DOK.disrupt |
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Mit Eleganz und Sinn fürs richtige Timing: Dream Empire |
Von Chris Schinke
Der Begriff Disruption beschreibt auf technologischer Ebene eine Innovation, so umfassend, dass sie in der Lage ist, bestehende Technologien, Produkte und althergebrachte Dienstleistungen vollständig vom Markt zu verdrängen. Nicht erst seit dem vergangenen Krisenjahr haben wir uns angewöhnt, den Begriff auch auf die Sphäre des politischen Diskurses anzuwenden. Denn nach einer Reihe disruptiver Momente, stehen einst nicht hinterfragbare Selbstverständlichkeiten wie Zivilgesellschaft und die Demokratie als solche unter Beschuss. Egal, ob es sich um den Brexit, Wahlerfolge rechtspopulistischer Bewegungen oder um autoritäre Machtverschiebungen handelt. Selbstverständlich haben diese politischen Ereignisse Einfluss auf die künstlerische Produktion. Dass der Dokumentarfilm dabei zuverlässig das ausgeprägteste Sensorium für die unmittelbare Erfassung unserer Gegenwart hat, zeigt auch dieser, mittlerweile 32. Jahrgang des DOK.fest München – er verweist aber zum Glück auch auf Perspektiven, die bestrebt sind, den bedrückenden Ist-Zustand zu überkommen.
Denn viele der 157 Beiträge des diesjährigen Dokumentarfilm-Jahrgangs handeln von der Transzendenz und davon, sich an einen anderen Ort als den der Wirklichkeit zu träumen. Besonders eindrücklich tut dies der französische Film Swagger des Regisseurs Olivier Babinet. Er spielt an einem jener berüchtigten Pariser Vororte, der nicht erst in Zeiten des allgegenwärtigen Ausnahmezustandes als Hort für politische Instabilität gilt. Die von Babinet porträtierten Jugendlichen wollen darin aber nicht dem Klischeebild entsprechen, das die weiße Mehrheitsgesellschaft von ihnen hat. Da ist zum Beispiel Régis. Der Junge ist eine richtige Type, und das ist noch untertrieben. Régis ist vielmehr ein Fashion-Ereignis. Angetan mit Fliege, snobby Pollunder und gerne auch mit Pelzmantel, setzt der Heranwachsende deutliche Gegenakzente zum in der Banlieue vorherrschenden Sneaker- und Hoodie-Style. Das beschert ihm freilich nicht nur Bewunderer. Über Kritik und Angriffe ist der Junge aber erhaben und träumt selbst davon, ein berühmter Modeschöpfer wie Alexander McQueen zu sein, der die amerikanische First Lady Michelle Obama einkleiden darf. Andere der Kinder haben auch Träume: Architekten und Chirurgen wären sie gerne, oder bescheidener: einfach einmal von den Bullys in der Schule in Ruhe gelassen zu werden. Alpträume haben die Kids nämlich auch. Sie speisen sich aus einer Wirklichkeit der ständig durchexerzierten Polizeiaktion in der Pariser Vorstadt. Einer der Jungen imaginiert schließlich eine Luft- und Bodenrazzia, durchgeführt nicht von Menschen in Uniform, sondern von Robotern und Militärdrohnen. Babinet verleiht diesem Szenario eigentlich nicht als Science-Fiction-Dystopie filmischen Ausdruck, sondern nur als konsequent zu Ende gedachte Verlängerung unserer Gegenwart. Der Regisseur und sein Film wissen: brechen kann man Menschen auf unendlich viele Weisen, richtig kaputt machen kann man sie nur, wenn man ihnen ihre Träume raubt.
