Blick aus der Schublade |
||
Eindringlich, großartig: Sophie Fiennes Over Your Cities Grass Will Grow aus dem Programm des 26. Dok.Fests München |
Von Dunja Bialas
Das mit dem kritischen Journalismus ist so eine Sache. Meist ist es so, dass der, der den wirklichen Einblick hat, und genau die wunden Punkte benennen könnte, um die es gehen müsste, es nicht kann. Weil er verwoben ist mit den Verhältnissen, zu Loyalität verpflichtet, seinen Brötchengeber nicht vergrätzen möchte. Und dabei könnte er es doch am besten: kritisieren. Wo er doch schon den Einblick hat.
Bei Filmjournalisten ist dies eine regelrechte Berufsbedrohung. Viele der Filmkritiker schreiben Pressehefte zu Filmen oder übersetzen Texte für Verleihfirmen und verdienen damit einen schönen Batzen Geld, was sich angesichts des sonst so mühsam zusammengeschriebenen Zeilengelds hin und wieder mal ganz gut anfühlt. Kritisieren aber geht dann nicht mehr. Denn wie, bitte schön, kann man zwar einen Film kritisieren, der einem nicht gefällt, dessen geldiges Umfeld einem aber für einen Monat ein entspanntes Dasein ermöglichte? Das sollte man dann bitte auch »abhängiges Beschäftigungsverhältnis« nennen, auch wenn man als sogenannter »Freier« durch die Berufswelt tingelt.
Was auch gar nicht geht: Zuerst mit jemandem ein Interview führen. Und dann seinen Film verreißen. Wenn die Kritik auf »schlecht« lauten soll, dann wird hier im Normalfall jemand anderes eingesetzt, um den Verriss zu schreiben. Wenn es um eine Jubelperser-Kritik geht, stellt sich das Problem genauso. Denn da kommt sofort der Befangenheitsverdacht auf, und man denkt intuitiv an Geld, Bestechung, versprochene Reisen zum Set beim nächsten Film, der zufällig auf den Malediven spielt. Und der Ruf als ernstzunehmender Kritiker ist dahin. Deshalb gibt es die Regel: Der, der interviewt, kritisiert nicht, der, der kritisiert, führt kein Interview. Denn sonst wäre die Vertrauensbasis für die Begegnung erschüttert.
Interessant ist auch folgender Fall: Ein Journalist trifft sich mit einem Interviewpartner zu einem ausführlichen zwei-Stunden-Gespräch, lässt sich die Entstehungsgeschichte eines Films erklären, oder allgemeiner, die Hintergrundsgeschichte zu einem X-beliebigen Projekt. Zum Beispiel zu einem Festival, weshalb welche Reihen, was neu ist etc. Und der Interviewte liest am nächsten Tag in der Zeitung einen Verriss, eine Vernichtung des Projekts und seiner Person, ganz so, als hätte es nie ein Gespräch gegeben. Ohne Zitate, ohne nur einen Gedanken im Artikel wiederzufinden, den er selbst geäußert hat.
+ + +
Gut, Katze aus dem Sack. Natürlich ziele ich hier auf den Artikel von Rainer Gansera ab, den er am 4. Mai im Münchner Kulturteil der SZ veröffentlicht hat und in dem er das noch nicht gestartete Dok.Fest respektive dessen Leiter Daniel Sponsel regelrecht abgewatscht hat. Und natürlich ist meine eigene Position eine ganz heikle: Ich bin Kuratorin des internationalen Wettbewerbs, langjährige Mitarbeiterin des Dok.Fest, gleichzeitig filmjournalistisch bei artechock tätig und mit dem Autor des Artikels bekannt. Und, last but not least, Leiterin eines eigenen Festivals, UNDERDOX. Und damit auch wieder potentielle Zielscheibe von Kritik, auch wenn UNDERDOX natürlich nur zu bewundern ist, und es das beste Festival der Welt ist, oder zumindest »Münchens mutigstes Festival« (Thomas Willmann in der tz, gleichzeitig artechock-Kollege, ähem!). Multiple Komplikationen, Verwebungen, Abhängigkeiten, Loyalitäten also, um die es geht. Oder einfach nur typisch München, wo jeder mit jedem. Und so.
