72. Filmfestspiele Cannes 2019
Vergangene Zukunft |
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Pedro Almodóvars Dolor y gloria | ||
(Foto: Studiocanal Filmverleih) |
»Did you understand, what I said?«
Yes. But what were you talking about?
Nothing.
Anyway, I don’t care.
aus: Matthias & Maxime von Xavier Dolan
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Es gibt zwei Typen von Filmen in diesem Festival. Die eine Gruppe sind die offenen Filme, die anderen sind die Geschlossenen. Die erste Gruppe sind diejenigen Filme, die Identitäten verteidigen oder festlegen oder überhaupt erst konstruieren. Die anderen sind Filme, die sie auflösen wollen, die Identitäten in Frage stellen, die mit denen spielen, die offen und durchlässig mit ihnen umgehen. Einerseits »alte weiße Männer« aus Europa und Nordamerika, andererseits jüngere. Nicht
weiße Männer aus Nicht-Europa und Frauen, meistens allerdings aus Europa. Es gibt Filme, die Fragen haben und Filme, die Antworten geben.
Welche Filme werden heute Abend gewinnen? Gut möglich, dass noch einmal die »Geschlossenen« triumphieren. Aber ich habe meine Zweifel an der Zukunft des Autorenkinos, jedenfalls so wie wir es kennen.
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Der langjährige Verleih von Xavier Dolans Filmen in Deutschland kaufte seinen neuen Film Matthias & Maxime bislang nicht. Der langjährige Dolan-Verleih in den Niederlanden hat den Film bereits abgelehnt; das gilt im Fall von Dolan für viele andere Territorien ebenso.
Überhaupt könnte das diesjährige Cannes Festival zu einem Wendepunkt in den Karrieren vieler Filmemacher
werden. Bisher waren Namen wie Jessica Hausner, Corneliu Porumboiu und Xavier Dolan sichere Wechsel auf die Zukunft. Sie verkörperten Hoffnung auf ein anderes, womöglich besseres Kino, das uns in den kommenden Jahren beglücken würde. Beglückung erwarten zumindest von Hausner und Dolan nur noch wenige, aber auch das bessere, andere, neue Kino lässt in den genannten Fällen auf sich warten. Genaugenommen machen diese Filmemacher seit zehn Jahren keine Fortschritte mehr, eher Rückschritte.
Und auch mit viel Wohlwollen lässt sich ihren neuesten Filmen immer schwerer etwas Positives abgewinnen.
Repräsentieren diese Filmemacher noch die Zukunft des Kinos? Oder zumindest eine Gegenwart, die zur Zukunft hin offen und nicht abgeschlossen ist? Mir kommt es vor, als verwalten sie bereits jetzt vor allem ihren Stil. Das Ergebnis einer solchen Stil-Verwaltung wird von Mal zu Mal uninteressanter.
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Dass Zombies in all ihren Varianten einen der zentralen roten Fäden des diesjährigen Festival-Narrativs von Cannes bilden, hatte ich schon geschrieben. Auch die Figuren bei Jessica Hausner sind in gewissem Sinn zombifiziert.
Die Österreicherin dreht in Little Joe eine Art Mary Poppins als Horrorfilm. Alice hat ihr Kostüm immer bis zum obersten Knopf geschlossen, und gibt sich auch
sonst eher zugeknöpft. Sie ist – dies zuallererst – eine hochbegabte Naturwissenschaftlerin, die in einem Labor genmanipulierte Pflanzen züchtet. Daneben ist sie auch noch alleinerziehende Mutter eines niedlichen, begabten Zwölfjährigen namens Joe. Als sie ihrem Sohn eine dieser Pflanzen nach Hause mitbringt, löst sie eine Kettenreaktion aus.
Perversion steht früh im Raum. Oder wie will man es nennen, wenn eine Mutter ihre besonders vielversprechende Züchtung nach dem Sohn benennt: »Little Joe«. Auch sonst greifen die Kategorien der Psychoanalyse: Verdrängung und Zurückweisung, Unterdrückung von Wünschen. Außerdem Mütterlichkeit und Sexualität in verschiedensten Varianten.
Die Pflanzen gelingen übrigens auch nur so gut, weil sie künstlich steril gemacht wurden. Doch die unterdrückte Pflanzensexualität
bricht sich Bahn, denn die vielen (hochintelligenten?) »Little Joes« im Labor finden Wege, sich die Menschen Untertan zu machen, indem sie diese in roboterähnliche Sklaven ihrer Überlebensinteressen verwandeln.
