26.05.2019
72. Filmfestspiele Cannes 2019

Ein Gezei­ten­wechsel im Weltkino

Bong Joon-hos »Parasite«
Bong Joon-hos Parasite
(Foto: Koch Films)

Die Goldene Palme geht an den Koreaner Bong Joon-ho für seinen Film Parasite – zum zweiten Mal hintereinander gewinnt in Cannes ein asiatischer Film – Cannes-Notizen, 11. Folge

Von Rüdiger Suchsland

»Le Cinéma, c'est pas montrer simple­ment. C'est donner envie de voir.«
Agnès Varda

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Es war der rauschende Abschluss eines hervor­ra­genden und bis zum Schluss span­nenden Festi­val­jahr­gangs: Einige der größten Stars der Kino­ge­schichte, Catherine Deneuve und Sylvester Stallone, aber auch Stars mittleren Alters wie Zhang Ziyi und Viggo Mortensen, dazu Regis­seure wie Claire Denis und Michael Moore standen auf der Bühne im »Grand Théâtre Lumière«, und waren doch kaum mehr als gehobene Deko­ra­tion, als einfach »Paten« der jewei­ligen Preise. Diese wurden von der Jury um den Mexikaner Alejandro González Iñárritu vergeben: Die Goldene Palme gewann der Koreaner Bong Joon-ho für seinen Film Parasite. Die zweit­wich­tigste Auszeich­nung, der »Grand Prix« ging an Mati Diop, Französin mit sene­ga­le­si­scher Mutter, für ihr in deren Heimat ange­sie­deltes Regie­debüt Atlan­tique.

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Es war einer der seltenen Glücks­fälle, wie sie sich nur alle paar Jahre in einem Festival ereignen, in Cannes aller­dings immerhin etwas öfters als in Venedig oder Berlin: Dass eine Jury die bekannten Namen und »üblichen Verdäch­tigen«, den inneren Kreis des Weltkinos weit­ge­hend unberück­sich­tigt lässt, und statt­dessen versucht, die Zukunft des Kinos zu karto­gra­phieren und Filme­ma­cher auszu­zeichnen, die diese populärste von allen Künsten auch in den nächsten Jahr­zehnten mitprägen dürften.
Zudem – und auch das ist ein Glücks­fall – kann man fest­stellen, dass diese Preis­ver­gabe lange nach­wirken wird, und nichts weniger einleiten dürfte, als einen grund­sätz­li­chen Gezei­ten­wechsel im Weltkino. Denn auch die weiteren wich­tigsten Preise gingen mit einer einzigen Ausnahme an Filme­ma­cher, die allesamt eher jünger sind, in zwei Fällen Frauen, und die meist nicht aus Europa stammen, oder zumindest einen gemischten kultu­rellen Hinter­grund haben. Diver­sität at its best: Unauf­dring­lich, in der Sache gut begründbar, aber unüber­sehbar.

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Die Ausnahme bilden die Brüder Dardennes, deren Gewinn des Regie­preises für viele rätsel­haft blieb, nicht wenige gar empörte und der im Kinosaal mit unüber­hör­baren Buhrufen bedacht wurde.

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Ansonsten aber gewann mit Parasite zum zweiten Mal hinter­ein­ander ein asia­ti­scher Film die Goldene Palme. Die hoch­amü­sante absurde Gesell­schafts­sa­tire aus Korea ist nicht nur eine der wenigen Komödien im Wett­be­werb, sie hat auch tiefere Bedeutung: Denn es geht um Kritik an den Folgen eines wild gewor­denen unge­zü­gelten Kapi­ta­lismus, in dem die oberen 10 Prozent auf Kosten der übrigen 90 Prozent leben. Es geht um die Ameri­kahö­rig­keit der neuen Ober­schichten, deren Infan­ti­lität und Kultur­lo­sig­keit der Film aufs Korn nimmt, ohne die Unter­schichten deshalb zu idea­li­sieren. Auch sie sind in Bong Joon-ho’s Film von Gier und verlo­genen Aufstiegs­ver­spre­chen infiziert. Trotzdem verfällt der Film nie ins Predigen oder Mora­li­sieren – er ironi­siert alle Komfort­zonen, nicht zuletzt auch die des guten Gewissens.
Mati Diops Atlan­tique ist ebenfalls ein Film, der von Außen auf das vermeint­liche Freiheits- und Wohl­stands­pa­ra­dies des liberalen Westens blickt. Ungleich ernster, aber ähnlich skeptisch, und voller Poesie: Ein überaus sinn­li­cher Film und ein Werk der kleinen unmerk­li­chen Impres­sionen und Verschie­bungen, der sich selbst vertraut, und der Lust am Bild.

