Wirklich sehenswert |
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Rollbretter vor dem Berliner Fernsehturm: This Ain’t California von Marten Persiel |
Von Dunja Bialas
Wenn am 2. Mai zum 27. Mal das Dok.Fest in München eröffnet wird, beginnt wieder eine Woche der Entscheidungen. Freinehmen oder lieber doch arbeiten gehen? In den Biergarten oder lieber doch ins Kino und die Gelegenheit wahrnehmen, Filme zu sehen, die man sonst nicht sehen kann? Lieber unterhaltsame Dokumentarfilme oder anspruchsvolles Politkino? Den Dokumentarfilmpuristen rauskehren oder einen Blick in die neue Reihe Dok.fiction wagen? – Artechock-Autorin Dunja Bialas arbeitet als Kuratorin beim Dok.fest München und hat für die Redaktion eine Auswahl der unbedingt sehenswerten Filme zusammengestellt.
Dokumentarfilm muss nicht anstrengend sein! Hier drei Filme, die kurzweilig, unterhaltsam und vergnüglich sind:
Zu schön, um wahr zu sein. In This Ain’t California lassen Regisseur Marten Persiel und sein Team das subversive Hobby des Rollbrettfahrens in der DDR wieder aufleben. Tolle Super-8-Aufnahmen erzählen von der coolen Zeit in den späten 70ern, frühen 80er Jahren, in denen die DDR von einem Zusammenhalt von all jenen geprägt war, die etwas anderes von ihrem Leben wollten als
Maloche.
Ein äußerst günstigen Umstand: Einer der Protagonisten hat in jungen Jahren eine Kamera geschenkt bekommen, und filmt seitdem unaufhörlich die Skateboard-Clique. Persiel hat dabei aber auch kräftig nachgeholfen und unter der Hand einige Aufnahmen nachgestellt. Herausgekommen ist eine perfekte Dokumentar-Camouflage, die so tut, als wäre alles genauso und nicht anders gewesen. Aber ist das in der Erinnerung nicht immer so? Ein Film über die faszinierende DDR-Zeit, als
Skateboardfahren noch ein politisches Statement war. (Do. , 03.05., 22:30 Uhr, Atelier 1. Wiederholungen Sa., 05.05.,15:00 Uhr, ARRI und Di., 08.05., 21:30 Uhr, Atelier 1)
Eigentlich darf man das ja nicht lustig finden. Wer aber Stanislav Mucha ein wenig kennt und weiß, dass er generell einen augenzwinkernden Blick auf die Welt richtet, kann bei Die Pfandleiher großes Vergnügen haben. Hier erzählen Betreiber jener Warenhäuser, die so funktionieren, dass Waren hinein- und Geld hinausgetragen wird, von ihrem Metier. Außerdem auch viele Kunden über die Gründe ihres Geldbedürfnisses. Ein Einblick in das verborgene Treiben der deutschen Bevölkerung, der zeigt: Es ist alles gar nicht so schlimm. Kommentar beim Sichten war: »Den Film darf ich meinem Kind nicht zeigen, das kommt noch auf dumme Gedanken!« (Spielzeug zu Geld!) (Fr., 04.05., 17:00 Uhr, ARRI. Wiederholung Sa., 05.05., 21:30 Uhr, Rio 2)
Können Sie sich noch an die Wahl zwischen Frucade vs. Eierlikör erinnern? – Nein, nicht? Dann haben Sie ihre Jugend nicht im ORF-Einzugsbereich verbracht! »Frucade oder Eierlikör?« war die legendäre Frage, mit der Kult-Talker Hermes Phettberg in den 90ern seine »Nette Leit Show« begann. Nach mehreren Schlaganfällen ist der heute 60-Jährige ein körperliches Wrack. Will aber immer noch mit seiner Präsenz provozieren. Der Papst ist kein Jeansboy zeigt sein Leben zwischen Papierstapeln, Ekelmomenten und Stammelsprüchen. Das ist natürlich eine Gratwanderung zwischen Ausgestelltwerden und Exhibitionismus, aber bei Phettberg sollte man das alles auf keinen Fall ernst nehmen. (Fr., 04.05., 22:30 Uhr, Filmmuseum. Wiederholung Mo., 07.05., 22:00 Uhr, Atelier 1)
Eigentlich ist ja alles politisch, auch und vor allem die Form, wie wir von Godard wissen. Seien wir aber mal etwas strenger und suchen im Dok.Fest-Programm nach Filmen mit einem aktuellen politischen Anliegen.
