72. Filmfestspiele Cannes 2019
Ein Gezeitenwechsel im Weltkino |
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Bong Joon-hos Parasite | ||
(Foto: Koch Films) |
»Le Cinéma, c'est pas montrer simplement. C'est donner envie de voir.«
Agnès Varda
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Es war der rauschende Abschluss eines hervorragenden und bis zum Schluss spannenden Festivaljahrgangs: Einige der größten Stars der Kinogeschichte, Catherine Deneuve und Sylvester Stallone, aber auch Stars mittleren Alters wie Zhang Ziyi und Viggo Mortensen, dazu Regisseure wie Claire Denis und Michael Moore standen auf der Bühne im »Grand Théâtre Lumière«, und waren doch kaum mehr als gehobene Dekoration, als einfach »Paten« der jeweiligen Preise. Diese wurden von der Jury um den Mexikaner Alejandro González Iñárritu vergeben: Die Goldene Palme gewann der Koreaner Bong Joon-ho für seinen Film Parasite. Die zweitwichtigste Auszeichnung, der »Grand Prix« ging an Mati Diop, Französin mit senegalesischer Mutter, für ihr in deren Heimat angesiedeltes Regiedebüt Atlantique.
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Es war einer der seltenen Glücksfälle, wie sie sich nur alle paar Jahre in einem Festival ereignen, in Cannes allerdings immerhin etwas öfters als in Venedig oder Berlin: Dass eine Jury die bekannten Namen und »üblichen Verdächtigen«, den inneren Kreis des Weltkinos weitgehend unberücksichtigt lässt, und stattdessen versucht, die Zukunft des Kinos zu kartographieren und Filmemacher auszuzeichnen, die diese populärste von allen Künsten auch in den nächsten Jahrzehnten mitprägen
dürften.
Zudem – und auch das ist ein Glücksfall – kann man feststellen, dass diese Preisvergabe lange nachwirken wird, und nichts weniger einleiten dürfte, als einen grundsätzlichen Gezeitenwechsel im Weltkino. Denn auch die weiteren wichtigsten Preise gingen mit einer einzigen Ausnahme an Filmemacher, die allesamt eher jünger sind, in zwei Fällen Frauen, und die meist nicht aus Europa stammen, oder zumindest einen gemischten kulturellen Hintergrund haben.
Diversität at its best: Unaufdringlich, in der Sache gut begründbar, aber unübersehbar.
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Die Ausnahme bilden die Brüder Dardennes, deren Gewinn des Regiepreises für viele rätselhaft blieb, nicht wenige gar empörte und der im Kinosaal mit unüberhörbaren Buhrufen bedacht wurde.
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Ansonsten aber gewann mit Parasite zum zweiten Mal hintereinander ein asiatischer Film die Goldene Palme. Die hochamüsante absurde Gesellschaftssatire aus Korea ist nicht nur eine der wenigen Komödien im Wettbewerb, sie hat auch tiefere Bedeutung: Denn es geht um Kritik an den Folgen eines wild gewordenen ungezügelten Kapitalismus, in dem die oberen 10 Prozent auf Kosten der
übrigen 90 Prozent leben. Es geht um die Amerikahörigkeit der neuen Oberschichten, deren Infantilität und Kulturlosigkeit der Film aufs Korn nimmt, ohne die Unterschichten deshalb zu idealisieren. Auch sie sind in Bong Joon-ho’s Film von Gier und verlogenen Aufstiegsversprechen infiziert. Trotzdem verfällt der Film nie ins Predigen oder Moralisieren – er ironisiert alle Komfortzonen, nicht zuletzt auch die des guten Gewissens.
Mati Diops Atlantique ist ebenfalls ein Film, der von Außen auf das vermeintliche Freiheits- und Wohlstandsparadies des liberalen Westens blickt. Ungleich ernster, aber ähnlich skeptisch, und voller Poesie: Ein überaus sinnlicher Film und ein Werk der kleinen unmerklichen Impressionen und Verschiebungen, der sich selbst vertraut, und der Lust am Bild.
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Auch der Jurypreis für Bacurau weist in eine ähnliche Richtung: Der Brasilianer Kleber Mendonça hat einen wilden, ungezähmten und rauen Film gemacht, der Science-Fiction, Paranoiakino und Western zu einem Hybrid und Kommentar zur aktuellen Politik verbindet.
Klassischer, aber doch auch ein Versuch, von gewohnten Pfaden abzuweichen, und Dinge etwas anders zu
machen, oder anderes zu zeigen sind die Filme von Céline Sciamma und Ladj Ly. Beide schreiben sich in klassische Kulturtechniken und deren Traditionen ein – die Malerei, die Literatur – und definieren sie um: Ladj Ly’s Les Misérables überträgt Victor Hugos Geschichte auf die Migrations-, Kultur- und Gesellschaftsdebatten des Frankreich von heute, Sciamma dekonstruiert in Porträt einer jungen Frau in Flammen klassische Kunstdiskurse und entfaltet sie vor dem Hintergrund zeitgenössischer Debatten um Weiblichkeit und Queerness.
Diese zwei Filme bildeten Solitäre in einer Preiskonkurrenz, die sich ansonsten recht gut in »Identitäts-« und »Heterogenitäts-Filme« aufteilen ließ (Vgl. dazu Folge 10 dieser Cannes-Notizen).
Ausnahmsweise und
glücklicherweise haben Filme des zweiten Typus in diesem Jahr in Cannes triumphiert.
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»Art is the lie that enables us to tell the truth.« The awards are about art in dark times, in the times of the autocrats and the idiots. So Michael Moore on stage.
