05.05.2016

In unserer Welt des aufrechten Gangs

…bringen die Verhältnisse einen bisweilen auch mal zum Erliegen. Gut, wenn es so chillig sein darf wie in Raving Iran

Das 31. DOK.fest nimmt sich unter anderem Zeit für lebendige Körperwelten, starke Frauen sowie beherzte Krisenbeobachter und -bewältiger

Von Natascha Gerold

Jeder will der Erste sein, auch das DOK.fest München. Über die Hälfte der beim dies­jäh­rigen 31. Doku­men­tar­film­fes­tival gezeigten Filme sind nationale und inter­na­tio­nale Premieren. Das bedeutet nicht nur, einen Film »entdeckt« zu haben, gilt doch vor allem im doku­men­ta­ri­schen Bereich: Wer einen Film präsen­tiert, setzt sich auch einem Span­nungs­feld aus. Ist das Gezeigte »lediglich« Teil einer Debatte, und ist die Präsen­ta­tion schon ein Statement innerhalb der Debatte? Ange­sichts der weltweit wach­senden Anzahl immer ehrgei­zi­gerer Film­pro­jekte kommen auch neue Aufgaben auf die zu, die sie zeigen, wie Melena Ryzik kürzlich in der New York Times darlegte. Diese kann man viel­leicht mit jenen des Gate­kee­pers im Jour­na­lismus verglei­chen – des Schleu­sen­wär­ters, der das Neue nicht nur einordnet, nach gesell­schaft­li­cher Relevanz und, in diesem Fall, nach ästhe­ti­schem Anspruch, sondern auch auf Veri­fi­zier­bar­keit seiner Aussage überprüft, soweit dies möglich ist.

Wandelndes Rollen­ver­s­tändnis hin oder her: Das DOK.fest präsen­tiert 151 Filme – das sind 151 Einla­dungen zur Ausein­an­der­set­zung mit der eigenen emotio­nalen Wahr­neh­mung – Empörung, Vers­tö­rung, Irri­ta­tion, Trauer, Unter­hal­tung, Zuneigung – unab­hängig davon, ob ein Film in einer der Wett­be­werbe für den »Viktor« läuft oder nicht.

Unter diesem Aspekt darf man sich beispiels­weise auf das Programm dieses Neuzu­gangs unter den Spiel­stätten freuen: Erstmalig ist im Georg-Knorr-Saal des Lenbach­hauses das DOK.fest zu Gast mit dem ambi­tio­nierten Reihen­titel »Geopo­litik und Körper: drei Filme«. Wie das Verhalten eines Staates funk­tio­niert, der durch räumliche Verän­de­rung seine eigene Macht zu sichern beab­sich­tigt, lässt sich durch unter­schied­lichste Darstel­lung indi­vi­du­eller Körper­lich­keit ablesen – einmal in Mode­ra­tion von Anja Krischner (Mi, 11.05. 19 Uhr, in Anwe­sen­heit der Regis­seurin; Do, 12.05. bis So 15.05. jeweils 15.15 Uhr), einem expe­ri­men­tellen Grenz­gänger zwischen Fiktion und Wirk­lich­keit, der eine Regis­seurin und ihre Dreh­buch­au­torin beim Entstehen ihres Horror­films beob­achtet, im Doku­men­tar­film Our Body is a Weapon von Clarisse Hahn (Do, 12.05. bis So, 15.05. jeweils 14 Uhr) über Frauen an drei inter­na­tio­nalen Schau­plätzen, die mit physi­scher Präsenz demons­trativ und vehement für ihre Inter­essen einstehen und mit der Studie The Great White Way, 22 Miles, 9 Years, 1 Street von William Pope L. (Do, 12.05. bis So, 15.05.jeweils 14 Uhr), der sich in unserer Welt des aufrechten Gangs mit seiner Perfor­mance in der Hori­zon­talen fort­be­wegt und damit ein prägnantes klas­sen­be­wusstes Statement abgibt.

Im Tanz wird der Körper gleich­zeitig Medium und Generator von Ideen, die er in Koope­ra­tion mit dem Geist hervor­bringt – zu dieser Einsicht gelangt, wer dem israe­li­schen Choreo­gra­phen Ohad Naharin bei der Arbeit mit seiner Company zusieht. Seinem Freund Tomer Heymann gewährte er über sieben Jahre Zugang in sein Studio – Daraus wurden über 650 Stunden Material, die Heymann in ein Elixier von 100 Minuten und zum eindrucks­vollen Künst­ler­por­trät des Mr. Gaga (Fr, 06.05. 19.30 Uhr ARRI Kino / So, 08.05. 18 Uhr Rio 1 / Mi, 11.05. 21.30 Uhr ARRI Kino / Fr, 13.05. 14.30 Uhr HFF – Audimax) umwan­delte.

