03.05.2018

Großes Kino und die eigene Form

A Woman Captured
Der herausragende Beitrag des diesjährigen DOK.fest: A Woman Captured von Bernadett Tuza-Ritter
(Foto: Bernadett Tuza-Ritter / DOK.fest München)

Nach überaus erfolgreichen Jahrgängen tritt das DOK.fest auch in diesem Jahr gegen den Trend der dokumentarischen Kinokassen-Misere an

Von Chris Schinke

Das dies­jäh­rige, 33. DOK.fest steht unter dem Motto »Ganz Großes Kino«, damit beschwört Festi­val­leiter Daniel Sponsel die Boomphase des Doku­men­tar­films, die noch gar nicht so lange zurück­liegt. Um die Jahr­tau­send­wende bescherten eine Reihe von Erfolgen an der Kinokasse (u.a. Wim Wenders Buena Vista Social Club, Michael Moores Arbeiten sowie Natur­dokus wie Die Reise der Pinguine und später Unsere Erde) dem Doku­men­tar­film ein Millio­nen­pu­blikum. Dieser Boom hatte sicher mit der Profes­sio­na­li­sie­rung und auch der Digi­ta­li­sie­rung der Branche zu tun, die neue ästhe­ti­sche Perspek­tiven mit sich brachte. Für ein breites Publikum wurde der Doku­men­tar­film attrak­tiver. Der Publizist Kay Hoffmann formu­lierte dies anläss­lich des dies­jäh­rigen Kasseler Dokfest so: »Viele Zuschaue­rinnen und Zuschauer erkannten, dass der moderne Doku­men­tar­film nicht lang­weilig und belehrend sein muss, sondern durch große Bilder und kreatives Sound-Design über­zeugen konnte. Die Kraft des Doku­men­ta­ri­schen versuchte sich in immer neuen Formen und Stilen und starken Geschichten.« Quali­täten, die, so Hoffmann, den Doku­men­tar­film bis heute auszeichnen, mit einem entschei­denden Unter­schied: An die Publi­kums­er­folge der Boomjahre können selbst erfolg­reiche Filme nicht mehr anknüpfen, und das obwohl heute mehr Doku­men­tar­filme einen Kinostart haben als je zuvor. Woran das liegt? Die Doku­men­tar­film-Branche selbst beklagt seit Jahren sich zuspit­zende Produk­ti­ons­be­din­gungen. Dabei spielt die abneh­mende Wert­schät­zung der öffent­lich-recht­li­chen Sender und der damit verbun­dene Verlust an attrak­tiven Sende­plätzen sicher­lich eine entschei­dende Rolle. Stief­müt­ter­liche Behand­lung bei der Kino­pro­gramm­pla­nung und die zunehmend wich­ti­gere Rolle der Strea­ming­dienste deuten das weitere Span­nungs­feld an, in dem sich die doku­men­ta­ri­sche Form heute zu behaupten hat.

Vor dieser Folie findet auch das 33. Münchner DOK.fest statt, das eben diese prekären Produk­ti­ons­be­din­gungen im Rahmen seiner Konferenz »Ganz großes Kino?« (3.5., 14 Uhr, Audimax HFF) ins Auge fassen wird. Beraten werden soll dort, wie sich die Lage der Doku­men­tar­film­schaf­fenden in Deutsch­land verbes­sern könnte.
Das DOK.fest selbst verzeichnet in den vergan­genen Jahren einen bemer­kens­wert gegen­läu­figen Trend zur doku­men­ta­ri­schen Kino­kassen-Misere: Seit dem Jahr 2011 hat sich die Besu­cher­zahl des DOK.fest mehr als vervier­facht und lag im vergan­genen Jahr bei 46.000 Besuchern. Ein Zuwachs – Sponsel ist in der Hinsicht zuver­sicht­lich – sei auch dieses Jahr zu erwarten, so dass das Festival 2018 zum ersten Mal die 50.000er Marke knacken dürfte.
Das zeugt von Opti­mismus ange­sichts eines Festi­val­jahres, das stark geprägt ist von Verwer­fungen des inter­na­tio­nalen poli­ti­schen Gesche­hens und von einem Riss, der quer durch unsere Gesell­schaften zu gehen scheint, nicht erst seit dem Aufkommen popu­lis­ti­scher Strö­mungen.