Klingt ja irgendwie wie eine Ehre, mit einem »Spezialflug« fliegen zu dürfen. Ist es aber nicht, sondern die allgegenwärtige Drohung, die über den Asylbewerbern in einem Schweizer Lager in Vol Spécial schwebt. Wenn sie bei ihrer Abschiebung nicht kooperieren, werden sie in Handschellen zwangsweise ausgeflogen, ohne Hilfe in dem Land, das sie einst ausgespuckt hatte. Perfide ist die Nettigkeit der Sozialarbeiter zu den Asylbewerbern: Das ist die Perversion des Humanitären in einem unmenschlichen System. Ein Film von Altmeister Fernand Melgar (La Forteresse). (So., 06.05., 14:00 Uhr, ARRI. Wiederholung Di., 08.05., 17:00 Uhr, Atelier 1)
Iran macht gerade viele Negativschlagzeilen. Bitter ist die Zensur, sind die Maulkörbe, die gegen die intellektuelle und künstlerische Elite verhängt werden. Jafar Panahi, der mit seinem Spielfilm Offside 2006 den Silbernen Bären gewann, wurde Ende 2010 mit einem 20-jährigen Berufsverbot verhängt. Unter Hausarrest hat er einen Film gedreht, den er nicht machen durfte. This is not a Film zeigt, wie ein Filmemacher aus dem buchstäblichen Nichts heraus einen großartigen Film darüber macht, keine Filme mehr drehen zu dürfen. Unfassbar. (Fr., 04.05., 19:00 Uhr, Filmmuseum. Wiederholung So., 06.05., 16:30 Uhr, Vortragssaal der Bibliothek im Gasteig)
Im Hollywoodkino kämpfen immer die Guten gegen die Bösen, und das Gute obsiegt. In der Wirklichkeit aber ist das nicht immer so einfach. Wer sind die Guten, wer die Bösen? Von einem, der zwischen die Fronten geraten ist, erzählt Rechokim – The Collaborator and His Family. Vom israelischen Geheimdienst in den palästinensischen Gebieten als Spion eingesetzt, muss El-Akel jetzt in Tel Aviv wohnen, bevor in seiner Heimat seine Identität aufgedeckt werden kann. In Israel aber hat er als Kollaborateur keinen guten Status. Er wohnt in einem Verschlag auf einem Dach, seine Familie kommt ihn heimlich besuchen. Auch sein Sohn wurde schon vom Geheimdienst angesprochen. Es gibt kein Entkommen vor der Geschichte, die sich wiederholt. (Do., 03.05., 18:00 Uhr, Vortragssaal der Bibliothek im Gasteig. Wiederholung So., 06.05., 19:30 Uhr, Atelier 1)
Dokumentarfilm ist ja im ethnologischen Film beheimatet. Man denke nur an Robert Flaherty, an Jean Rouch. Aber auch die nachkommende Generation bringt Glanzstücke hervor, die keineswegs verstaubt sind, auch wenn hier viel Staub aufgewirbelt wird.
Straßenbau! heißt es mitten in der Sahel-Wüste im Tschad. Im Nirgendwo von Sand und Staub wird großes Geschütz aufgefahren, um die Wüste zu planieren. Das alles obliegt einer französischen Baufirma, die sich aus den französischsprachigen Nachbarländern Arbeiter geholt hat, um ein absurdes Bauvorhaben zu realisieren. Die Nomaden der Wüste, die noch nie eine Straße brauchten, um sich in der Weite des Landes zurechtzufinden, sehen ungläubig dem Treiben zu. Habiter/Construire erzählt in atemberaubenden Bildern vom Zusammenprall der Kulturen in einer kleiner werdenden Welt.
(Sa., 05.05., 18:30 Uhr, Rio 2. Wiederholung Mo., 07.05., Rio 2)
Dokumentarfilm befragt Zeitzeugen, geht in die Archive, kramt alte Aufnahmen hervor und strickt das alles zu packenden Lehrstücken über unsere eigene Vergangenheit. Gleich zwei Größen des deutschen Films sind mit ihren jüngsten Werken beim Dok.fest vertreten.