Der Körper­künstler Naharin befindet sich wohl an einem Ort, den man gemeinhin als Zenit des Schaffens kennt. Das dies­jäh­rige Doku­men­tar­film­fest lenkt die Aufmerk­sam­keit aber auch auf Menschen, deren Körper sie am Ausüben ihrer Kunst behindert. Zumindest glaubt man das zunächst. Und wird uner­wartet eines viel Besseren belehrt: Denn sieht man in Man Falling (So 08.05., 14.30 Uhr ARRI Kino / Di 10.05., 17 Uhr Rio 2) von Anne Regitze Wivel dem inter­na­tional renom­mierten Maler Per Kirkeby zu, wie er, mit schwersten Hirn­ver­let­zungen nach einem Trep­pen­sturz trotz gravie­render Ausfälle sein künst­le­ri­sches Lebens­werk fortsetzt oder dem jungen, spastisch gelähmten Komiker Jakob in Christian Sønderby Jepsens Natural Disorder (So, 08.05. 17 Uhr ARRI Kino / Di, 10.05. 19 Uhr Atelier 1 / Do, 12.05. 17 Uhr City 3 / Sa, 14.05. 17.30 Uhr ARRI Kino), der beharr­lich und ironisch an einem Thea­ter­stück über das eigene Außen­sei­tertum schreibt, wird klar: Ideen, Impulse und Moti­va­tion können die unvor­stell­barsten Kräfte in uns frei­setzen.

»Czech Republic«, »Czechia« oder doch lieber »Czech­lands«? Die Diskus­sion über eine inter­na­tional gültige Eigen­be­zeich­nung Tsche­chiens sorgte bei uns jüngst für Schlag­zeilen. Ach ja, und dann kennt man das Land und seinen Nachbarn Slowakei noch von der vehe­menten Abschot­tung vor Flücht­lingen auf der Balkan­route. Doch was sehen die filmi­schen Selbst­be­ob­achter in ihrer jewei­ligen Heimat? DOK.guest präsen­tiert insgesamt sechs tsche­chi­sche und slowa­ki­sche Werke über extreme Persön­lich­keiten, die aus verschie­denen Gründen am Rande ihrer Gesell­schaften zu finden sind, unter anderem Mallory (So, 08.05. 19.30 Uhr ARRI Kino / Di, 10.05. 19.30 Uhr Rio 2 / Do, 12.05. 14 Uhr Atelier 1 / Fr, 13.05. 19 Uhr Vortrags­saal der Biblio­thek, Gasteig). 13 Jahre war Filme­ma­cherin Helena Treští­ková an der Seite der ehemals drogen­süch­tigen Frau, die es durch dickicht­be­wach­sene Leben­s­täler immer wieder auf Hügel zum kleinen Licht­blick schafft.
Mallory läuft auch im Haupt­wett­be­werb DOK.inter­na­tional – dort, auf der »Reise um die Welt in 14 Filmen« trifft man unter anderem auch auf Produk­tionen aus respek­tive über den Iran. Gleich­wohl sich in jüngster Vergan­gen­heit poli­ti­sche Entspan­nung und ein mitunter libe­ra­lerer Umgang mit Kultur­schaf­fenden bemerkbar machen: Der Weg zu einer Meinungs- und Kunst­frei­heit ist hart und weit, vor allem für die junge Gene­ra­tion, die sich von west­li­chen künst­le­ri­schen Darstel­lungs­formen inspi­rieren lässt. In Raving Iran (Fr, 06.05. 22 Uhr ARRI Kino / So, 08.05. 19 Uhr City 3 / Fr, 13.05. 19 Uhr ARRI Kino / Sa, 14.05. 18 Uhr HFF – Kino 2) nimmt Susanne Regina Meures den Zuschauer mit auf die atemlose Achter­bahn­fahrt zweier Techno-DJs, die sich für ihre Profes­sion über sämtliche Verbote hinweg­setzen. Der Film gewährt erstaun­liche Einblicke in die blühende, illegale Party­szene Teherans und offenbart im Verlauf drama­ti­sche Fragen. Vergleichs­weise noch verzwickter ist Situation der 18-jährigen Afghanin Sonita (Sa, 07.05. 21 Uhr ARRI Kino / So, 08.05. 18 Uhr City 2 »14jugendfrei« / Mi, 11.05. 20 Uhr Rio 1 »14jugendfrei« / Do, 12.05. 17 Uhr ARRI Kino »14jugendfrei«). Sie lebt ohne Papiere in Teheran, macht dennoch mit leiden­schaft­li­chem Sprech­ge­sang gegen soziale Miss­stände aufmerksam. Ihre Familie indes will sie in der Heimat verhei­raten, um die Hochzeit des Bruders finan­zieren zu können. Regis­seurin Rokhsareh Ghaem Maghami sieht nicht nur ihre Prot­ago­nistin, sondern auch sich selbst mit essen­ti­ellen Konflikten konfron­tiert, die sich unwei­ger­lich auf das Film­pro­jekt auswirken.
Sonitas Geschichte ist nur eine von unzäh­ligen Menschen auf der Suche nach neuen Heimaten.

