28.05.2015
68. Filmfestspiele Cannes 2015

Palmen, Erin­ne­rungen und die große Leere zum Schluss

SON OF SOUL von Laszlo Nemes
Son of Saul von Laszlo Nemes verursacht Unbehagen
(Foto: Sony Pictures Entertainment Deutschland GmbH)

Ein paar Abschweifungen von der Preisverleihung des Festivals von Cannes.

Von Till Kadritzke

Sonn­tag­abend, 19:15 Uhr – »Caméra d’Or« und die erinnerte Jugend

So langsam werde ich doch unge­duldig, auch wenn ich gewarnt war. Der neue Präsident des Festivals von Cannes, Pierre Lescure, hatte angekün­digt, den Auftakt- und Abschluss­galas ein bisschen mehr Show verpassen zu wollen, und jetzt rennt hier eine japa­ni­sche Perfor­mance-Gruppe über die Leinwand. Der Clou ihres Auftritts ist die Vermen­gung der körper­li­chen Bewe­gungen mit den auf zwei weiße Flächen proji­zierten Licht­ef­fekten, aber hier im Debussy-Theater, in den die Preis­ver­lei­hung aus dem Nebensaal für inter­es­sierte Akkre­di­tierte über­tragen wird, wo also auch die Körper selbst nur Licht­ef­fekt sind, ist der Witz ein bisschen weg. Lieber studiere ich also nochmals die von den Kollegen einge­sam­melten Wetten auf die dies­jäh­rigen Gewinner und bereue vorsichts­halber schon mal die eigenen Tipps, die mir auf einmal abwegig erscheinen.

Wenig später dann endlich der erste Preis. Ich ärgere mich ein bisschen, weil ich vorher tatsäch­lich kurz überlegt hatte, dass die »Caméra d’Or« für den besten Erst­lings­film an Land and Shadow von César Augusto Acevedo gehen könnte, eine Über­le­gung, die es, wie ich nun fest­stellen muss, aber leider nicht auf meinen Zettel geschafft hat. Für den Film freut es mich sehr, ein paar Tage zuvor hatte es mich eher spontan und zufällig ins kolum­bia­ni­sche Hinter­land verschlagen.

Land and Shadow fängt gemäch­lich und auch ein wenig gefällig an, nach ein paar wenigen Sequenzen döse ich ein bisschen ein. Zu einer dann aber ganz bezau­bernden Kame­ra­fahrt wache ich wieder auf und bin auf einmal gefesselt von diesem nost­al­gie­ge­tränkten, aber keines­falls rühr­se­ligen Blick, mit dem Acevedo auf seine Kindheit zurück­schaut, auf die letzten Tage in seinem Geburts­haus. Tatsäch­lich fühlt dieser Film sich in jedem Moment erinnert an. Ganz ohne falsche Stili­sie­rung, ganz ohne ausge­stellte Kind­per­spek­tive gelingt es Acevedo, dieses Erinnern an die Figur eines kleinen Jungen zu binden, der das Ereignis im Zentrum des Films – das Sterben des Vaters – noch nicht völlig ausdeuten kann, der um dessen Bedeut­sam­keit aber schon zu wissen scheint. Die behutsame Bild­sprache, die visuelle Eleganz des Films erinnern an Terence Davies' Erkun­dungen von Kindheit und Jugend.

19:25 Uhr – »Bestes Drehbuch« und das Englisch der Ausländer

Michel Franco gewinnt für seinen Film Chronic den Preis für das beste Drehbuch. Er dankt vor allem seinem Haupt­dar­steller Tim Roth, den er in Cannes kennen­ge­lernt hatte, als sein letzter Film After Lucía hier lief. Nicht hinter allen der unzäh­ligen englisch­spra­chigen Debüts von nicht-englisch­spra­chigen Filme­ma­chern (neben Franco auch Joachim Trier, Yorgos Lanthimos, Matteo Garrone, Paolo Sorren­tino) steht also ein Schielen in Richtung Markt. Hier haben sich einfach zwei kennen­ge­lernt und einen Film zusammen drehen wollen, und weil dabei der eine lieber hinter, der andere lieber vor der Kamera steht, drehte man eben auf Englisch. Der Film selbst ist ein ruhig und klug beob­ach­tender, der sich mit einer stets stati­schen und distan­zierten Kamera der Gegenwart seines Prot­ago­nisten nähert und dessen Vergan­gen­heit – insofern ergibt der Drehbuch-Preis wohl Sinn – über verstreute Andeu­tungen in den Dialogen ausleuchtet.