DOK.guest: Die USA jenseits von Trump

Die dies­jäh­rige Gast­land­reihe DOK.guest ist dabei den Verei­nigten Staaten gewidmet. Die ameri­ka­ni­sche Öffent­lich­keit befindet sich seit den Präsi­dent­schafts­wahlen und der Amts­ein­füh­rung des neuen Präsi­denten im vergan­genen Jahr im Trump-Sog. Diesem medialen Auto­ma­tismus will die Reihe DOK.guest entgehen und begibt sich auf die Suche nach Reali­täten jenseits der aktuellen Politik.

In I am Another You macht sich die Filme­ma­cherin Nanfu Wang auf die Fährte des jungen charis­ma­ti­schen Ausstei­gers Dylan. Um der Enge seines Provinz­nests in Utah zu entfliehen, begibt sich Dylan auf einen Trip quer durchs Land. Wang ist zunächst angetan, von Dylans unbe­dingtem Willen anders als der gesell­schaft­liche Main­stream zu leben, mit der Zeit stößt sie jedoch auch auf die dunklen (Seelen-)Seiten des jungen Drifters.

Eine besonders eindrück­liche Arbeit der Gast­land­reihe ist Camilla Magids Land of the Free. Der Film begleitet ehemalige Häftlinge auf ihrem Weg zurück in den Alltag. Für die aller­meisten Ex-Gefan­genen sind das keine guten Aussichten. Etwa drei Viertel von ihnen werden rück­fällig und erneut einge­sperrt. Besonders betroffen von der unter Indus­trie­na­tionen höchsten Inhaf­tie­rungs­quote sind US-Minder­heiten wie Latinos und Schwarze. Die Monday Meetings in South Central Los Angeles sind eine wohl­tä­tige Selbst­hil­fe­gruppe, die die Wieder­ein­glie­de­rung von Ex-Strä­f­lingen erleich­tern soll. Camilla Magid zeigt drei besonders bewegende Fälle der Gruppe, deren Lebensweg auf Messers Schneide steht. Für einen der Prot­ago­nisten ist erst einmal Grund­ori­en­tie­rung angesagt: nach mehr als 20 Jahren in Haft muss er erst mal lernen, was es mit diesem verma­le­deiten Internet auf sich hat.

Das DOK.fest und die #MeToo-Debatte

Den aktuellen Debatten rund um die #MeToo-Diskus­sion kommt das DOK.fest in Form seiner DOK.female-Reihe nach. Rollen­bilder und Macht­ver­hält­nisse werden von den Prot­ago­nis­tinnen der sieben Filme der Fokus­reihe in Frage gestellt. Daran knüpft auch die dies­jäh­rige Retro­spek­tive, die der Filme­ma­cherin Helga Reide­meister gewidmet ist. Das DOK.fest zeigt mit sechs Filmen einen Quer­schnitt aus vier Jahr­zehnten ihres filmi­schen Schaffens.

Der stärkste Film der DOK.female-Reihe ist auch insgesamt der heraus­ra­gendste Beitrag des dies­jäh­rigen DOK.fest: A Woman Captured von Bernadett Tuza-Ritter, die soeben bei GoEast in Wiesbaden mit dem Fipresci-Preis der inter­na­tio­nalen Film­kritik ausge­zeichnet wurde. Ihr Thema: Sklaverei im Jahr 2018. Nicht in fernen Ländern, sondern mitten unter uns. Tuza-Ritters Doku­men­tar­film porträ­tiert die 53-jährige Marish. Sie befindet sich in Ungarn in den Fängen einer grau­en­haften Sippe, in deren Knecht­schaft sie lebt. Dieses Schicksal teilt sie mit unvor­stell­baren 1,2 Millionen Menschen in Europa. Es ist eines der größten gesell­schaft­li­chen Tabu­themen unserer Zeit. Man will das alles nicht glauben. Genauso wenig wie die Filme­ma­cherin selbst es möchte. Sie begibt sich deshalb heraus aus der reinen Beob­ach­ter­rolle, verhilft Marish zur Flucht und zeigt, was enga­giertes Kino heute tatsäch­lich noch zu bewegen vermag. Bernadett Tuza-Ritters Arbeit glaubt so inständig an die Kraft des Kinos und dessen Fähigkeit zur Tran­szen­denz, dass man ihr für A Woman Captured alle Festi­val­preise der Welt wünscht.

