68. Filmfestspiele Cannes 2015
Palmen, Erinnerungen und die große Leere zum Schluss |
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Son of Saul von Laszlo Nemes verursacht Unbehagen | ||
(Foto: Sony Pictures Entertainment Deutschland GmbH) |
Von Till Kadritzke
So langsam werde ich doch ungeduldig, auch wenn ich gewarnt war. Der neue Präsident des Festivals von Cannes, Pierre Lescure, hatte angekündigt, den Auftakt- und Abschlussgalas ein bisschen mehr Show verpassen zu wollen, und jetzt rennt hier eine japanische Performance-Gruppe über die Leinwand. Der Clou ihres Auftritts ist die Vermengung der körperlichen Bewegungen mit den auf zwei weiße Flächen projizierten Lichteffekten, aber hier im Debussy-Theater, in den die Preisverleihung aus dem Nebensaal für interessierte Akkreditierte übertragen wird, wo also auch die Körper selbst nur Lichteffekt sind, ist der Witz ein bisschen weg. Lieber studiere ich also nochmals die von den Kollegen eingesammelten Wetten auf die diesjährigen Gewinner und bereue vorsichtshalber schon mal die eigenen Tipps, die mir auf einmal abwegig erscheinen.
Wenig später dann endlich der erste Preis. Ich ärgere mich ein bisschen, weil ich vorher tatsächlich kurz überlegt hatte, dass die »Caméra d’Or« für den besten Erstlingsfilm an Land and Shadow von César Augusto Acevedo gehen könnte, eine Überlegung, die es, wie ich nun feststellen muss, aber leider nicht auf meinen Zettel geschafft hat. Für den Film freut es mich sehr, ein paar Tage zuvor hatte es mich eher spontan und zufällig ins kolumbianische Hinterland verschlagen.
Land and Shadow fängt gemächlich und auch ein wenig gefällig an, nach ein paar wenigen Sequenzen döse ich ein bisschen ein. Zu einer dann aber ganz bezaubernden Kamerafahrt wache ich wieder auf und bin auf einmal gefesselt von diesem nostalgiegetränkten, aber keinesfalls rührseligen Blick, mit dem Acevedo auf seine Kindheit zurückschaut, auf die letzten Tage in seinem Geburtshaus. Tatsächlich fühlt dieser Film sich in jedem Moment erinnert an. Ganz ohne falsche Stilisierung, ganz ohne ausgestellte Kindperspektive gelingt es Acevedo, dieses Erinnern an die Figur eines kleinen Jungen zu binden, der das Ereignis im Zentrum des Films – das Sterben des Vaters – noch nicht völlig ausdeuten kann, der um dessen Bedeutsamkeit aber schon zu wissen scheint. Die behutsame Bildsprache, die visuelle Eleganz des Films erinnern an Terence Davies' Erkundungen von Kindheit und Jugend.
Michel Franco gewinnt für seinen Film Chronic den Preis für das beste Drehbuch. Er dankt vor allem seinem Hauptdarsteller Tim Roth, den er in Cannes kennengelernt hatte, als sein letzter Film After Lucía hier lief. Nicht hinter allen der unzähligen englischsprachigen Debüts von nicht-englischsprachigen Filmemachern (neben Franco auch Joachim Trier, Yorgos Lanthimos, Matteo Garrone, Paolo Sorrentino) steht also ein Schielen in Richtung Markt. Hier haben sich einfach zwei kennengelernt und einen Film zusammen drehen wollen, und weil dabei der eine lieber hinter, der andere lieber vor der Kamera steht, drehte man eben auf Englisch. Der Film selbst ist ein ruhig und klug beobachtender, der sich mit einer stets statischen und distanzierten Kamera der Gegenwart seines Protagonisten nähert und dessen Vergangenheit – insofern ergibt der Drehbuch-Preis wohl Sinn – über verstreute Andeutungen in den Dialogen ausleuchtet.