In seiner Funktion als Pate erzählte Viggo Mortensen von einem gemeinsamen Flug mit Agnès Varda. Und zitierte einen Satz aus einem Gespräch mit ihr: »Le Cinéma, c'est pas montrer simplement. C'est donner envie de voir.« Ein sehr guter Satz.
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»We were sharing our experiences each time more passionately for long hours everyday and you know what’s in credit, the selection was very very challenging ... powerful film makers and new voices from all around the world.
Personally what I found out: how almost impossible is this challenge to give so few awards to so many films that we would have loved to give much more awards. Each of them was actually incredible – but that’s the way it is.« – mit dieser
passionierten Rede leitete Iñárritu die Preisvergabe ein.
Die Jury hat meine Befürchtungen des Beginns Lügen gestraft, aber zugleich viele Überlegungen meines Vorab-Besinnungsaufsatzes bestätigt. Erstmals hat eine Jury mit lauter Regisseuren offenbar gut funktioniert, und jedenfalls ein gutes Ergebnis produziert, das weder disparat und in sich widersprüchlich ist, noch ein fauler Kompromiss. Man kann sich das schon gut vorstellen: Atlantique hat gespalten, hatte Gegner und Aficionados, Parasite war auf hohem Niveau ein Film, auf den man sich einigen konnte.
Bestätigt hat sich die vermutete (und erhoffte) Stärke der Filme von Diop und Mendonça. Bestätigt hat sich ebenso die Vermutung, dass eine Frau mit einem Debütfilm es nicht schaffen wird, eine Goldene Palme zu gewinnen, und dass in dieser Jury auch keiner daran interessiert war, den Dardennes und Loach eine dritte Goldene Palme zu geben, Kechiche oder Malick eine zweite, oder Almodóvar eine erste.
Drei der vier wichtigsten Preise gingen diesmal an Filme der ersten Tage. Der einzige Film, der bei der Preisvergabe ein bisschen übersehen wurde, war der chinesische Wettbewerbsbeitrag The Wilde Goose Lake.
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Bevor man zu sehr über die »Selection Officielle« ins Schwärmen gerät, wäre noch daran zu erinnern, dass sowohl Bong Joon-ho als auch Celine Sciamma gewissermaßen Renegaten sind. Bong Joon-ho wurde in der »Quinzaine« von Olivier Père entdeckt. Unvergessen ist das riesige Plakat für seinen Film The Host (2006), das eine ganze Häuserwand auf der Croisette bedeckte.
Céline Sciamma
begann zwar mit Water Lilies in »Un Certain Regard«. Doch ihre nächsten Filme liefen dann im Berlinale-Panorama (Tomboy) bzw. in der unabhängigen Cannes-Sektion »Quinzaine« (Bande des Filles).
Gestern wurde mir noch etwas anderes, Interessantes erzählt: Angeblich wurde
Sciammas Film erst kurz vor Toreschluss in den Wettbewerb eingeladen, nachdem er seine Premiere eigentlich in der »Quinzaine« hätte haben sollen. Stattdessen tauschte man mit dem amerikanischen Fantasythriller The Lighthouse von Robert Eggers, der sich dann zu einem Renner in der »Quinzaine« entwickelte.
Im Fall von Bong Joon-ho ist auch noch etwas anderes zu bemerken: Sein letzter
Film Okja lief 2017 gleichfalls im Cannes-Wettbewerb, war aber eine Netflix-Produktion und als solche nach dem Festival einer der konkreten Auslöser für den bis heute nachhallenden Streit zwischen Cannes und Netflix.
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Und damit kommen wir auf ein weiteres Kapitel, die neueste Attacke von Netflix. Gestern wurde nämlich bekannt, dass Netflix, das sich Cannes Teilnahmebedingungen (Auswertung im Kino) nach wie vor zu fügen weigert, auf dem Cannes-Markt offenbar groß eingekauft hat. Ausgerechnet Atlantique hat sich Netflix unter den Nagel gerissen – was mir vor allem als kühl kalkulierte öffentliche Geste erscheint. Zugleich verhindert der Ankauf, dass dieser Film in
vielen Territorien im Kino zu sehen sein wird. Die Netflix-Rechte gelten weltweit, schließen aber Frankreich ebenso aus, wie Benelux, die Schweiz, Russland und China.
Auch wenn manche amerikanische Einkäufer Cannes kleinzureden versuchen, weil Netflix nicht im Hauptprogramm vertreten ist: Der Kalte Krieg zwischen dem Kino-Mekka und dem Streaming-Giganten schadet dem Festival jedenfalls nicht, das hat das diesjährige Jahr bewiesen.
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Wir können auch anders: In den Preisen von Cannes zeigte sich auch einmal die sichere Hand der Berlin-Brandenburgischen Förderpolitik, die durchaus Filme macht, die auf internationalen Festivals reüssieren. Ausländische Filme mit ausländischen Regisseuren. Sowohl Little Joe, als auch The Invisible Life of Euridice Die Sehnsucht der Schwestern Gusmão und Liberté, die in der Reihe Un Certain Regard ausgezeichnet wurden, sind vom Medienboard gefördert.
Medienboard-Geschäftsführerin Kirsten Niehuus: »3 Auszeichnungen für 3 sehr besondere Filme in Cannes! Wir freuen uns mit den Filmemacher*innen, gratulieren den Teams und insbesondere den
Berlin-Brandenbuger Produzenten zu diesem großartigen Erfolg: Weltkino der Spitzenklasse 'Made in Berlin-Brandenburg'!«
(to be continued)