High­lights aus den Reihen Best of Fests, DOK.inter­na­tional und DOK.deutsch sowie ein kleiner, »inof­fi­zi­eller« Schwer­punkt

Psychi­schen Zuständen in Zeiten des Kapi­ta­lismus widmen sich einige Beiträge des dies­jäh­rigen Festivals. Unter anderem SPK Komplex des Filme­ma­chers Gerd Kroske. In ihm hat das »Sozia­lis­ti­sche Pati­en­ten­kol­lektiv« aus Heidel­berg seinen Auftritt. Das Ganze am Vorabend des Deutschen Herbstes. Was mit einem Hegel-Seminar auf der Psych­ia­trie­sta­tion beginnt, endet – in Teilen – mit der Gründung der RAF. Ein beein­dru­ckend recher­chiertes Geschichts­do­ku­ment.

Dass sich der Kapi­ta­lismus nicht nur in die (Alp)träume seiner Beschäf­tigten frisst, sondern außerdem im Stande ist, von sich selbst zu träumen, zeigt Sophie Bruneaus soghaft-somnam­bules Traum­pro­to­koll-Tableau Rêver sous le capi­ta­lisme.
In bester Foucault'scher Tradition zeigt außerdem Raymond Depardon in 12 Tage meis­ter­haft form­be­wusst das Leben einiger infamer Menschen, die das Unglück hatten, vom Bann­strahl der psych­ia­tri­schen Macht erfasst zu werden. Seine filmisch präzisen, mini­ma­lis­ti­schen Vignetten ergeben in der Gesamt­schau ein bedrü­ckendes Bild gesell­schaft­li­cher Zustände, anhand derer sich die Frage auftut, ob es nicht eine viel höhere Form des Wahnsinns darstellt, dieses Miss­ver­hältnis von Indi­vi­duum und Staats­macht normal zu finden.

Zur Norma­lität ist leider auch unser Bewusst­sein bzw. Nicht-Bewusst­sein von krie­ge­ri­schen Konflikten geworden – teilweise in unserer unmit­tel­baren geopo­li­ti­schen Umgebung. Zu diesen Krisen­ge­bieten zählt auch nach wie vor die Ostukraine. The Distant Barking of Dogs (Simon Lereng Wilmont) erzählt vom Leben des 10-jährigen Oleg mitten in einem Kriegs­ge­biet. In der Schule lernen die Kinder, was der Unter­schied ist zwischen verschie­denen Minen- und Bomben­typen und wie man sich vor ihnen in Sicher­heit bringt. Wir sind dabei, wie der Gefechts­lärm sich über sämtliche Sinne in die Seelen der verblie­benen Bewohner frisst, und sehen den verzwei­felten Kampf von Olegs Babuschka, ihrem Enkelkind Schutz zu gewähren. Die Kinder spielen derweil den Krieg der Erwach­senen nach – ein verzwei­felter Versuch den Ausnah­me­zu­stand irgendwie begreif­lich zu machen.

Oft genug ist im Zusam­men­hang mit künst­le­ri­scher Arbeit von Dring­lich­keit die Rede. Natürlich ist das auch eine bedeu­tende Kategorie im Doku­men­tar­film. Anhand der genannten filmi­schen Arbeiten lässt sich eine solche nicht bestreiten. Einen anderen, wenn auch nicht weniger dring­li­chen Zugang, sucht der wirklich unge­wöhn­liche Film Der Hellseher. Fausto Molina erzählt darin die Geschichte von Fausto Molina. Fausto will einen Film machen. Das Problem: Er schafft es partout nicht, seine Projekte zu Ende zu bringen. Das noch größere Problem: Fausto ist langsam am Erblinden. „Der Hellseher“ wird daher sein letzter Film sein – mehr Dring­lich­keit geht also wirklich nicht. Was als Projekt über das deutsche Gesund­heits­wesen beginnt, wird schnell zu einem schrägen und auch witzigen Doku­men­tar­film-Memoir über das künst­le­ri­sche Scheitern und am Ende auch über das (halbwegs) geglückte Leben.

Der Hellseher ist ein kleiner, wider­bors­tiger Film, über dessen Macken man gerne hinweg­sieht, weil sich hier beob­achten lässt, wie ein Doku­men­tar­film zu einer wahrhaft eigenen Gestalt findet. Man möchte dem DOK.fest in Zukunft ein paar mehr Filme wie ihn und auch ein paar mehr form­ex­pe­ri­men­telle Wagnisse wünschen. Denn eigent­lich muss es beim Dokfilm nicht um das »ganz große Kino« gehen, es reicht manchmal schon die »ganz eigene Form«.