Emmanuelle Bercot, die sich den Preis für die beste Darstellerin mit Rooney Mara aus Carol teilt, hört gar nicht mehr auf mit dem Dankesagen. Regisseurin Maïwenn, der sie die Hauptrolle in Mon roi verdankt, ist fast schon peinlich berührt ob der Elogen der frisch Ausgezeichneten. Die versammelte Presse wird ungeduldig, wohl auch, weil die meisten mit dem Film wenig anfangen konnten. Ich mochte ihn eigentlich sehr gern, weil er sich wie ein aufrichtiger und notwendig subjektiver Rückblick einer Frau auf eine Beziehung anfühlt, und zugleich einiges sagt über das Verlieben, Verloben und Kinderkriegen in Zeiten von egalitärer Lass-uns-crazy-sein-Romantik bei gleich gebliebenen Ungleichheiten.
Ganz unproblematisch ist die Subjektivität des Films allerdings deshalb nicht, weil Maïwenns Film – genauso wie Valérie Donzellis Pop-Märchen Marguerite & Julien – nicht nur als Film einer Frau, sondern auch als »Frauenfilm« lesbar ist. Ich denke an Monika Grütters, die sich auf dem Berlinale-Teppich mehr Filme von Regisseurinnen gewünscht hat, weil die »weibliche Sicht auf die Welt« doch eine wichtige sei, die also wie selbstverständlich eine Subjektivität einforderte, während sie eigentlich über strukturelle Ungleichheiten sprechen wollte. Dabei definiert die numerische Diskrepanz zwischen männlich und weiblich besetzten Regiestühlen ja ohnehin schon ersteren als Normal- und zweiteren als Sonderfall. Eine gönnerhafte oder sogar progessiv gemeinte Forderung nach einem Frauenkino droht jedenfalls, in die Diversity-Falle zu tappen – nach dem Motto: »Die Asiaten waren wieder sehr gut, die Frauen dieses Mal eher nicht.« Eine solche gefährliche Logik kann ein Festival durch seine Auswahl reproduzieren oder durchkreuzen.
Man muss also nicht so weit gehen wie Verena Lueken – die den Verdacht formulierte, das Festival hätte absichtlich zwei schwächere Filme von Frauen in den Wettbewerb geholt –, um deutlich zu sehen, dass es nicht nur um die Frage geht, wieviele Regisseurinnen auf einem Festival vertreten sind, sondern auch um die Frage, mit welchen Filmen sie es sind. Wenn ich an Filme denke, die ich hier in den letzten Jahren (in Nebenreihen, wohlgemerkt!) gesehen habe, Filme von Claire Denis, Céline Sciamma, Rebecca Zlotowski, Lucía Puenzo oder Jessica Hausner, die mal mehr und mal weniger direkt, mal emotional-emphatisch und mal kühl-analytisch Geschlechterverhältnisse in den Blick nahmen – oder sie eben ignorierten –, dann vermisse ich im Wettbewerb weniger die weibliche Sicht auf die Welt als Filme von Frauen, die auf diese Sicht nicht reduziert werden können – und die sich damit auch der Bürde entziehen, ein Kino repräsentieren zu müssen, das es als Kino gar nicht geben darf, weil seine Existenzbedingung eine strukturelle Asymmetrie ist, die aus der Welt geschafft gehört, welche Mittel auch immer man dabei für richtig hält.
»Vielen Dank für diesen Preis. Ich habe hier schon einmal einen gewonnen, ich weiß gar nicht mehr für welchen Film.« Der zum Glück wohl eher bescheidene als senile Preisträger für die beste Regie heißt Hou Hsiao-hsien, für den ich mich freue, dessen Film The Assassin nun aber nicht mehr für die Goldene Palme in Frage gekommt – was sehr schade ist. An diesem letzten Tag des Festivals habe ich mir den Film ein zweites Mal angesehen. Beim ersten Screening habe ich der Geschichte aus dem China des 9. Jahrhunderts nur schwer folgen können und mich irgendwann ganz in den Farben, den Bewegungen und vor allem den Kostümen dieses Films verloren.
