In unserer Welt des aufrechten Gangs |
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…bringen die Verhältnisse einen bisweilen auch mal zum Erliegen. Gut, wenn es so chillig sein darf wie in Raving Iran |
Von Natascha Gerold
Jeder will der Erste sein, auch das DOK.fest München. Über die Hälfte der beim diesjährigen 31. Dokumentarfilmfestival gezeigten Filme sind nationale und internationale Premieren. Das bedeutet nicht nur, einen Film »entdeckt« zu haben, gilt doch vor allem im dokumentarischen Bereich: Wer einen Film präsentiert, setzt sich auch einem Spannungsfeld aus. Ist das Gezeigte »lediglich« Teil einer Debatte, und ist die Präsentation schon ein Statement innerhalb der Debatte? Angesichts der weltweit wachsenden Anzahl immer ehrgeizigerer Filmprojekte kommen auch neue Aufgaben auf die zu, die sie zeigen, wie Melena Ryzik kürzlich in der New York Times darlegte. Diese kann man vielleicht mit jenen des Gatekeepers im Journalismus vergleichen – des Schleusenwärters, der das Neue nicht nur einordnet, nach gesellschaftlicher Relevanz und, in diesem Fall, nach ästhetischem Anspruch, sondern auch auf Verifizierbarkeit seiner Aussage überprüft, soweit dies möglich ist.
Wandelndes Rollenverständnis hin oder her: Das DOK.fest präsentiert 151 Filme – das sind 151 Einladungen zur Auseinandersetzung mit der eigenen emotionalen Wahrnehmung – Empörung, Verstörung, Irritation, Trauer, Unterhaltung, Zuneigung – unabhängig davon, ob ein Film in einer der Wettbewerbe für den »Viktor« läuft oder nicht.
Unter diesem Aspekt darf man sich beispielsweise auf das Programm dieses Neuzugangs unter den Spielstätten freuen: Erstmalig ist im Georg-Knorr-Saal des Lenbachhauses das DOK.fest zu Gast mit dem ambitionierten Reihentitel »Geopolitik und Körper: drei Filme«. Wie das Verhalten eines Staates funktioniert, der durch räumliche Veränderung seine eigene Macht zu sichern beabsichtigt, lässt sich durch unterschiedlichste Darstellung individueller Körperlichkeit ablesen – einmal in Moderation von Anja Krischner (Mi, 11.05. 19 Uhr, in Anwesenheit der Regisseurin; Do, 12.05. bis So 15.05. jeweils 15.15 Uhr), einem experimentellen Grenzgänger zwischen Fiktion und Wirklichkeit, der eine Regisseurin und ihre Drehbuchautorin beim Entstehen ihres Horrorfilms beobachtet, im Dokumentarfilm Our Body is a Weapon von Clarisse Hahn (Do, 12.05. bis So, 15.05. jeweils 14 Uhr) über Frauen an drei internationalen Schauplätzen, die mit physischer Präsenz demonstrativ und vehement für ihre Interessen einstehen und mit der Studie The Great White Way, 22 Miles, 9 Years, 1 Street von William Pope L. (Do, 12.05. bis So, 15.05.jeweils 14 Uhr), der sich in unserer Welt des aufrechten Gangs mit seiner Performance in der Horizontalen fortbewegt und damit ein prägnantes klassenbewusstes Statement abgibt.
Im Tanz wird der Körper gleichzeitig Medium und Generator von Ideen, die er in Kooperation mit dem Geist hervorbringt – zu dieser Einsicht gelangt, wer dem israelischen Choreographen Ohad Naharin bei der Arbeit mit seiner Company zusieht. Seinem Freund Tomer Heymann gewährte er über sieben Jahre Zugang in sein Studio – Daraus wurden über 650 Stunden Material, die Heymann in ein Elixier von 100 Minuten und zum eindrucksvollen Künstlerporträt des Mr. Gaga (Fr, 06.05. 19.30 Uhr ARRI Kino / So, 08.05. 18 Uhr Rio 1 / Mi, 11.05. 21.30 Uhr ARRI Kino / Fr, 13.05. 14.30 Uhr HFF – Audimax) umwandelte.