Jessica Hausner hat diesen Film in England gedreht. Und zwar offenbar nicht weil sie musste, sondern weil sie wollte, weil sie Little Joe nicht in Österreich machen wollte. Trotzdem ist dies ein durch und durch österreichischer Film geworden: Kalt, klug und gekünstelt, geprägt von eine aseptischen, pastellfarbenen Ästhetik, die hier vor allem mit dem Production Design, der Kamera
und einer allzu tendenziösen Musik arbeitet. Möchtegern-Haneke-Kino, das wunderschön aussieht, aber allzufrüh ins Leere läuft, sodass Little Joe fast die Anmutung eines breit getretenen Kurzfilms hat.
Die echten Stärken liegen im Drehbuch. Die schönsten Momente sind die exquisiten Kamerafahrten ins Nichts, die Hausners Stammkameramann Martin Gschlacht schon in Hausners Hotel (der in Cannes 2006 Premiere hatte) zur Perfektion führte.
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Mit Überraschungen ist bei Ken Loach nicht mehr zu rechnen. Das kann eine gute Nachricht sein, man weiß, was man an ihm hat; es kann aber auch schon im Vorhinein langweilen. Genau auf diese Art von Langeweile war ich gefasst, erst recht, als schon aus dem kleinen Filmausschnitt bei der Eröffnungsfeier klar wurde, dass Sorry We Missed You von einem Familienvater handeln würde, der als
Fahrer für Paketdienste arbeitet, und von allen Seiten unter Druck gesetzt und sekkiert wird.
Um so erstaunlicher war dann die formale Meisterschaft dieses Films und seines Regisseurs, die von der ersten Minute an erkennbar ist. Wo andere sich 20 Minuten lang abmühen, um ihre Figuren zu etablieren, da gelingt das Loach in ein, zwei präzisen Szenen oder Dialogsätzen, in wenigen skizzenhaften Einstellungen. Inhaltlich bietet Loachs Kino zwar eine schmerzhafte Erinnerung an die
fiesen Realitäten unseres Lebens, die Art des Settings aber distanziert, denn Loach bietet reine Propaganda – im Guten wie Schlechten.
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Im Zentrum steht Ricky, ein lange arbeitsloser Familienvater, der sich redlich um eine Stelle bemüht, und endlich von einem Paketdienst angeheuert wird: Auf Freelancer-Basis. Das heißt, er ist de facto ein Sklave des Unternehmens und in keiner Entscheidung unabhängig, muss aber auch noch dessen unternehmerisches Risiko mit übernehmen. »It’s your choice, Ricky!«
Der Kapitalismus ist schlecht, »Flexibilität« eine Lüge, »Freiheit« eine Maske für Sklaverei – so
könnte man Loachs Thesen-Kosmos zusammenfassen.
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Technisch gesehen ist sein Kino aber vor allem eine gut geölte Maschine; das Werk eines absoluten Profis, der immer genau weiß, was er tut, was er will und wie er es erreicht. In diesem Fall auch mit Hilfe hervorragend gecasteter toller Schauspieler. Gern wüsste man allerdings, ob dem alten Trotzkisten Loach dabei noch wenigstens selber auffällt, dass auch jenseits aller totalen Vorhersehbarkeit die Ökonomie und extreme Effizienz seines Filmemachens eigentlich genau alldem
entsprechen, was er bekämpfen will.
Ken Loachs Art Filme zu machen, ist das Gegenteil jenes anti-kolonialistischen Kinos, das die Französin Mati Diop (Atlantique), der Brasilianer Kleber Mendonça (Bacurau) und noch andere hier zeigen. Es hat keine Leerstellen, keinen Exzess, es ist undurchlässig und durch und durch neoliberal.
Ganz
aufs Melodram verzichten kann Loach aber auch nicht: Am Ende sind die Emotionen, sind Angst und Einsamkeit wichtiger als Strukturen und Ökonomie. An einigen Stellen – vor allem der mehr als forcierten Seitenhandlung rund um den pubertierenden Sohn und einen nicht auffindbaren Autoschlüssel – ist die Konstruktion dann auch allzu erkennbar.
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Konstruiert ist auch Xavier Dolans Matthias & Maxime. Zwar erschien mir der Film deutlich besser, als ich es befürchtet hatte, nach den Erzählungen von Kollegen und Freunden, die auf dem Markt unterwegs sind. Aber er hat mich dann schon im Kino gelangweilt: Nette hübsche Mittelstandskinder und anstrengende Mütter, und mittendrin eine Liebesgeschichte, die nicht nur uneingestanden
ist, sondern unter Zeitdruck steht: Was bei »Titanic« der Eisberg ist, und in Sciammas Film die bevorstehende Hochzeit einer Hauptfigur, das ist hier Maximes feststehende Abreise für zwei Jahre nach Australien.
Die Liebesgeschichte beginnt, als der heterosexuelle Matthias und der – bisexuelle? schwule? – Maxime im Film einer Freundin eine Kussszene spielen. Sie lässt beide nicht unberührt zurück. Stärker im Zentrum steht Matthieu, Anwalt aus reichem Elternhaus. Er
ist richtig erschüttert.