Und da nun schon auch meine eigenen multiplen Verwebungen und Abhängigkeiten zur Sprache gekommen sind: Weshalb ich über den Artikel von Rainer Gansera überhaupt schreibe, ist nicht, weil ich denke, ich müsste jetzt Festivalleiter Daniel Sponsel, also meinem Chef, in irgendeiner Form zur Seite springen. Ich selbst kann gar nichts mehr übers Dok.Fest schreiben, weil ich zu sehr involviert bin, und mir der nötige Abstand fehlt. Aber ich wüsste zu gerne, was von außen betrachtet gut war, was schlecht. Wie z.B. wurde der Wettbewerb wahrgenommen, den ich kuratiert habe, wie sind die Filme angekommen, die ich programmiert habe? – Vielleicht war es zum Beispiel nicht gut, Khodorkovsky als einzige investigative Dokumentation ins Rennen um den 10.000-Euro-Telepool-Preis zu schicken, da er, angesichts der Jurybesetzung, genau der Filmerwartung entsprochen hat, die ich bei den Juroren vermute. Auch dass mit ihm wieder eine BR-Produktion gewonnen hat, wurmt mich ein wenig. Aber gut, so bleibt das Geld wenigstens im Haus. Und es war natürlich auch klar ein Programmpolitikum, zwei BR-Produktionen ins Rennen zu schicken (mit El Bulli, der den FFF-Preis gewann). Bitte mich nicht falsch verstehen: Ich finde Khodorkovsky einen ganz großartigen Film! Puh!
Wegen puh! und allerlei Gefahren, die lauern, wenn die Macher laut zu denken beginnen, gibt es eben die Kritiker. Die dürfen dann an Stelle von einem selbst denken, können öffentlich abwägen, Bilanz ziehen, andere Wege andenken. Deshalb ist das ja so toll, Kritiker zu sein. Und am schlimmsten sind die Filmemacher, die bei jedem Verriss laut rufen: »Selber besser machen! Verkappter Filmregisseur, gescheiterter HFF-Bewerber!« Also, ein Kritiker darf sagen, was er denkt, dazu ist er da. Dazu gibt es das Recht auf freie Äußerung. Und den unabhängigen Journalismus.
Im Fall des erwähnten Artikels, überschrieben mit »Aus jeder Schublade etwas«, dachte ich unwillkürlich: Rainer Gansera hat schlechte Laune bekommen, als er das »Begleitheft« durchblätterte und sich nicht auskannte. Hat in mieser Stimmung in seine Tasten gehauen. Konnte weder Konzept noch Kohärenz im Programm finden und stellte durch die neue Programmsektion »Forum« eine »schulische Selbstbezogenheit« fest, die im nächsten Jahr durch den Umzug in das HFF-Gebäude jedermann direkt vor Augen geführt werde. In seinem mit einem großen Foto geschmückten Vierspalter erwähnte Gansera gerade mal vier Filme, die bis auf eine Ausnahme (der »eindringliche« Over Your Cities Grass Will Grow von Sophie Fiennes, ein grandioser Film aus dem – Achtung, jetzt kommt’s – internationalen Wettbewerb) nicht unbedingt für den dokumentarischen Höhenflug stehen, eher für dokumentarische Anordnungen, um etwas zu zeigen, sichtbar zu machen.
Ein Festivalverriss also noch bevor das Dok.Fest begonnen hatte, der das seltsame Gefühl hinterließ, dass da jemand abrechnet, vielleicht gar nicht mit dem, um den es vordergründig geht, sondern einfach nur insgesamt und überhaupt, so wenig Einlassungsbereitschaft und Reflexion konnte man da ausmachen. Leider, was durch diese Verbalwatsch'n ausblieb, war echte Kritik. Echte Kritik, eine, die Denkanstöße gibt, eine, die so vorgebracht wird, dass man sie annehmen kann. Die den Kritisierten auf andere, vielleicht bessere Ideen bringt. Inhaltlich kann ich nur sagen: Es wundert mich, dass Gansera Sponsel ein wahlloses Hineingreifen in Schubladen und Konzeptlosigkeit vorwirft, und gleichzeitig das »Best of«-Prinzip, vor allem seiner Vorgänger, hochhält, das ja per se eben auch noch lange kein Konzept ist. Und ja, richtig: Wie schade, dass auf dem Dok.Fest nur vier Filme von Klaus Wildenhahn zu sehen waren und nicht mehr. Aber »schwacher Abklatsch« des Leipziger Dokumentarfilmfestivals, das Wildenhahn auch nur eine Hommage mit einigen wenigen Filmen widmete? Vielleicht hätte an dieser Stelle nicht nur recherchiert werden sollen, sondern auch mal über Budgetverhältnisse nachgedacht werden müssen. »Retro« in »Dok.retro« ist übrigens mehr ein Label als die Abkürzung für »Retrospektive«, aber das nur nebenbei.
Was so verwundert an dem Ganzen, und damit komme ich zur Befangenheit des Kritikers zurück: Gansera hat ein ausführliches Gespräch mit Sponsel geführt, das eigentlich Grundlage für den Artikel hätte sein sollen. Herausgekommen ist ein Pamphlet gegen das neue Dok.fest, das nur eines bewirkte: Solidaritätsbekundungen und Schulterschlüsse mit dem Leiter. Und Fremdschämen für den Kritiker, Ratlosigkeit, Kopfschütteln.