ruben Östlund
12. The Killing of a Sacred Deer von Yórgos Lánthimos
12. Happy End von Michael Haneke – Mit Isabelle Huppert, Jean-Louis Trin­ti­gnant
12. Western von Valeska Grisebach – Mit Meinhard Neumann, Reinhardt Wetrek
12. Dunkirk von Chris­to­pher Nolan – Mit Fionn Whitehead, Mark Rylance

dann:

17. Atomic Blonde von David Leitch
18. Wer war Hitler von Hermann Pölking
19. Die Einsiedler von Ronny Trocker
20. Die feine Gesell­schaft von Bruno Dumont
21. Abluka – Jeder misstraut jedem von Emin Alper – Mit Mehmet Özgür, Berkay Ateş
22. Una und Ray von Benedict Andrews – Mit Rooney Mara, Ben Mendelsohn
23. Jackie von Pablo Larraín – Mit Natalie Portman, Peter Sarsgaard
24. Certain Women von Kelly Reichardt
25. Zazy von Matthias X. Oberg

Quasi unter Ausschluss der Wahr­neh­mung liefen:

- The Great Wall von Yimou Zhang – Mit Matt Damon, Jing Tian
- Die Hölle – Inferno von Stefan Ruzo­witzky – Mit Violetta Schu­rawlow, Tobias Moretti
- Abluka – Jeder misstraut jedem von Emin Alper – Mit Mehmet Özgür, Berkay Ateş
- Jugend ohne Gott von Alain Gsponer
- Zazy von Matthias X. Oberg
- Auf Ediths Spuren von Peter Stephan Jungk
- Luca tanzt leise von Philipp Eichholtz
- Dil Leyla von Asli Özarslan

Beach­tens­wert sind außerdem:

- Luca tanzt leise von Philipp Eichholtz
- I Am Not Your Negro von Raoul Peck – Mit Samuel L. Jackson
- Dil Leyla von Asli Özarslan
- Auf Ediths Spuren von Peter Stephan Jungk
- Helle Nächte von Thomas Arslan
- Der Tod von Ludwig XIV. von Albert Serra
- Lady Macbeth von William Oldroyd
- Teheran Tabu von Ali Soozandeh
- Vânâtoare von Alexandra Balteanu

Guilty Pleasures:

- Wonder Woman von Patty Jenkins
- Planet der Affen: Survival von Matt Reeves
- Tiger­milch von Ute Wieland
- Aus dem Nichts von Fatih Akın
- Ghost in the Shell von Rupert Sanders
- 120 BPM von Robin Campillo

Nicht schlecht, aber enttäu­schend oder schlechter als erwartet:

- Blade Runner 2049 von Denis Ville­neuve
- Detroit von Kathryn Bigelow
- La La Land von Damien Chazelle

Belanglos:

- Die irre Helden­tour des Billy Lynn von Ang Lee
- Neruda von Pablo Larraín
- Der Mann aus dem Eis von Felix Randau

Völlig über­schätzt:

- Manchester by the Sea von Kenneth Lonergan
- Moonlight von Barry Jenkins
- Körper und Seele von Ildiko Enyedi

Schlecht:

- Die Blumen von gestern von Chris Kraus

Miserabel:

- Drei Zinnen von Jan Zabeil
- Human Flow von Ai Weiwei
- Die schönen Tage von Aranjuez von Wim Wenders
- mother! von Darren Aronofsky

Und last not least ein paar andere High­lights des zurück­lie­genden Jahres:

Die drei schönsten DVD-Editionen:

Sind »Die Taschen­diebin« von Park Chan wook mit einer passend feti­schis­ti­schen »Limited Collector’s Edition« (2 BRs + Fotobuch + 3 DVDs), dann Uncut-Steelbook (3 DVDs) von »Battle Royale« von Kinji Fukasaku, dem Klassiker, der erst seit diesem Jahr von FSK frei­ge­geben wurde. Und die »Terrence Malick Collec­tion« mit den letzten vier Spiel­filmen des Meisters, deren Qualität von vielen erst noch zu entdecken ist.

Das schönste Filmbuch:

Ist »Die Zeit des Bildes ist ange­bro­chen! Fran­zö­si­sche Intel­lek­tu­elle, Künstler und Film­kri­tiker über das Kino. Eine histo­ri­sche Antho­logie 1906–1929« (Heraus­ge­geben und kommen­tiert von Margrit Tröhler und Jörg Schwei­nitz).
Mit Texten von René Clair, Jean Epstein, Louis Feuillade, Abel Gance, Louis Aragon, Blaise Cendrars, Jean Cocteau, Georgette Leblanc, Fernand Léger, Colette, Henri Bergson u. v. a.
Eine Antho­logie mit Texten, wie sie nur Franzosen schreiben können – und eine Anregung zum Auswan­dern!
(756 Seiten, ISBN 978-3-89581-409-9)

Die schönste Filmmusik:

Dann doch wohl »Atomic Blonde« Original Motion Picture Sound­track.