Großes Kino und die eigene Form |
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Der herausragende Beitrag des diesjährigen DOK.fest: A Woman Captured von Bernadett Tuza-Ritter | ||
(Foto: Bernadett Tuza-Ritter / DOK.fest München) |
Von Chris Schinke
Das diesjährige, 33. DOK.fest steht unter dem Motto »Ganz Großes Kino«, damit beschwört Festivalleiter Daniel Sponsel die Boomphase des Dokumentarfilms, die noch gar nicht so lange zurückliegt. Um die Jahrtausendwende bescherten eine Reihe von Erfolgen an der Kinokasse (u.a. Wim Wenders Buena Vista Social Club, Michael Moores Arbeiten sowie Naturdokus wie Die Reise der Pinguine und später Unsere Erde) dem Dokumentarfilm ein Millionenpublikum. Dieser Boom hatte sicher mit der Professionalisierung und auch der Digitalisierung der Branche zu tun, die neue ästhetische Perspektiven mit sich brachte. Für ein breites Publikum wurde der Dokumentarfilm attraktiver. Der Publizist Kay Hoffmann formulierte dies anlässlich des diesjährigen Kasseler Dokfest so: »Viele Zuschauerinnen und Zuschauer erkannten, dass der moderne Dokumentarfilm nicht langweilig und belehrend sein muss, sondern durch große Bilder und kreatives Sound-Design überzeugen konnte. Die Kraft des Dokumentarischen versuchte sich in immer neuen Formen und Stilen und starken Geschichten.« Qualitäten, die, so Hoffmann, den Dokumentarfilm bis heute auszeichnen, mit einem entscheidenden Unterschied: An die Publikumserfolge der Boomjahre können selbst erfolgreiche Filme nicht mehr anknüpfen, und das obwohl heute mehr Dokumentarfilme einen Kinostart haben als je zuvor. Woran das liegt? Die Dokumentarfilm-Branche selbst beklagt seit Jahren sich zuspitzende Produktionsbedingungen. Dabei spielt die abnehmende Wertschätzung der öffentlich-rechtlichen Sender und der damit verbundene Verlust an attraktiven Sendeplätzen sicherlich eine entscheidende Rolle. Stiefmütterliche Behandlung bei der Kinoprogrammplanung und die zunehmend wichtigere Rolle der Streamingdienste deuten das weitere Spannungsfeld an, in dem sich die dokumentarische Form heute zu behaupten hat.
Vor dieser Folie findet auch das 33. Münchner DOK.fest statt, das eben diese prekären Produktionsbedingungen im Rahmen seiner Konferenz »Ganz großes Kino?« (3.5., 14 Uhr, Audimax HFF) ins Auge fassen wird. Beraten werden soll dort, wie sich die Lage der Dokumentarfilmschaffenden in Deutschland verbessern könnte.
Das DOK.fest selbst verzeichnet in den vergangenen Jahren einen bemerkenswert gegenläufigen Trend zur dokumentarischen Kinokassen-Misere: Seit dem Jahr 2011
hat sich die Besucherzahl des DOK.fest mehr als vervierfacht und lag im vergangenen Jahr bei 46.000 Besuchern. Ein Zuwachs – Sponsel ist in der Hinsicht zuversichtlich – sei auch dieses Jahr zu erwarten, so dass das Festival 2018 zum ersten Mal die 50.000er Marke knacken dürfte.
Das zeugt von Optimismus angesichts eines Festivaljahres, das stark geprägt ist von Verwerfungen des internationalen politischen Geschehens und von einem Riss, der quer durch unsere
Gesellschaften zu gehen scheint, nicht erst seit dem Aufkommen populistischer Strömungen.
Die diesjährige Gastlandreihe DOK.guest ist dabei den Vereinigten Staaten gewidmet. Die amerikanische Öffentlichkeit befindet sich seit den Präsidentschaftswahlen und der Amtseinführung des neuen Präsidenten im vergangenen Jahr im Trump-Sog. Diesem medialen Automatismus will die Reihe DOK.guest entgehen und begibt sich auf die Suche nach Realitäten jenseits der aktuellen Politik.
In I am Another You macht sich die Filmemacherin Nanfu Wang auf die Fährte des jungen charismatischen Aussteigers Dylan. Um der Enge seines Provinznests in Utah zu entfliehen, begibt sich Dylan auf einen Trip quer durchs Land. Wang ist zunächst angetan, von Dylans unbedingtem Willen anders als der gesellschaftliche Mainstream zu leben, mit der Zeit stößt sie jedoch auch auf die dunklen (Seelen-)Seiten des jungen Drifters.
Eine besonders eindrückliche Arbeit der Gastlandreihe ist Camilla Magids Land of the Free. Der Film begleitet ehemalige Häftlinge auf ihrem Weg zurück in den Alltag. Für die allermeisten Ex-Gefangenen sind das keine guten Aussichten. Etwa drei Viertel von ihnen werden rückfällig und erneut eingesperrt. Besonders betroffen von der unter Industrienationen höchsten Inhaftierungsquote sind US-Minderheiten wie Latinos und Schwarze. Die Monday Meetings in South Central Los Angeles sind eine wohltätige Selbsthilfegruppe, die die Wiedereingliederung von Ex-Sträflingen erleichtern soll. Camilla Magid zeigt drei besonders bewegende Fälle der Gruppe, deren Lebensweg auf Messers Schneide steht. Für einen der Protagonisten ist erst einmal Grundorientierung angesagt: nach mehr als 20 Jahren in Haft muss er erst mal lernen, was es mit diesem vermaledeiten Internet auf sich hat.