Auch hier erzählt Dolan mit gelegentlichen Rückblicken. Ansonsten aber fehlen jene ungewöhnlichen Bildeinfälle und Erzählweisen, die dem Frankokanadier eine weltweite Fanbasis gesichert haben, fast komplett. Matthias & Maxime funktioniert noch irgendwie als Liebes-Melodram, wenn es auch der kathartischen Wendungen hier mindestens drei zuviel sind; er ist aber gerade formal
erstaunlich konventionell und wirkt in erster Linie wie eine Ansammlung von Selbstzitaten, die sich immer wieder mit sich selber langweilt. Auch hier ist vieles nur eine Masche.
Dies ist ein dünnes Süppchen von Film, ein schaler Aufguss bekannter Motive und längst zum Stereotyp gewordener Gesten. Die Liebesgeschichte führt nicht besonders weit. Nie würde sie im Wettbewerb sein, wenn dieser Regisseur in Cannes nicht zum engsten Familienkreis gehören würde.
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Auch bei Pedro Almodóvar hat man das Gefühl, dass er künstlerisch auf der Stelle tritt und seine besten Jahre schon lange hinter sich hat. Dolor y gloria ist allerdings ein besserer Almodóvar und unter dem halben Dutzend Filmen »alter weißer Männer« des Westens der mit Abstand interessanteste Film. Dabei fängt alles recht anstrengend an, und ich kenne Menschen die den Film schon in der
ersten Hälfte verlassen haben. Ein Fehler. Hätte mir aber auch passieren können.
In der zweiten Hälfte aber nimmt Dolor y gloria Fahrt auf, und bekommt eine emotionale Intensität und Triftigkeit, die ich bei anderen vermisst habe. Auch erscheint der Film nie konstruiert. Filmisch ist er allerdings vollkommen uninteressant. Das Allermeiste spielt in Innenräumen, die in den für diesen
Regisseur so typischen klaren, schrillbunten Farben betupft sind. Die Kamera bewegt sich selten, die Bilder sind in braver Regelmäßigkeit zusammenmontiert.
Es sind die Schauspieler, die einen hier bei der Stange halten. Antonio Banderas spielt einmal mehr, aber so offenkundig wie noch nie, Almodóvars Alter Ego, einen schwulen Regisseur, der in den 80er Jahren seinen Durchbruch erlebte, und jetzt, alternd, von Zipperlein und Todesfurcht geplagt und durch seine heftigen
Rückenschmerzen auch noch latent heroinabhängig geworden, sein Lebenswerk mehr schlecht als recht verwaltet. Es gibt auch Rückblicke in seine Kindheit. Dies ist ein weiterer jener vielen und nicht immer guten Filme, die »Film im Film« zeigen – z.B. Sibyl im Wettbewerb, Nina Z in »Un Certain Regard«, am Rande auch Matthias & Maxime.
Weil man Almodóvar kennt und schätzt, und mindestens interessant findet, interessiert man sich auch für diese Nabelschau. Natürlich hat Dolor y gloria eine überaus narzisstische Komponente. Aber es ist ein intimer und gar nicht selten auch selbstironischer Film.
Aber es
berührt, wenn der Regisseur dieses Films seine Fehler eingesteht gegenüber Freunden, Geliebten, der Mutter. Auch wenn er dabei dann die Egomanie des Künstlers als notwendig verteidigt.
Es berührt auch, wenn er sagt: »Das Kino hat mich gerettet.«
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Was wir in allen diesen Filmen, und auch in jenen der Dardennes, von Malick und von Jarmusch erleben, ist, so scheint mir das Ende eines Zyklus. Es ist das Ende des Autorenkinos, so wie wir es kannten. Des Kinos aus Europa, das nach dem Ausebben der Neuen Wellen, seit Anfang der 80er den Kontrapunkt zu Hollywood gebildet hat. Hollywood gibt es hier in Cannes zur Zeit gar nicht, denn Malick und Tarantino können nicht dazu gezählt werden. Auch das ist schade. Denn mit diesem großen, schönen, tollen Kontrapunkt verschwinden auch die, die sich daran abarbeiten. Manche, wie Hausner oder Dolan, werden uns noch lange begleiten. Sie werden immer dieselben Filme machen und uns irgendwann unendlich langweilen. Aber irgendwann ist es dann auch einfach vorbei. Die Dardennes und Loach und Jarmusch und wohl auch Almodóvar, und wahrscheinlich auch Malick, sie aber sind, egal, was am Samstag-Abend bei der Preisverleihung passiert, eigentlich schon nicht mehr von dieser Welt. Lebende Tote, vergangene Zukunft.
(to be continued)