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Auch der Jurypreis für Bacurau weist in eine ähnliche Richtung: Der Brasi­lianer Kleber Mendonça hat einen wilden, unge­zähmten und rauen Film gemacht, der Science-Fiction, Para­noia­kino und Western zu einem Hybrid und Kommentar zur aktuellen Politik verbindet.
Klas­si­scher, aber doch auch ein Versuch, von gewohnten Pfaden abzu­wei­chen, und Dinge etwas anders zu machen, oder anderes zu zeigen sind die Filme von Céline Sciamma und Ladj Ly. Beide schreiben sich in klas­si­sche Kultur­tech­niken und deren Tradi­tionen ein – die Malerei, die Literatur – und defi­nieren sie um: Ladj Ly’s Les Miséra­bles überträgt Victor Hugos Geschichte auf die Migra­tions-, Kultur- und Gesell­schafts­de­batten des Frank­reich von heute, Sciamma dekon­stru­iert in Porträt einer jungen Frau in Flammen klas­si­sche Kunst­dis­kurse und entfaltet sie vor dem Hinter­grund zeit­genös­si­scher Debatten um Weib­lich­keit und Queerness.
Diese zwei Filme bildeten Solitäre in einer Preis­kon­kur­renz, die sich ansonsten recht gut in »Iden­ti­täts-« und »Hete­ro­ge­ni­täts-Filme« aufteilen ließ (Vgl. dazu Folge 10 dieser Cannes-Notizen).
Ausnahms­weise und glück­li­cher­weise haben Filme des zweiten Typus in diesem Jahr in Cannes trium­phiert.

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»Art is the lie that enables us to tell the truth.« The awards are about art in dark times, in the times of the autocrats and the idiots. So Michael Moore on stage.
In seiner Funktion als Pate erzählte Viggo Mortensen von einem gemein­samen Flug mit Agnès Varda. Und zitierte einen Satz aus einem Gespräch mit ihr: »Le Cinéma, c'est pas montrer simple­ment. C'est donner envie de voir.« Ein sehr guter Satz.

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»We were sharing our expe­ri­ences each time more passio­na­tely for long hours everyday and you know what’s in credit, the selection was very very chal­len­ging ... powerful film makers and new voices from all around the world.
Perso­nally what I found out: how almost impos­sible is this challenge to give so few awards to so many films that we would have loved to give much more awards. Each of them was actually incre­dible – but that’s the way it is.« – mit dieser passio­nierten Rede leitete Iñárritu die Preis­ver­gabe ein.

Die Jury hat meine Befürch­tungen des Beginns Lügen gestraft, aber zugleich viele Über­le­gungen meines Vorab-Besin­nungs­auf­satzes bestätigt. Erstmals hat eine Jury mit lauter Regis­seuren offenbar gut funk­tio­niert, und jeden­falls ein gutes Ergebnis produ­ziert, das weder disparat und in sich wider­sprüch­lich ist, noch ein fauler Kompro­miss. Man kann sich das schon gut vorstellen: Atlan­tique hat gespalten, hatte Gegner und Afici­o­nados, Parasite war auf hohem Niveau ein Film, auf den man sich einigen konnte.

Bestätigt hat sich die vermutete (und erhoffte) Stärke der Filme von Diop und Mendonça. Bestätigt hat sich ebenso die Vermutung, dass eine Frau mit einem Debütfilm es nicht schaffen wird, eine Goldene Palme zu gewinnen, und dass in dieser Jury auch keiner daran inter­es­siert war, den Dardennes und Loach eine dritte Goldene Palme zu geben, Kechiche oder Malick eine zweite, oder Almodóvar eine erste.