Den aktuellen Debatten rund um die #MeToo-Diskussion kommt das DOK.fest in Form seiner DOK.female-Reihe nach. Rollenbilder und Machtverhältnisse werden von den Protagonistinnen der sieben Filme der Fokusreihe in Frage gestellt. Daran knüpft auch die diesjährige Retrospektive, die der Filmemacherin Helga Reidemeister gewidmet ist. Das DOK.fest zeigt mit sechs Filmen einen Querschnitt aus vier Jahrzehnten ihres filmischen Schaffens.
Der stärkste Film der DOK.female-Reihe ist auch insgesamt der herausragendste Beitrag des diesjährigen DOK.fest: A Woman Captured von Bernadett Tuza-Ritter, die soeben bei GoEast in Wiesbaden mit dem Fipresci-Preis der internationalen Filmkritik ausgezeichnet wurde. Ihr Thema: Sklaverei im Jahr 2018. Nicht in fernen Ländern, sondern mitten unter uns. Tuza-Ritters Dokumentarfilm porträtiert die 53-jährige Marish. Sie befindet sich in Ungarn in den Fängen einer grauenhaften Sippe, in deren Knechtschaft sie lebt. Dieses Schicksal teilt sie mit unvorstellbaren 1,2 Millionen Menschen in Europa. Es ist eines der größten gesellschaftlichen Tabuthemen unserer Zeit. Man will das alles nicht glauben. Genauso wenig wie die Filmemacherin selbst es möchte. Sie begibt sich deshalb heraus aus der reinen Beobachterrolle, verhilft Marish zur Flucht und zeigt, was engagiertes Kino heute tatsächlich noch zu bewegen vermag. Bernadett Tuza-Ritters Arbeit glaubt so inständig an die Kraft des Kinos und dessen Fähigkeit zur Transzendenz, dass man ihr für A Woman Captured alle Festivalpreise der Welt wünscht.
Psychischen Zuständen in Zeiten des Kapitalismus widmen sich einige Beiträge des diesjährigen Festivals. Unter anderem SPK Komplex des Filmemachers Gerd Kroske. In ihm hat das »Sozialistische Patientenkollektiv« aus Heidelberg seinen Auftritt. Das Ganze am Vorabend des Deutschen Herbstes. Was mit einem Hegel-Seminar auf der Psychiatriestation beginnt, endet – in Teilen – mit der Gründung der RAF. Ein beeindruckend recherchiertes Geschichtsdokument.
Dass sich der Kapitalismus nicht nur in die (Alp)träume seiner Beschäftigten frisst, sondern außerdem im Stande ist, von sich selbst zu träumen, zeigt Sophie Bruneaus soghaft-somnambules Traumprotokoll-Tableau Rêver sous le capitalisme.
In bester Foucault'scher Tradition zeigt außerdem Raymond Depardon in 12 Tage meisterhaft formbewusst das Leben einiger
infamer Menschen, die das Unglück hatten, vom Bannstrahl der psychiatrischen Macht erfasst zu werden. Seine filmisch präzisen, minimalistischen Vignetten ergeben in der Gesamtschau ein bedrückendes Bild gesellschaftlicher Zustände, anhand derer sich die Frage auftut, ob es nicht eine viel höhere Form des Wahnsinns darstellt, dieses Missverhältnis von Individuum und Staatsmacht normal zu finden.
Zur Normalität ist leider auch unser Bewusstsein bzw. Nicht-Bewusstsein von kriegerischen Konflikten geworden – teilweise in unserer unmittelbaren geopolitischen Umgebung. Zu diesen Krisengebieten zählt auch nach wie vor die Ostukraine. The Distant Barking of Dogs (Simon Lereng Wilmont) erzählt vom Leben des 10-jährigen Oleg mitten in einem Kriegsgebiet. In der Schule lernen die Kinder, was der Unterschied ist zwischen verschiedenen Minen- und Bombentypen und wie man sich vor ihnen in Sicherheit bringt. Wir sind dabei, wie der Gefechtslärm sich über sämtliche Sinne in die Seelen der verbliebenen Bewohner frisst, und sehen den verzweifelten Kampf von Olegs Babuschka, ihrem Enkelkind Schutz zu gewähren. Die Kinder spielen derweil den Krieg der Erwachsenen nach – ein verzweifelter Versuch den Ausnahmezustand irgendwie begreiflich zu machen.
Oft genug ist im Zusammenhang mit künstlerischer Arbeit von Dringlichkeit die Rede. Natürlich ist das auch eine bedeutende Kategorie im Dokumentarfilm. Anhand der genannten filmischen Arbeiten lässt sich eine solche nicht bestreiten. Einen anderen, wenn auch nicht weniger dringlichen Zugang, sucht der wirklich ungewöhnliche Film Der Hellseher. Fausto Molina erzählt darin die Geschichte von Fausto Molina. Fausto will einen Film machen. Das Problem: Er schafft es partout nicht, seine Projekte zu Ende zu bringen. Das noch größere Problem: Fausto ist langsam am Erblinden. „Der Hellseher“ wird daher sein letzter Film sein – mehr Dringlichkeit geht also wirklich nicht. Was als Projekt über das deutsche Gesundheitswesen beginnt, wird schnell zu einem schrägen und auch witzigen Dokumentarfilm-Memoir über das künstlerische Scheitern und am Ende auch über das (halbwegs) geglückte Leben.
Der Hellseher ist ein kleiner, widerborstiger Film, über dessen Macken man gerne hinwegsieht, weil sich hier beobachten lässt, wie ein Dokumentarfilm zu einer wahrhaft eigenen Gestalt findet. Man möchte dem DOK.fest in Zukunft ein paar mehr Filme wie ihn und auch ein paar mehr formexperimentelle Wagnisse wünschen. Denn eigentlich muss es beim Dokfilm nicht um das »ganz große Kino« gehen, es reicht manchmal schon die »ganz eigene Form«.