19:30 Uhr – »Beste Darstel­lerin« und das Dilemma der Quoten­frauen

Emma­nu­elle Bercot, die sich den Preis für die beste Darstel­lerin mit Rooney Mara aus Carol teilt, hört gar nicht mehr auf mit dem Danke­sagen. Regis­seurin Maïwenn, der sie die Haupt­rolle in Mon roi verdankt, ist fast schon peinlich berührt ob der Elogen der frisch Ausge­zeich­neten. Die versam­melte Presse wird unge­duldig, wohl auch, weil die meisten mit dem Film wenig anfangen konnten. Ich mochte ihn eigent­lich sehr gern, weil er sich wie ein aufrich­tiger und notwendig subjek­tiver Rückblick einer Frau auf eine Beziehung anfühlt, und zugleich einiges sagt über das Verlieben, Verloben und Kinder­kriegen in Zeiten von egali­tärer Lass-uns-crazy-sein-Romantik bei gleich geblie­benen Ungleich­heiten.

Ganz unpro­ble­ma­tisch ist die Subjek­ti­vität des Films aller­dings deshalb nicht, weil Maïwenns Film – genauso wie Valérie Donzellis Pop-Märchen Margue­rite & Julien – nicht nur als Film einer Frau, sondern auch als »Frau­en­film« lesbar ist. Ich denke an Monika Grütters, die sich auf dem Berlinale-Teppich mehr Filme von Regis­seu­rinnen gewünscht hat, weil die »weibliche Sicht auf die Welt« doch eine wichtige sei, die also wie selbst­ver­s­tänd­lich eine Subjek­ti­vität einfor­derte, während sie eigent­lich über struk­tu­relle Ungleich­heiten sprechen wollte. Dabei definiert die nume­ri­sche Diskre­panz zwischen männlich und weiblich besetzten Regie­s­tühlen ja ohnehin schon ersteren als Normal- und zweiteren als Sonder­fall. Eine gönner­hafte oder sogar progessiv gemeinte Forderung nach einem Frau­en­kino droht jeden­falls, in die Diversity-Falle zu tappen – nach dem Motto: »Die Asiaten waren wieder sehr gut, die Frauen dieses Mal eher nicht.« Eine solche gefähr­liche Logik kann ein Festival durch seine Auswahl repro­du­zieren oder durch­kreuzen.

Man muss also nicht so weit gehen wie Verena Lueken – die den Verdacht formu­lierte, das Festival hätte absicht­lich zwei schwächere Filme von Frauen in den Wett­be­werb geholt –, um deutlich zu sehen, dass es nicht nur um die Frage geht, wieviele Regis­seu­rinnen auf einem Festival vertreten sind, sondern auch um die Frage, mit welchen Filmen sie es sind. Wenn ich an Filme denke, die ich hier in den letzten Jahren (in Neben­reihen, wohl­ge­merkt!) gesehen habe, Filme von Claire Denis, Céline Sciamma, Rebecca Zlotowski, Lucía Puenzo oder Jessica Hausner, die mal mehr und mal weniger direkt, mal emotional-empha­tisch und mal kühl-analy­tisch Geschlech­ter­ver­hält­nisse in den Blick nahmen – oder sie eben igno­rierten –, dann vermisse ich im Wett­be­werb weniger die weibliche Sicht auf die Welt als Filme von Frauen, die auf diese Sicht nicht reduziert werden können – und die sich damit auch der Bürde entziehen, ein Kino reprä­sen­tieren zu müssen, das es als Kino gar nicht geben darf, weil seine Exis­tenz­be­din­gung eine struk­tu­relle Asym­me­trie ist, die aus der Welt geschafft gehört, welche Mittel auch immer man dabei für richtig hält.

19:45 Uhr – »Beste Regie« und die zweite Sichtung

»Vielen Dank für diesen Preis. Ich habe hier schon einmal einen gewonnen, ich weiß gar nicht mehr für welchen Film.« Der zum Glück wohl eher beschei­dene als senile Preis­träger für die beste Regie heißt Hou Hsiao-hsien, für den ich mich freue, dessen Film The Assassin nun aber nicht mehr für die Goldene Palme in Frage gekommt – was sehr schade ist. An diesem letzten Tag des Festivals habe ich mir den Film ein zweites Mal angesehen. Beim ersten Screening habe ich der Geschichte aus dem China des 9. Jahr­hun­derts nur schwer folgen können und mich irgend­wann ganz in den Farben, den Bewe­gungen und vor allem den Kostümen dieses Films verloren.