Flucht, Ursachen und Folgen: Rich­tungs­wei­send trägt das DOK.fest diesen Themen­kom­plexen in der über­wie­genden Mehrheit seiner Bereiche und Sonder­ver­an­stal­tungen Rechnung: So findet im Rahmen von DOK.network Africa ein »Africa Day« im Kino 1 der HFF am Freitag, 13. Mai von 14 bis 22.30 Uhr statt, mit vier Filmen und der Diskus­sion »Young African Realities: Should I stay or should I go?«.

Das Museum Fünf Konti­nente ist am Samstag, 14. Mai Schau­platz des »Festival in Exile: Syria« und Forum für syrische Filme­ma­che­rinnen und -macher, die nach Europa fliehen mussten und ihre Eindrücke in bewegten Bildern fest­halten konnten: Regis­seurin Liwaa Yazji geht in Haunted (20 Uhr) der Frage nach den psychi­schen Folgen auf den Grund, die über­s­türzte Aufbrüche mit sich bringen. In Houses Without Doors (17.30 Uhr) spiegeln die Beob­ach­tungen Avo Kaprea­lians drei Jahre Leben im zunehmend vernich­teten Aleppo wider, die er mit surrealen Ausschnitten aus den Werken Alejandro Jodo­row­skys unter­mauert. Ziad Kalthoum erzählt in The Immortal Sergant (15.30 Uhr) von der schi­zo­phren anmu­tenden Doppel­exis­tenz während seiner Zeit als Unter­of­fi­zier, in der er seinem Freund, dem berühmten syrischen Regisseur Mohammed Malas, bei der Arbeit assis­tierte.

Präsen­tiert werden die drei Werke unter der Ägide eines mehrfach ausge­zeich­neten Film­au­toren und Festi­val­ma­chers aus Damaskus, der aus Sicher­heits­gründen anonym bleiben will.
Der Festi­val­be­reich DOK.transit richtet den Fokus auf mensch­liche Kata­stro­phen, die Abschot­tung und Abschie­bung, auch in soge­nannte »sichere Herkunfts­länder« zeitigen, wagt aber auch einen vorsichtig-opti­mis­ti­schen Blick in die Zukunft, zum Beispiel mit Matthias Koßmehls Café Waldluft (Sa, 07.05. 16 Uhr Rio 2 / Mo, 09.05. 9.30 Uhr City 3 / Di, 10.05. 16 Uhr HFF – Audimax), einem anschau­li­chen Beispiel für gelungene, wenn auch nicht reibungs­freie Teilhabe und Einbe­zie­hung neuer Bürger oder mit Dügün – Hochzeit auf Türkisch von Marcel Kolven­bach und Ayse Kalmaz (Fr, 06.05. 18 Uhr City 2 / Mo, 09.05. 17 Uhr ARRI Kino / Mi, 11.05. 21 Uhr Vortrags­saal der Biblio­thek, Gasteig), die die Verwand­lung des einst strammen Stahl­in­dus­trie-Standorts Duisburg-Marxloh in das glamouröse deutsch-türkische Paradies heirats­wü­tiger Mitbürger nach­zeichnen – inte­gra­tive Charme­of­fen­sive mit Augen­zwin­kern.

31. DOK.fest München, 05.-15. Mai 2016, diverse Spiel­stättenKarten zwischen 6,50 und 8,50 Euro, außerdem Festi­val­pass und 5er-Karten.