Einen Traum hatte auch mal die amerikanische Weltraumbehörde, schnell wurde er zum Staatsziel: Es sollten die Sowjets beim Wettrennen ins Weltall überflügelt werden. Was später in Form der Mondlandung klappen sollte, sah anfangs gar nicht so gut für die US-Wissenschaft aus. Während es die Russen hinbekamen, den Satelliten Sputnik 1 in eine geostationäre Umlaufbahn zu feuern, crashte eine NASA-Rakete nach der anderen, bei dem Versuch einen stabilen Orbit zu erreichen. Neue Ideen mussten also her. Und da begab es sich, dass die Rede laut wurde, von einem ominösen Weltraumprogramm. Und zwar wo es keiner wirklich vermutete: im Jugoslawien unter dem diktatorischen Staatschef Josip Broz Tito. Zahlreiche Mythen rankten sich um das Geheimprogramm, ein Unternehmen, das seinen physischen Sitz tief im Innern eines Berges im heutigen Kroatien hatte. Unter Kennedy kauften die Amerikaner schließlich das sagenumwobene Raketenprogramm. Mit im Paket: 26 jugoslawische Wissenschaftler, die in ihrem Heimatland kurzum für tot erklärt wurden, um fortan exklusiv für die NASA zu arbeiten. Einer von ihnen ist Ivan Pavic. 50 Jahre nach seiner Inkognito-Einwanderung in die Vereinigten Staaten begibt er sich zum ersten Mal zurück in die alte Heimat, um seine Tochter, die ihn ebenso für tot oder verschollen hält, zu treffen. Der ganze Deal, der zunächst nur wie eine hübsche Anekdote der Weltraum-Geschichtsschreibung anmutete, barg in Wirklichkeit reichlich geopolitischen Zündstoff. Schließlich durfte die kommunistische Führung in Moskau nichts von dem Manöver mitbekommen, was zur Folge hatte, dass die Abwicklung des Deals hollywoodreif über Marokko erfolgte, von wo aus das astronomisch-ballistische Gerät seinen Seeweg nach Houston, Texas nahm. Die Amerikaner waren glücklich über das zugekaufte Know-How, Tito sanierte so über Jahrzehnte den jugoslawischen Staatshaushalt. Allerdings nur vorübergehend. Schnell fanden die Amis nämlich heraus, dass der Einkauf der Balkan-Wisschenschaftler eine Mogelpackung war – die Höchstleistung der Südosteuropäer bestand nämlich lediglich in einem Raketenstart mit Schweinchen an Bord, der einst irgendwo in der Adria versandet war. All das und noch viel mehr erklärt uns der Philosoph und Psychoanalytiker Slavoj Žižek in Andrej Vircs ebenso virtuoser wie aberwitziger Dokumentation Houston, We Have a Problem!. Ach ja, und das Schweinchen hat übrigens überlebt.
Ob die Jugendlichen in Michal Marczaks All These Sleepless Nights tatsächlich noch Träume haben, weiß man gar nicht so genau. Sie driften ein wenig antriebslos durch die Straßen der polnischen Hauptstadt und scheinen doch stets auf der Suche zu sein. Auf der Suche nach dem nächsten Kick, dem nächsten High, dem nächsten One Night Stand. Die Protagonisten Kris und Michal spielen sich dabei selbst, wobei der Akzent auf ihrem Spiel liegt, denn All These Sleepless Nights operiert an der Nahtstelle von Fiktionalität und Wirklichkeit, einem Terrain, das der Dokumentarfilm seit einigen Jahren verstärkt auslotet – im Falle von Michal Marczaks auf dem Filmfestival in Sundance prämierter Arbeit geschieht dies in künstlerisch überaus fruchtbarer Form. Den beiden Kunststudenten folgt der Zuschauer in ihrem Alltag im gerade sehr angesagten Warschau, einer Stadt, die an einer ebensolchen Zeitenwende zu stehen scheint, wie das Leben der Hipster-Protagonisten, die sie in All These Sleepless Nights beherbergt. Es ist ein einziger Taumel, der sich hier darbietet und in gewissen Momenten an den erzählerischen Sog von Sebastian Schippers vielgelobten Victoria erinnert, nur noch unverstellter, brutaler und direkter aus dem echten Leben gegriffen. Vorsicht, Warschauer Nächte sind lang.
In seiner Fokusreihe DOK.euro.vision eröffnet das diesjährige Dokumentarfilmfest eine Perspektive auf die ungewisse Zukunft Europas. Exemplarisch geschieht dies in Greek Winter, der den Alltag einer griechischen Kleinunternehmer-Familie in Zeiten europäischer Austeritätspolitik dokumentiert. Darin kämpfen Bruder und Schwester um das Überleben ihres Heizölbetriebes. In dem strauchelnden Land wirken die beiden nicht nur unternehmerisch,
sondern gezwungenermaßen auch seelsorgerisch. Brexitannia beschäftigt sich damit, was nach der längst beantworteten Frage nach »Remain or Leave« bleibt. Und der türkische Beitrag AH gibt den Menschen ein Gesicht, über die im Zuge der Berichterstattung über terroristische Attentate zu selten gesprochen wird – die Opfer. Sie berichten hier von einem
der grausamsten Anschläge der letzten Jahre in der Türkei. Dieser trug sich 2015 bei der Kundgebung Oppositioneller in Ankara zu, bei dem mehr als 100 Menschen ihr Leben verloren. Die Überlebenden machen der amtierenden türkischen Regierung und den ermittelnden Behörden einen schweren Vorwurf, den man erst nicht glauben mag, der sich aber durch zahlreiche Zeugenaussagen in Mustafa Ünlüs erschütterndem Dokument erhärtet.