Bei dieser zweiten Sichtung – sie ist erst seit knapp vier Stunden vorbei, als ich dem Regisseur zuhöre – bin ich endgültig hin und weg von The Assassin, der seine Geschichte derart präzise und mini­ma­lis­tisch erzählt, dass er das mehr­ma­lige Sichten geradezu heraus­for­dert, und das gerade nicht durch absicht­liche Verkom­pli­zie­rungen, die man nach und nach zu entdecken hätte. Eigent­lich müsste man sagen, dass Hou gar nicht erzählt. Die einzelnen Sequenzen sind weniger Elemente eines Narrativs als Knoten­punkte. Dort bündeln sich jene Linien, die sich durch die filmische Welt von The Assassin ziehen, deren Anfang und Ende aber jenseits des Films liegt. Linien aller Art: Die Provinz Weibo befindet sich in offenem Aufstand gegen die kaiser­li­chen Herrscher, innerhalb der Führung Weibos gibt es harte Posi­ti­ons­kämpfe, schließ­lich soll eine Geliebte von Anführer Tian schwanger sein. Das sind alles Dinge, die im unend­li­chen Außen geboren sind, im Bild höchstens kurz gegen­wärtig werden. Und schließ­lich ist da die stets schwei­gende Nie Yinniang, in jungen Jahren in die Obhut einer Nonnen­pries­terin geschickt und dort zu einer exzel­lenten Kämpferin ausge­bildet. Um Tian, ihren Cousin, dem sie einst verspro­chen war, zu töten, kehrt sie in ihre Heimat zurück, und diese doppelte Bewegung – Auftrag und Rückkehr – führt durch all die anderen Konstel­la­tionen hindurch, verknotet diesen Film auf Ebene der Handlung nochmals und entknotet ihn in den Bildern – nicht zuletzt durch die Eleganz von Kämpfen, die nicht mit dem Tod, sondern dem lautlosen Entschwinden enden.

19:55 Uhr – »Großer Preis der Jury« und die poli­ti­sche Frage der Reprä­sen­ta­tion

Der große Preis der Jury, gewis­ser­maßen also der zweite Platz, geht an Son of Saul von Laszlo Nemes, eine meis­ter­lich insze­nierte Kame­ra­jagd um einen jüdischen Sonder­kom­man­dier in Auschwitz, der inmitten des so hekti­schen wie straff orga­ni­sierten Lager­be­triebs ein Begräbnis für seinen Sohn zu orga­ni­sieren versucht. Was nach Rührstück klingt, ist ein beein­dru­ckender filmi­scher Trip, der sich ganz an seinen Prot­ago­nisten haftet. Dieser ist ein winziges Teilchen innerhalb der Vernich­tungs­ma­schine und muss mit seinem eigen­wil­ligen Anliegen nun gleich­zeitig mit und gegen diese Maschine arbeiten – was Nemes aus dieser Konstel­la­tion heraus­holt, ist tatsäch­lich heraus­ra­gend. Wir bleiben dicht bei ihm, während im Hinter­grund wie selbst­ver­s­tänd­lich ein Vernich­tungs­lager funk­tio­niert, wir sind da drin.

Aber Erfahr­bar­ma­chung und Auschwitz, das ist bei aller Kunst­frei­heit noch immer eine Debatte wert, und während sich Nemes für den Preis bedankt, spüre ich nochmals mit aller Deut­lich­keit mein Unbehagen mit dem Film, weil die Dankes­rede den Blick nochmals vom Werk selbst – das ein kluges und durch­da­ches ist, das um die Politik der Reprä­sen­ta­tion weiß – auf dessen Produk­tion lenkt. Und diesen Gedanken, wie sich da ein paar Statisten ausge­zogen und zu Vernich­teten gestapelt haben, damit sie im Hinter­grund, immer schön im Hinter­grund, das Grauen reprä­sen­tieren können, den werde ich doch nicht so leicht los. Ein wenig werde ich wohl noch darüber nach­denken müssen, in welchem Verhältnis nun die Virtuo­sität in der Insze­nie­rung des Films mit dem dort Insze­nierten steht.

20:00 Uhr – »Goldene Palme« und die große Leere

Ich warte eigent­lich nur noch, dass die Jury den zumindest von mir extrem unge­liebten Paolo Sorren­tino mit dem Haupt­preis ehrt, und dann das: Zur allge­meinen Verblüf­fung wird Jacques Audiards Flücht­lings­drama Dheepan mit der Goldenen Palme ausge­zeichnet. Bei mir weniger Verblüf­fung als eine merk­wür­dige Leere: Ich habe den Film nicht gesehen. Bei der ersten Pres­se­vor­füh­rung habe ich einen anderen vorge­zogen, die Wieder­ho­lungen habe ich sausen lassen, nachdem die Kollegen nicht viel Gutes zu berichten wussten. Jetzt kann ich mich zwar wundern, aber nicht einmal richtig ärgern. Aber zumindest fragen, warum ich heute, wo alle Wett­be­wers­bei­träge noch einmal wieder­holt worden sind, nicht auf die Idee gekommen bin, den Film nach­zu­holen. Ich schaue ins Programm und sehe, dass ich keine Zeit gehabt hätte, mich mit Flücht­lingen aus Sri Lanka in fran­zö­si­schen Banlieues zu befassen. Ich war zu dieser Zeit im alten China, und diese Reali­täts­flucht möchte ich trotz des nun verpassten Gewinners nicht mehr missen.