Dominik Graf hat in Lawinen der Erinnerung den kürzlich verstorbenen Filmemacher und Autor Oliver Storz (»Die Freibadclique«) nach seinen Erinnerungen befragt. (Do., 03.05., 17:00 Uhr, ARRI. Wiederholung So., 06.05., 17:00 Uhr , Atelier 1)
Werner Herzog ist in Into the Abyss in die Todeszellen gegangen und hat in seiner unnachahmlichen Art zum Tode Verurteilte nach ihrer Erinnerung an die Taten, die sie begangen haben, befragt. Dazu montiert er Polizeivideos und Statements von den Überlebenden der Opfer. Ein beklemmender Sog. (So., 06.05., 11:30 Uhr, ARRI)
Manchmal aber muss man die Erinnerungen auch in Revision schicken. Oft sind sie nämlich trügerisch. Philip Scheffner geht in Revision einem Mordfall nach, der 20 Jahre her ist und bei dem an der damaligen EU-Grenze zwischen Deutschland und Polen auf mysteriöse Weise zwei Roma erschossen wurden. Die Interviewten verwickeln sich in der Abwehr der tatsächlichen Ereignisse in offensichtliche Widersprüche. Ein spannender Dokumentarfilm-Krimi! (Do., 03.05., 21:00 Uhr, Rio 2. Wiederholung Sa., 05.05., 16:00 Uhr, Filmmuseum)
Verborgene Welten, Dinge, von denen man nichts wusste: Dokumentarfilm beleuchtet Facetten der Wirklichkeit, von denen wir nichts ahnten.
Auf das liebe Vieh gekommen sind die beiden Frauen in Women With Cows. Sie sind schon betagt und wohnen gewissermaßen mit ihren Kühen zusammen. Das alles ist sehr liebevoll und wunderschön gefilmt, auch wenn man in manchen Szenen den Kuhstall förmlich riecht. (Fr., 04.05., 19:00 Uhr, City 3. Wiederholung So., 06.05., 18:00 Uhr, Rio 2)
Live-Rollenspiele geben sich die Protagonisten in Fairytale – Die Herren der Spiele. Am tollsten ist das Spiel als Zombies: In einem Abbruch-Haus treffen sich blutüberströmte Gestalten, um eine Familie zu erschrecken, die gerade eine Landpartie macht. Arrrgh! Ein Film über die Lust, sich zu verkleiden, der sich mit seinen perfekten Kostümierungen in nichts hinter Herr der Ringe und Co. verstecken muss. (Sa., 05.05., 20:00 Uhr, ARRI. Wiederholung Mo., 07.05., 21:30 Uhr, Rio 2)
Dokumentarfilm kann auch schön sein. Eine Augenweide. Formvollendete Filmkunststücke. Dabei, daran darf erinnert werden, sind sie aber nie L’Art pour l’art, sondern immer auch politisch, in der Form, die sie sich bewusst wählen. Dem würde Godard unbedingt zustimmen.
In schneebedeckte Landschaften eintauchen, dabei aber nie die Herde aus dem Blick verlieren. Der Schweizer Film Hiver nomade gehört zum dokumentarischen Subgenre der Schäfchenfilme und ist nicht nur wunderschön anzusehen. Er erzählt vom Unterfangen, in einer urbanisierten Landschaft Schäfer zu sein, einem Beruf, der nicht umsonst einen wichtigen Platz in der Lyrik eingenommen hat. (Sa., 05.05., 16:00 Uhr, Rio 2. Wiederholung Mo., 07.05., 17:00 Uhr, ARRI)
Wie kann man erzählen über einen, der blind geworden ist, aber als Schriftsteller gewissermaße wieder sehend geworden ist? Martin Otter ist für seinen ersten Film Váng Bóng – The Absence of Shadow nach Vietnam gereist und hat sich dort die unglaubliche Lebensgeschichte des Dichters Váng Bóng erzählen lassen. Seinen Film hat er in einnehmendem Schwarzweiß gedreht, immer wieder lässt er die Stille zu, und das Bild verschwinden. Poetisch und betörend. (Sa., 05.05., 15:30 Uhr, Pinakothek der Moderne. Wiederholung Mi., 09.05., 22:00 Uhr, Filmmuseum)
Vom Leben mit seinen Kindern in Argentinien erzählt der mit Preisen ausgezeichnete polnische Kameramann und Regisseur Wojciech Starón in Argentinian Lesson. Dicht ist er an seinen Protagonisten dran, fast wie in einem ausgeklügelten Spielfilm erleben wir die Dramaturgie des Lebens, in der sich die Kinder in der fremden Welt ihren Platz erkämpfen. (So., 06.05., 14:00 Uhr, Filmmuseum. Wiederholung Mo., 07.05., 22:00 Uhr City 3)