Deutschen Zuständen der Gegenwart widmet sich die
filmische Essaydokumentation 6 Jahre, 7 Monate, 16 Tage – Die Morde des NSU. Auch hier findet sich Polizeiarbeit im Fokus der Recherche. Genauer gesagt eine Ermittlungshypothese, die davon ausging, dass die Anschlagswelle, der vor allem türkischstämmige Mitbürger zum Opfer fielen, im Bereich der Ausländerkriminalität angesiedelt gewesen sei. Was natürlich ein Riesenunsinn war. Heute wissen wir das alles – meinen wir zumindest. Was wir
wirklich wissen und an welchen Stellen wir gerade erst begonnen haben die entscheidenden Fragen zu stellen, davon handelt Sobo Swobodniks 6 Jahre, 7 Monate, 16 Tage – Die Morde des NSU.
Kein Thema bewegte die deutsche Öffentlichkeit in den vergangenen Jahren mehr als die Flüchtlingskrise. Dem Komplex nähern sich in diesem DOK.fest-Jahrgang vor allem zwei Arbeiten: Zum einen Auf dünnem Eis – Die Asylentscheider, der sich mit
den Menschen befasst, die über das Schicksal hier Angekommener befinden. Diese so genannten Entscheider verhandelten im Jahr 2016 700.000 Asylanträge. Sandra Budesheimer Film blickt hinter die Kulissen des Bundesamtes für Migration und begleitet vier Verfahren zwischen Hoffnung und tiefer menschlicher Verzweiflung. Von der behördlichen zur polizeilichen Praxis führt uns Deportation Class und zeigt die brutale Realität vollzogener Abschiebungen.
„Wir setzen geltendes Recht um!“ ist hier der Tenor. Die psychologischen Deformationen Weltpolitischer Krisen sind vielfältig.
Der Fluchtursache Nummer eins, dem Krieg, spürt schließlich Nowhere to Hide nach. Das Jahr 2011 ist für den jungen Iraker Nori eigentlich eines der Hoffnung. Es ist die Zeit des US-Truppenabzugs und das Land des Krankenpflegers steht vor dem Aufbruch, die Menschen freuen sich über ihre
zurückgewonnene Freiheit. Sie währt nicht lange. Noris Videoaufzeichnungen zeigen den sukzessiven Zerfall einer Nation, die von Interessenkonflikten und terroristischen Gräueltaten Jahr um Jahr weiter zerrieben wird. Am Ende ist Nori selbst, gemeinsam mit seiner Familie auf der Flucht.
So erzählt das DOK.fest in diesem Jahr konsequenterweise auch vom Scheitern der Träume. Dazu passt in ökonomischer Hinsicht auch der Eröffnungsfilm, Dream Empire. Mit Eleganz und Sinn fürs richtige Timing nähert sich David Borensteins Festivalbeitrag dem chinesischen Immobilien- und Bauboom, der ganze Metropolen aus dem Nichts entstehen lässt, the Chinese Dream quasi. Dass die in Schwindeleile aus dem Boden gestampften Glitzerfassaden in Wirklichkeit gehörig am Bröckeln sind und welche Rolle wir Westler in diesem Spekulations-Treppenwitz
noch spielen, davon weiß Dream Empire auch überaus unterhaltsam zu berichten. Die Wirklichkeit, das heißt, das was ist, zu filmen, bedeutet nämlich auch immer, auf das zu verweisen, was nicht der Fall ist, auf das, was sein könnte. In dieser Hoffnung besteht die große Kraft unserer Zeit.
32. DOK.fest München, 03.-14.05.2017, diverse Spielstätten. Das DOK.fest ist eine Veranstaltung der Filmstadt München e.V. und wird u.a. gefördert vom Kulturreferat der Landeshauptstadt München.