Der Körperkünstler Naharin befindet sich wohl an einem Ort, den man gemeinhin als Zenit des Schaffens kennt. Das diesjährige Dokumentarfilmfest lenkt die Aufmerksamkeit aber auch auf Menschen, deren Körper sie am Ausüben ihrer Kunst behindert. Zumindest glaubt man das zunächst. Und wird unerwartet eines viel Besseren belehrt: Denn sieht man in Man Falling (So 08.05., 14.30 Uhr ARRI Kino / Di 10.05., 17 Uhr Rio 2) von Anne Regitze Wivel dem international renommierten Maler Per Kirkeby zu, wie er, mit schwersten Hirnverletzungen nach einem Treppensturz trotz gravierender Ausfälle sein künstlerisches Lebenswerk fortsetzt oder dem jungen, spastisch gelähmten Komiker Jakob in Christian Sønderby Jepsens Natural Disorder (So, 08.05. 17 Uhr ARRI Kino / Di, 10.05. 19 Uhr Atelier 1 / Do, 12.05. 17 Uhr City 3 / Sa, 14.05. 17.30 Uhr ARRI Kino), der beharrlich und ironisch an einem Theaterstück über das eigene Außenseitertum schreibt, wird klar: Ideen, Impulse und Motivation können die unvorstellbarsten Kräfte in uns freisetzen.
»Czech Republic«, »Czechia« oder doch lieber »Czechlands«? Die Diskussion über eine international gültige Eigenbezeichnung Tschechiens sorgte bei uns jüngst für Schlagzeilen. Ach ja, und dann kennt man das Land und seinen Nachbarn Slowakei noch von der vehementen Abschottung vor Flüchtlingen auf der Balkanroute. Doch was sehen die filmischen Selbstbeobachter in ihrer jeweiligen Heimat? DOK.guest präsentiert insgesamt sechs tschechische und slowakische Werke über
extreme Persönlichkeiten, die aus verschiedenen Gründen am Rande ihrer Gesellschaften zu finden sind, unter anderem Mallory (So, 08.05. 19.30 Uhr ARRI Kino / Di, 10.05. 19.30 Uhr Rio 2 / Do, 12.05. 14 Uhr Atelier 1 / Fr, 13.05. 19 Uhr Vortragssaal der Bibliothek, Gasteig). 13 Jahre war Filmemacherin Helena Treštíková an der Seite der ehemals
drogensüchtigen Frau, die es durch dickichtbewachsene Lebenstäler immer wieder auf Hügel zum kleinen Lichtblick schafft.
Mallory läuft auch im Hauptwettbewerb DOK.international – dort, auf der »Reise um die Welt in 14 Filmen« trifft man unter anderem auch auf Produktionen aus respektive über den Iran. Gleichwohl sich in jüngster Vergangenheit politische
Entspannung und ein mitunter liberalerer Umgang mit Kulturschaffenden bemerkbar machen: Der Weg zu einer Meinungs- und Kunstfreiheit ist hart und weit, vor allem für die junge Generation, die sich von westlichen künstlerischen Darstellungsformen inspirieren lässt. In Raving
Iran (Fr, 06.05. 22 Uhr ARRI Kino / So, 08.05. 19 Uhr City 3 / Fr, 13.05. 19 Uhr ARRI Kino / Sa, 14.05. 18 Uhr HFF – Kino 2) nimmt Susanne Regina Meures den Zuschauer mit auf die atemlose Achterbahnfahrt zweier Techno-DJs, die sich für ihre Profession über sämtliche Verbote hinwegsetzen. Der Film gewährt erstaunliche Einblicke in die blühende, illegale Partyszene Teherans und offenbart im Verlauf dramatische Fragen. Vergleichsweise noch verzwickter ist Situation der
18-jährigen Afghanin Sonita (Sa, 07.05. 21 Uhr ARRI Kino / So, 08.05. 18 Uhr City 2 »14jugendfrei« / Mi, 11.05. 20 Uhr Rio 1 »14jugendfrei« / Do, 12.05. 17 Uhr ARRI Kino »14jugendfrei«). Sie lebt ohne Papiere in Teheran, macht dennoch mit leidenschaftlichem Sprechgesang gegen
soziale Missstände aufmerksam. Ihre Familie indes will sie in der Heimat verheiraten, um die Hochzeit des Bruders finanzieren zu können. Regisseurin Rokhsareh Ghaem Maghami sieht nicht nur ihre Protagonistin, sondern auch sich selbst mit essentiellen Konflikten konfrontiert, die sich unweigerlich auf das Filmprojekt auswirken.