Bei dieser zweiten Sichtung – sie ist erst seit knapp vier Stunden vorbei, als ich dem Regisseur zuhöre – bin ich endgültig hin und weg von The Assassin, der seine Geschichte derart präzise und minimalistisch erzählt, dass er das mehrmalige Sichten geradezu herausfordert, und das gerade nicht durch absichtliche Verkomplizierungen, die man nach und nach zu entdecken hätte. Eigentlich müsste man sagen, dass Hou gar nicht erzählt. Die einzelnen Sequenzen sind weniger Elemente eines Narrativs als Knotenpunkte. Dort bündeln sich jene Linien, die sich durch die filmische Welt von The Assassin ziehen, deren Anfang und Ende aber jenseits des Films liegt. Linien aller Art: Die Provinz Weibo befindet sich in offenem Aufstand gegen die kaiserlichen Herrscher, innerhalb der Führung Weibos gibt es harte Positionskämpfe, schließlich soll eine Geliebte von Anführer Tian schwanger sein. Das sind alles Dinge, die im unendlichen Außen geboren sind, im Bild höchstens kurz gegenwärtig werden. Und schließlich ist da die stets schweigende Nie Yinniang, in jungen Jahren in die Obhut einer Nonnenpriesterin geschickt und dort zu einer exzellenten Kämpferin ausgebildet. Um Tian, ihren Cousin, dem sie einst versprochen war, zu töten, kehrt sie in ihre Heimat zurück, und diese doppelte Bewegung – Auftrag und Rückkehr – führt durch all die anderen Konstellationen hindurch, verknotet diesen Film auf Ebene der Handlung nochmals und entknotet ihn in den Bildern – nicht zuletzt durch die Eleganz von Kämpfen, die nicht mit dem Tod, sondern dem lautlosen Entschwinden enden.
Der große Preis der Jury, gewissermaßen also der zweite Platz, geht an Son of Saul von Laszlo Nemes, eine meisterlich inszenierte Kamerajagd um einen jüdischen Sonderkommandier in Auschwitz, der inmitten des so hektischen wie straff organisierten Lagerbetriebs ein Begräbnis für seinen Sohn zu organisieren versucht. Was nach Rührstück klingt, ist ein beeindruckender filmischer Trip, der sich ganz an seinen Protagonisten haftet. Dieser ist ein winziges Teilchen innerhalb der Vernichtungsmaschine und muss mit seinem eigenwilligen Anliegen nun gleichzeitig mit und gegen diese Maschine arbeiten – was Nemes aus dieser Konstellation herausholt, ist tatsächlich herausragend. Wir bleiben dicht bei ihm, während im Hintergrund wie selbstverständlich ein Vernichtungslager funktioniert, wir sind da drin.
Aber Erfahrbarmachung und Auschwitz, das ist bei aller Kunstfreiheit noch immer eine Debatte wert, und während sich Nemes für den Preis bedankt, spüre ich nochmals mit aller Deutlichkeit mein Unbehagen mit dem Film, weil die Dankesrede den Blick nochmals vom Werk selbst – das ein kluges und durchdaches ist, das um die Politik der Repräsentation weiß – auf dessen Produktion lenkt. Und diesen Gedanken, wie sich da ein paar Statisten ausgezogen und zu Vernichteten gestapelt haben, damit sie im Hintergrund, immer schön im Hintergrund, das Grauen repräsentieren können, den werde ich doch nicht so leicht los. Ein wenig werde ich wohl noch darüber nachdenken müssen, in welchem Verhältnis nun die Virtuosität in der Inszenierung des Films mit dem dort Inszenierten steht.
Ich warte eigentlich nur noch, dass die Jury den zumindest von mir extrem ungeliebten Paolo Sorrentino mit dem Hauptpreis ehrt, und dann das: Zur allgemeinen Verblüffung wird Jacques Audiards Flüchtlingsdrama Dheepan mit der Goldenen Palme ausgezeichnet. Bei mir weniger Verblüffung als eine merkwürdige Leere: Ich habe den Film nicht gesehen. Bei der ersten Pressevorführung habe ich einen anderen vorgezogen, die Wiederholungen habe ich sausen lassen, nachdem die Kollegen nicht viel Gutes zu berichten wussten. Jetzt kann ich mich zwar wundern, aber nicht einmal richtig ärgern. Aber zumindest fragen, warum ich heute, wo alle Wettbewersbeiträge noch einmal wiederholt worden sind, nicht auf die Idee gekommen bin, den Film nachzuholen. Ich schaue ins Programm und sehe, dass ich keine Zeit gehabt hätte, mich mit Flüchtlingen aus Sri Lanka in französischen Banlieues zu befassen. Ich war zu dieser Zeit im alten China, und diese Realitätsflucht möchte ich trotz des nun verpassten Gewinners nicht mehr missen.