Drei der vier wich­tigsten Preise gingen diesmal an Filme der ersten Tage. Der einzige Film, der bei der Preis­ver­gabe ein bisschen übersehen wurde, war der chine­si­sche Wett­be­werbs­bei­trag The Wilde Goose Lake.

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Bevor man zu sehr über die »Selection Offi­ci­elle« ins Schwärmen gerät, wäre noch daran zu erinnern, dass sowohl Bong Joon-ho als auch Celine Sciamma gewis­ser­maßen Renegaten sind. Bong Joon-ho wurde in der »Quinzaine« von Olivier Père entdeckt. Unver­gessen ist das riesige Plakat für seinen Film The Host (2006), das eine ganze Häuser­wand auf der Croisette bedeckte.
Céline Sciamma begann zwar mit Water Lilies in »Un Certain Regard«. Doch ihre nächsten Filme liefen dann im Berlinale-Panorama (Tomboy) bzw. in der unab­hän­gigen Cannes-Sektion »Quinzaine« (Bande des Filles).
Gestern wurde mir noch etwas anderes, Inter­es­santes erzählt: Angeblich wurde Sciammas Film erst kurz vor Tore­schluss in den Wett­be­werb einge­laden, nachdem er seine Premiere eigent­lich in der »Quinzaine« hätte haben sollen. Statt­dessen tauschte man mit dem ameri­ka­ni­schen Fanta­sy­thriller The Light­house von Robert Eggers, der sich dann zu einem Renner in der »Quinzaine« entwi­ckelte.
Im Fall von Bong Joon-ho ist auch noch etwas anderes zu bemerken: Sein letzter Film Okja lief 2017 gleich­falls im Cannes-Wett­be­werb, war aber eine Netflix-Produk­tion und als solche nach dem Festival einer der konkreten Auslöser für den bis heute nach­hal­lenden Streit zwischen Cannes und Netflix.

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Und damit kommen wir auf ein weiteres Kapitel, die neueste Attacke von Netflix. Gestern wurde nämlich bekannt, dass Netflix, das sich Cannes Teil­nah­me­be­din­gungen (Auswer­tung im Kino) nach wie vor zu fügen weigert, auf dem Cannes-Markt offenbar groß einge­kauft hat. Ausge­rechnet Atlan­tique hat sich Netflix unter den Nagel gerissen – was mir vor allem als kühl kalku­lierte öffent­liche Geste erscheint. Zugleich verhin­dert der Ankauf, dass dieser Film in vielen Terri­to­rien im Kino zu sehen sein wird. Die Netflix-Rechte gelten weltweit, schließen aber Frank­reich ebenso aus, wie Benelux, die Schweiz, Russland und China.
Auch wenn manche ameri­ka­ni­sche Einkäufer Cannes klein­zu­reden versuchen, weil Netflix nicht im Haupt­pro­gramm vertreten ist: Der Kalte Krieg zwischen dem Kino-Mekka und dem Streaming-Giganten schadet dem Festival jeden­falls nicht, das hat das dies­jäh­rige Jahr bewiesen.

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Wir können auch anders: In den Preisen von Cannes zeigte sich auch einmal die sichere Hand der Berlin-Bran­den­bur­gi­schen Förder­po­litik, die durchaus Filme macht, die auf inter­na­tio­nalen Festivals reüs­sieren. Auslän­di­sche Filme mit auslän­di­schen Regis­seuren. Sowohl Little Joe, als auch The Invisible Life of Euridice Die Sehnsucht der Schwes­tern Gusmão und Liberté, die in der Reihe Un Certain Regard ausge­zeichnet wurden, sind vom Medi­en­board gefördert.
Medi­en­board-Geschäfts­füh­rerin Kirsten Niehuus: »3 Auszeich­nungen für 3 sehr besondere Filme in Cannes! Wir freuen uns mit den Filme­ma­cher*innen, gratu­lieren den Teams und insbe­son­dere den Berlin-Bran­den­buger Produ­zenten zu diesem groß­ar­tigen Erfolg: Weltkino der Spit­zen­klasse 'Made in Berlin-Bran­den­burg'!«

(to be continued)