Sonitas Geschichte ist nur eine von unzähligen Menschen auf der Suche nach neuen Heimaten.
Flucht, Ursachen und Folgen: Richtungsweisend trägt das DOK.fest diesen Themenkomplexen in der überwiegenden Mehrheit seiner Bereiche und Sonderveranstaltungen Rechnung: So findet im Rahmen von DOK.network Africa ein »Africa Day« im Kino 1 der HFF am Freitag, 13. Mai von 14 bis 22.30 Uhr statt, mit vier Filmen und der Diskussion »Young African Realities: Should I stay or should I go?«.
Das Museum Fünf Kontinente ist am Samstag, 14. Mai Schauplatz des »Festival in Exile: Syria« und Forum für syrische Filmemacherinnen und -macher, die nach Europa fliehen mussten und ihre Eindrücke in bewegten Bildern festhalten konnten: Regisseurin Liwaa Yazji geht in Haunted (20 Uhr) der Frage nach den psychischen Folgen auf den Grund, die überstürzte Aufbrüche mit sich bringen. In Houses Without Doors (17.30 Uhr) spiegeln die Beobachtungen Avo Kaprealians drei Jahre Leben im zunehmend vernichteten Aleppo wider, die er mit surrealen Ausschnitten aus den Werken Alejandro Jodorowskys untermauert. Ziad Kalthoum erzählt in The Immortal Sergant (15.30 Uhr) von der schizophren anmutenden Doppelexistenz während seiner Zeit als Unteroffizier, in der er seinem Freund, dem berühmten syrischen Regisseur Mohammed Malas, bei der Arbeit assistierte.
Präsentiert werden die drei Werke unter der Ägide eines mehrfach ausgezeichneten Filmautoren und Festivalmachers aus Damaskus, der aus Sicherheitsgründen anonym bleiben will.
Der Festivalbereich DOK.transit richtet den Fokus auf menschliche Katastrophen, die Abschottung und Abschiebung, auch in sogenannte »sichere Herkunftsländer« zeitigen, wagt aber auch einen vorsichtig-optimistischen Blick in die Zukunft, zum Beispiel mit Matthias Koßmehls Café Waldluft (Sa, 07.05. 16 Uhr Rio 2 / Mo, 09.05. 9.30 Uhr City 3 / Di, 10.05. 16 Uhr HFF – Audimax), einem anschaulichen Beispiel für gelungene, wenn auch nicht reibungsfreie Teilhabe und Einbeziehung neuer Bürger oder mit Dügün – Hochzeit auf Türkisch von Marcel Kolvenbach und Ayse
Kalmaz (Fr, 06.05. 18 Uhr City 2 / Mo, 09.05. 17 Uhr ARRI Kino / Mi, 11.05. 21 Uhr Vortragssaal der Bibliothek, Gasteig), die die Verwandlung des einst strammen Stahlindustrie-Standorts Duisburg-Marxloh in das glamouröse deutsch-türkische Paradies heiratswütiger Mitbürger nachzeichnen – integrative Charmeoffensive mit Augenzwinkern.
31. DOK.fest München, 05.-15. Mai 2016, diverse Spielstätten, Karten zwischen 6,50 und 8,50 Euro, außerdem Festivalpass und 5er-Karten.